Buchrezensionen

Heribert Illig: Meister Anton, gen. Pilgram, oder Abschied vom Manierismus. Rekonstruktion eines Werks, Kritik einer Stilperiode. Mantis Verlag 2013

Man weiß nicht viel über Anton Pilgram, einen bedeutenden Bildschnitzer und Baumeister des ausgehenden Mittelalters – weder über sein Leben noch über seinen Werkkatalog. Heribert Illig hat dem Unbekannten eine sorgfältige Studie gewidmet, die in die Diskussion des Manierismus-Begriffes mündet. Stefan Diebitz hat das Buch gelesen.

Um 1460 im österreichischen Brünn geboren, am Ende seines Lebens (wohl ab 1511) Leiter der Bauhütte von St. Stephan in Wien, gestorben 1515 ebendort – viel mehr ist nicht von den Lebensdaten eines Meisters bekannt, zu dessen Werken etliche Arbeiten zählen, die man als manieristisch bezeichnen darf. Die Bekannteste seiner ironisch-grotesken Spielereien ist wohl der »Kanzelgucker« aus dem Wiener Stephansdom, ein Selbstporträt des Meisters, so dass uns immerhin sein Gesicht bekannt ist – wichtig für eine Studie wie diejenige Heribert Illigs, die immer wieder an verschiedenen Arbeiten die Frage diskutiert, inwieweit es sich wirklich um ein Werk Anton Pilgrams handelt.

Es leuchtet ein, dass niemand, wie Illig in dem ersten Satz seiner Studie schreibt, »aus dem Stegreif« ein so bedeutendes Werk wie die Kanzel oder den Orgelfuß an einem derart prominenten Ort wie dem Stephansdom schaffen kann oder darf, und ebenso sicher ist es, dass nicht irgendwer damit beauftragt wurde, eine Kirche auch nur in der Provinz zu bauen. Es musste also (und muss hoffentlich immer noch) ein Werk geben, das diesen Arbeiten vorausging und für die Meisterschaft Antons sichtbar einstand. Für uns Heutige ist die Zahl seiner Arbeiten seit langem ein strittiger Punkt, und so liegt das Hauptaugenmerk des Buches auf dem Werkkatalog.

Mit größtmöglicher und durchaus schulmäßiger Sorgfalt untersucht der Privatgelehrte Illig sämtliche in Frage stehenden Arbeiten auf die Urheberschaft des Meisters, indem er Steinmetzzeichen vergleicht, minuziös den Stil der Figuren diskutiert (insbesondere die Fältelung am Unterarm, aber auch, mit besonders großer Sensibilität, die Gestaltung der Gesichter mit ihren typischen Falten) und natürlich die Forschungsliteratur heranzieht, deren Auflistung volle 18 Seiten einnimmt. Illig erweist sich als ein überaus scharfer Beobachter mit einem dem Thema entsprechenden Wortschatz, der diese Diskussionen mit der notwendigen Offenheit führt, also Wissenslücken, Widersprüche und Probleme jederzeit unverblümt eingesteht.

Die Diskussion der Urheberschaften ist alles andere als trivial, denn strittig war (oder ist) eine ganze Vielzahl von Anton Pilgrams Werken. »Gibt es irgendwo«, fragt der Autor, »einen Künstler, dem jedes, aber auch wirklich fast jedes Werk abgestritten worden ist? Selbst der Orgelfuß, seine am wenigsten bezweifelbare Arbeit, wurde ihm ab- und Öxl zugesprochen.« Aber auch am Ende seiner eigenen Studie »bleibt ein von vielen Fragezeichen begleitetes Werk.«

Warum kann uns das Werk eines halbvergessenen Provinzkünstlers noch heute beschäftigen? Illig rühmt Meister Antons Naturalismus wie die große handwerkliche Qualität seiner Arbeiten, aber wichtiger noch scheint seine »Hinterkünftigkeit«, wie er mit einem merkwürdigen bayrischen Ausdruck sagt. Gemeint ist damit Pilgrams Manierismus, und damit ist das zweite große Thema dieser Studie erreicht. Ist »Manierismus« ein Stil oder eine Epoche?

Es war Gustav René Hocke, der mit seinem in Rowohlts Deutscher Enzyklopädie erschienenem und deshalb wohlfeilem Buch »Die Welt als Labyrinth« Anregungen unter anderem von Ernst Robert Curtius aufgriff und den Begriff bereits 1957 popularisierte – unter anderem deshalb, weil er ihn nicht allein auf die bildende Kunst bezog, sondern auch auf die Literatur. Noch wichtiger war es vielleicht, dass er mit seinem sehr weit gespannten Begriff auch die Kunst des 20. Jahrhunderts mit erfassen konnte. Er ging so weit, dass in seiner Darstellung Manierismus fast als ein Synonym für die Moderne erscheint.

So gilt uns bis heute Salvador Dalí als ein Manierist. Ein Bild des großen Spaniers – »Das Rätsel der Begierde« aus der Münchner Pinakothek der Moderne – schmückt auch die Rückseite des hier besprochenen Buches. Noch in den siebziger und achtziger Jahren genoss Hockes Buch große Beachtung, und ich kannte Kommilitonen, für die dieses Buch geradezu eine Bibel war. Auch wenn Hocke den Manierismus-Begriff um einiges überdehnt haben mag, so gehört seinem Buch doch das Verdienst, mit einem großen Wurf auf das Virtuose, Spielerische und Antiklassische in der europäischen Kunst hingewiesen zu haben. Eben in diesen Zusammenhang des Manierismus gehört in der Darstellung Illigs auch das Werk Meister Pilgrams.

Mit derselben undogmatischen Offenheit, mit der Illig den Werkkatalog Pilgrams besichtigt, diskutiert er auch den Manierismusbegriff und lässt die Positionen Arnold Hausers, Hockes, Ernst Gombrichs und anderer Revue passieren, um sich endlich gegen eine klare Scheidung von Renaissance und Manierismus auszusprechen. Es seien zwei Stilepochen, die nebeneinander existieren, aber auch ineinander übergehen.

Die subtile Beschreibung und überraschende Auslegung der vier Kirchenväter an der Kanzel von St. Stephan ist wohl das stärkste Stück dieses Buches. »Nicht immer«, beginnt Illig seine Darstellung mit einem kräftigen Understatement, »ist bemerkt worden, dass es sich sogar um eine Person handelt . Der Künstler ist von einer Person ausgegangen, um vier Variationen über ein Thema vorzustellen.« Tatsächlich sind es Illigs Beobachtungen an den vier Kirchenvätern, die ihm helfen, eine ganze Vielzahl von Manierismen namhaft zu machen. Meister Pilgram bietet hier ein intelligentes, betont virtuoses Spiel, in dem die vier Heiligen »als Sinnbilder für die sieben Todsünden« aufgefasst werden – ein ziemlich keckes, wenn nicht gar dreistes Unterfangen, das das Werk dieses Künstlers einerseits als singulär erscheinen lässt, andererseits in einen Zusammenhang mit der Reformation stellt. Dies ist neben der hohen Qualität seiner Arbeiten ein weiterer Grund, sich mit Meister Anton zu beschäftigen. Immer wieder kann Illig zeigen, dass dieser Künstler in einer Umbruchszeit lebte und sein vielschichtiges Werk davon geprägt ist. Schon weil er eine Ausnahmeerscheinung in seiner Epoche war, ist er der Beachtung wert.

Ein schwacher Punkt des Buches ist die Qualität der durchweg schwarzweißen Abbildungen, die ausreichend ist, die Argumentation des Autors zu unterstützen, aber nicht, das Auge zu erfreuen. Auf der Habenseite ist dagegen das ausführliche Register zu nennen. Illigs Buch, in zehnjähriger Arbeit neben den täglichen Pflichten entstanden, besitzt mit seiner nie polemischen, immer akkuraten und dazu ganz eigenständigen Argumentation in allen seinen Teilen ein hohes Niveau. Die Studie dürfte zumindest für die nächste Zeit den Stand der Forschung zu einem bemerkenswerten Künstler bestimmen.

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