Ausstellungsbesprechungen

Henry Moore. Epoche und Echo. Englische Bildhauerei im 20. Jahrhundert.

Die englische Kunst steht nicht allzu oft im Mittelpunkt einer Ausstellung – die Insel bleibt auch da vielleicht gern unter sich oder mit sich allein, was sich allerdings bei so bedeutenden Künstlern wie Henry Moore – um bei der Bildhauerei zu bleiben – nur schwer einhalten lässt: Wie kaum ein anderer nach ihm und allenfalls Auguste Rodin vor ihm (wenn auch gemeinsam mit Alberto Giacometti) hat Moore die Geschichte der Plastik nachhaltig beeinflusst.

Immerhin zeigten die Ausstellungen »Englische Kunst im 20. Jahrhundert – Malerei und Plastik« in London und Stuttgart (1987) sowie »Blast to Freeze – Britische Kunst im 20. Jahrhundert« in Wolfsburg (2003) einen breiten Überblick über die Kunst jenseits des europäischen Festlandes.

Die Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall präsentiert seit diesem Sommer englische Bildhauerei vom Feinsten – ein Ausschnitt ist es nur, aber der wartet mit Namen auf, die mit ihren Arbeiten ein ganzes Universum zu füllen scheinen. Wie der Ausstellungstitel schon andeutet, nimmt das Werk Henry Moores eine epochale Dimension ein mit einem weithin ausstrahlendes Echo – allein wer Anthony Caro, einst Assistent bei Moore, gleich im Anschluss nennt, dem öffnet sich eine ganz andere Welt, weniger hymnisch als episch bzw. tragisch.

Da laufen schon die anderen Künstler der Schau Gefahr, beiläufig geführt zu werden; dabei kann jeder ein faszinierendes Œuvre aufweisen, das stellenweise den Atem zu rauben imstande ist: Tony Cragg, Richard Deacon, Barry Flanagan, Antony Gormley, Barbara Hepworth, Anish Kapoor, David Nash, Eduardo Paolozzi, Tim Scott. Da es hier nicht darum geht, eine Moore-Schule oder etwas Ähnliches aufzubauen, vielmehr den vielstimmigen Chor der Ausdrucksformen mit mehr oder weniger Bezügen zum Mooreschen Werk anzustimmen, kann man freilich eine Art »Vermisstenliste« erstellen: der in New York geborene Jacob Epstein etwa, der 1907 britischer Staatsbürger wurde und bis zu seinem Tod 1959 einen expressiven Naturalismus pflegte, oder der bereits im Ersten Weltkrieg gefallene Henri Gaudier-Brzeska (der insofern zeitlich nicht mehr ganz ins Konzept passt), Reg Butler und Michael Sandle wird man fast schmerzlich vermissen; schade ist es auch, dass William Turnball, der Freund Paolozzis, Kenneth Armitage oder Ben Nicholson nicht mit von der Partie sind; Eric Gill wird man sicher verschmerzen können. Doch in ihrer subjektiven Auswahl ist die Würth-Ausstellung perfekt geworden, die den Besuch zum Event, den Gang durch das Museum zum staunenswerten Parcours werden lässt – der in die Stadt verlängert werden kann: 12 monumentale Plastiken von Henry Moore zieren das Stadtbild Schwäbisch Halls, darunter der grandiose »Bogen« (»The Arch«, 1963–69) mit einer Höhe von über sechs Metern, und darüber hinaus macht das plastische Ensemble Anthony Caros über »Das jüngste Gericht« (»The Last Judgement Sculpture«, 1999/2005) in der Johanniterhalle die die Schau zu einem unvergesslichen Erlebnis macht. Neben 62 Plastiken von Henry Moore haben die Ausstellungsmacher 50 Skulpturen und 22 Wandarbeiten der anderen Künstler versammelt.

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Henry Moore - Eine allgemeingültige Weltsprache in Stein, Bronze oder Fiberglas

Wer zunächst die Außenskulpturen von Moore wahrnimmt, ist schon überwältigt von der ästhetischen Integration des mittelalterlich anmutenden Stadtbildes, für die die Figuren ja gar nicht geschaffen wurden – ein Zeichen dennoch, wie ›kompatibel‹ sich die Kunst Henry Moores erweist: eine allgemeingültige Weltsprache in Stein, Bronze oder Fiberglas und zugleich Erfolgsrezept für den Ruf, den sein Werk bis heute zurecht genießt. Die wohltuenden Formen, die Moores Skulpturen zu überdimensionalen Handschmeichlern werden lassen, die durchaus weitgehende Stilisierung, die immer noch eine erstaunliche Akzeptanz erfahren, sowie die revolutionäre Einführung der Hohlform, einer Öffnung der Form machen Henry Moore zum führenden Bildhauer des 20. Jahrhunderts. So kann der Betrachter denn auch gut eingestimmt das Museum betreten, das ihn mit einem Querschnitt durch das Mooresche Œuvre in Empfang nimmt. Die Ausstellungsmacher waren bestrebt, alle Facetten daraus anklingen zu lassen, sowohl was die Themen und Inhalte (immer wieder bezaubernd die Mutter-Kind-Beziehung) als auch die Materialien angeht. Und nicht zuletzt war es eine hervorragende Idee, den monumentalen Arbeiten draußen und den Plastiken drinnen, die in ihrer Allansichtigkeit ihresgleichen suchen, einen nachgestellten Blick in das Atelier des Meisters gewähren: Fundstücke (Steine, Knochen, Strandgut usw.) treffen auf Entwurfsminiaturen, Modellplastiken und Zeichnungen. Allein die Fülle der Moore-Exponate macht die Haller Schau zu einer der größten Präsentationen seiner Werke in Deutschland seit Jahren.

Tanzender Stahl und minimalistische Holzplastik – Der Einfluss Moores auf die englische Bildhauerei der Gegenwart

Moore verkörperte tatsächlich eine Epoche für sich. Das Echo ließ nicht lange auf sich warten. Es mag allerdings bezeichnend für die britische Kunst sein, dass der Widerhall nur ganz selten zur Nachahmung gerät und weitgehend unabhängig bleibt. Am deutlichsten meint man eine formale Verwandtschaft bei den Arbeiten von Barbara Hepworth zu sehen; doch bei näherer Betrachtung erkennt man, dass die Schlüsselbegegnung weniger die mit Moore als die mit Naum Gabu war. Eduardo Paolozzi schloss sich bald einer »Independent Group« an, die in den 50er-Jahren in der internationalen Pop Art aufging. Die Roboterwesen der Frühzeit wich im späteren Werk einer gemäßigteren Technikbegeisterung. Der hierzulande weniger bekannte Tim Scott bringt sogar Stahl zum Tanzen, und Barry Flanagan lädt zum Schmunzeln ein mit seinen ausgeflippten Hasen, die er seit 1979 modelliert. David Nash ging mit seinen minimalistischen Holzplastiken neue Wege, indem er die geometrischen Körper mit eingetriebenen Keilen drangsaliert oder die Hölzer dem Feuer aussetzt. Tony Cragg betreibt mit seinen Plastiken die Wandlungsfähigkeit des Stoffs und der Ideen; unermüdlich erfindet Cragg seine Umgebung neu: »Das einzige ist – ich habe gemeint, dass ich unterwegs war, um etwas zu entdecken. Wir Künstler sind Entdecker, indem wir uns in das Material verlängern.«

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Zu den innovativsten Künstlern der Ausstellung gehört zweifellos Richard Deacon, der mit seinem Material spielt. Das tut auch Antony Gormley, allerdings in einer ganz anderen Art und Weise: Ob er eine 800 kg schwere Bronzefigur an die Wand stellt – in der Waagerechten über den Köpfen der Betrachter, versteht sich – oder Unmengen von Toastbrot aneinanderreiht und mit Wachs fixiert, immer liegen Ernst und Ironie, Aha-Effekt und Unbehagen nahe beisammen. »Die Kunst«, so Gormley, »ist wie ein Spiegel, doch beileibe kein Spiegel der Realität. Sie ist vielmehr wie eine Echomauer, die Lebensenergie kann man irgendwo dazwischen verspüren« - spricht’s und wendet die Erkenntnis gleich ins Ungewisse: man solle dem Künstler nicht glauben, was er sagt, sondern seine Bilder angucken. Einen Höhepunkt der Sinnestäuschung bietet Anish Kapoor, der den Betrachter mit seinen lackierten oder verspiegelten Stahlplastiken an der Nase herum führt oder im Hohlraum eines geschliffenen Kalksteins (»Geist«, 1997) das Licht dazu verführt, schier greifbare Wesen zu produzieren, nach denen man tatsächlich, aber vergeblich fassen will. Vielleicht sind Kapoors Werke mit die stärksten, die die Ausstellung zu bieten hat: Man kann sie durchaus als oberflächliche Spielerei in einem Spiegelkabinett auffassen, man kann sie aber auch mit den Chiffren der Leere und Transformation verknüpfen, die in negativem oder positivem Sinne zur Glaubensfrage werden.

Anthony Caro – Skulptur auf die Beine gestellt

Dass hinter den meisten gezeigten Arbeiten auch transzendente Aspekte hervortreten, macht besonders eindrucksvoll das Werk Anthony Caros deutlich. Reinhold Würth bekannte im Jahre 2001: »Der für mich wichtigste englische Künstler seit Henry Moore ist Sir Anthony Caro.« Zum einen ist es natürlich außerordentlich spannend zu beobachten, wie Caro die Skulpturen regelrecht auf die Beine stellte, sprich ihnen den ehrfurchtgebietenden Sockel nahm. Noch faszinierender sind jedoch die Lösungen, die er auf die Frage nach der künstlerischen Darstellung religiöser Motive im 20. und 21. Jahrhundert suchte. Caros Werke verschließen sich auf den ersten Blick dem Zugriff, lassen allenfalls eine Vieldeutigkeit ahnen, die in Verbindung mit den Titeln zu einem beredten Schweigen hinführen. Ja, die kraftvoll in Szene gesetzten Stahl-, Stein-, Messing- und/oder Holzcollagen nehmen den Betrachter gefangen und setzen ihn in einen Dialog, dessen Ausgang offen bleibt.

Einen Höhepunkt in Caros Schaffen stellt »The Last Judgement Sculpture« dar: Dieses ambitionierte Werk besteht aus 25 selbständigen Episoden, die erstmals 1999 während der Biennale in Venedig gezeigt wurde. Nachdem das Ensemble in geringfügig abgewandelter Aufstellung 2001 in Schwäbisch Hall zu sehen war, ist es nun anlässlich der Moore-Ausstellung in die dortige Johanniterhalle zurückgekehrt. Sicherlich ist dieses »Jüngste Gericht« eines der ergreifendsten Kunstwerke seit Picassos »Guernica«, und wie dessen Werk reagiert Caro hier auf die Schrecken und die Barbarei des Krieges.

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Zwar dominiert dem Titel nach der biblische Kontext, doch geht der Gehalt weit darüber hinaus. Anthony Caro hat sich von jeher religiösen Themen gewidmet, man denke etwa an die Kreuzesszene von 1989/90, die bei aller Abstraktion Rembrandts Kreuzabnahme von 1633/34 in der Münchner Alten Pinakothek zitiert, oder an die »Duccio Variations«, die ein Verkündigungsbild des italienischen Malers variieren. Im »Jüngsten Gericht« treffen biblische Themen wie die Jakobsleiter, Judas auf mythologische Motive wie Teiresias oder die Furien, die Assoziationsbreite kulminiert allerdings in Gedankenskizzen, die unmittelbar an die Grausamkeiten im menschlichen Miteinander erinnern: Fleisch, Gnadenlos, Folterkammer, Schädel, Habgier und Neid, Opfer, Gefangene, Bürgerkrieg, Der unbekannte Soldat. Anders als der sich entladende Schrei in Picassos großartigem Gemälde bleibt Caros Anklagebild stumm, trotz der emporgehobenen Posaunen der Apokalypse, trotz der geballten Faust in der »Tribunal«-Szene. Ergreifend in seiner Tragik ist der spürbare Schmerz, der sich nicht entladen kann, ist die zutiefst menschliche Tragödie, die Gräueltaten des Krieges mitansehen zu müssen, die ja nichts anderes sind als vom Menschen gewollt und gemacht. Obwohl die Installation »The Last Judgement Sculpture« streng genommen außerhalb der Ausstellung »Henry Moore – Epoche und Echo« zu sehen ist, sollte man die temporäre Präsentation unbedingt mit einbeziehen.

Leon Kossoff – Eine Entdeckung

Fast schon als Zugabe kann der Besucher im Ausstellungsraum gegenüber der Kunsthalle noch eine beeindruckende Schau mit Werken des in London lebenden Malers Leon Kossoff (geb. 1926) sehen, die sich gut in das Gesamtbild fügen. »Man kann das Werk«, so Per Kirkeby über Kossoff, »anschauen und hat keine andere Wahl, als sich hinein zu begeben«. Von den London-Bildern, Aufnahmen eines vertrauten Ortes, den Kossoff genauestens beobachtet, halten besonders die Straßen, U-Bahn-Stationen und Bahnhöfe Einzug in die Bildwelt des Künstlers. Es ist fast zu bedauern: Die Würth-Sammlung ist so prall gefüllt, dass hier in Schwäbisch Hall zum Randereignis wird, was andernorts eine beachtliche Veranstaltung wäre. Denn in Deutschland ist Leon Kossoff allemal eine Entdeckung.

 

 

Weitere Informationen

 

Öffnungszeiten
Mo–So 10–18 Uhr

Führungen
Öffentliche Führungen jeweils sonntags 11 und 14 Uhr (€ 4,-/Pers. Zzgl. Eintritt)
Führungen für Gruppen nach Vereinbarung (Tel. 07940-151813)
E-Mail: stefanie.volz@wuerth.com

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