Buchrezensionen

Hermann Arnhold (Hrsg.): Henry Moore. Impuls für Europa, Hirmer 2016

Obwohl nicht mehr ganz druckfrisch, besticht der 2016 vom Hirmer Verlag vorgelegte Prachtband „Henry Moore. Impuls für Europa“ durch einfühlsame, erhellende Texte, umfängliches Infomaterial sowie eine Vielzahl an Abbildungen in hervorragender Druckqualität. Verena Paul hat das Buch für Sie gelesen…

Handlich ist er nicht gerade, der 260 Seiten umfassende Band über den britischen Künstler Henry Moore, der fraglos zu den bedeutendsten Bildhauern des 20. Jahrhunderts gezählt werden darf. Der Umfang hat jedoch gute Gründe. Denn der Katalog, der im Rahmen der gleichnamigen Kooperationsausstellung des Münsteraner LWL-Museums für Kunst und Kultur und der Londoner Tate entstanden ist, bietet einen umfänglichen Einblick in das Schaffen Moores, wobei ein besonderes Augenmerk auf die europäische Werkrezeption gelegt wird. Dergestalt sind nicht nur Arbeiten Henry Moores aus allen Schaffensphasen abgebildet, sondern es werden zudem Werkbeispiele von Künstlerkolleginnen und -kollegen wie Hans Arp, Theo Balden, Willi Baumeister, Joseph Beuys, Michael Croissant, Alberto Giacometti, Karl Hartung, Bernhard Heiliger, Barbara Hepworth, Norbert Kricke, Henri Laurens, Markus Lüpertz, Brigitte Meier-Denninghoff, Pablo Picasso, Toni Stadler und Hans Uhlmann präsentiert. Obgleich die Arbeiten dieser Künstlerinnen und Künstler dem kunstaffinen Leser weitgehend bekannt sein dürften, wurden – neben der umfänglicheren Vita Moores – deren Kurzviten mit prägnanten Erläuterungen zum jeweiligen Schaffen und den Bezügen zu Moore eingefügt. Eine wahre Inspirationsquelle für eine vertiefende Beschäftigung mit den Werkkorrespondenzen, zugleich aber auch Animation zum intensiveren Kennenlernen jener Künstlerpersönlichkeiten.

Doch zurück zu Henry Moore. Sein Werk, das sich in die Gruppen der „Liegenden“, der „Masken, Helme und Köpfe“, der „Figuren“, der „Abstraktionen“ sowie der „Großplastiken“ auffächern lässt, wird in der Publikation in wunderbaren Aufnahmen eingefangen und vorgestellt. Während die Abbildungen zum genussvollen Betrachten einladen und neugierig auf eine direkte Begegnung machen, ermöglichen die den Gruppen beigefügten Informationstexte ein vertiefendes Werkverstehen. Besonders lobenswert ist die Beleuchtung von vier Großplastiken in Münster, Wuppertal, Recklinghausen und Berlin. Neben der jeweiligen formalen und inhaltlichen Aussage der Plastiken wird die Geschichte ihrer Auswahl und Positionierung im Außenraum erzählt, was nicht immer – wie die Enthüllung von „Draped seated woman“ (1957/58) in Wuppertal beweist – konfliktlos ablief. Manche Bürger waren damals mit Moores Arbeit schlichtweg überfordert, was sich u. a. in einer hitzig geführten Diskussion äußerte.

Damit haben wir die Mooreschen Arbeiten schon etwas näher kennengelernt und können uns nun auf vier wissenschaftlich fundierte, leserfreundliche Aufsätze freuen, etwa von Christa Lichtenstern, einer der besten Kennerinnen des Œuvre Moores. In ihrem Beitrag rückt sie das bis dato weitgehend unerforschte Thema „Henry Moore und die Dichtung“ ins Zentrum. In klarer Struktur und mit Liebe zum Detail tastet sich die Autorin in pointierter, behutsam gewählter Sprache an die Werke Moores heran und zeigt frappante Verbindungslinien zu Texten von Autoren und Dichtern wie W. H. Auden oder T. S. Eliot auf. Markus Müller dagegen beschäftigt sich in seinem in perlender, eingehender Sprache geschriebenen Beitrag mit den Einflüssen des Surrealismus auf das Mooresche Schaffen, mit dem Resümee: Moore war „weniger am ästhetisch-ideologischen Unterbau des doktrinären Surrealismus interessiert als vielmehr an den neuen Möglichkeiten einer skulpturalen Syntax, wie er sie bei Arp, Giacometti und Picasso vorgeprägt fand.“ Dabei habe vor allem „die formgenetische Kraft des Biomorphismus […] zu einer Befreiung der künstlerischen Imagination bei Moore geführt.“ Chris Stephens wagt einen anderen Blick auf Moore: auf den modernen Bildhauer, dessen Werk – so seine These – „dunkler, kantiger und komplexer“ sei „als das des gemeinhin bekannten Künstlers“ und das „Spuren einer morbiden, sexuellen Energie“ aufweise. Erhellend für die vorgestellten Plastiken ist die Darlegung von Henry Moores Kriegserlebnissen sowie seiner politischen Überzeugungen. Und schließlich thematisiert Tanja Pirsig-Marshall in ihrem Aufsatz die Moore-Rezeption. Hierbei erläutert sie die Rolle, die der British Council für die Rezeption spielte, und legt dar, wie einflussreiche Kunstkritiker und Ausstellungskuratoren, beispielsweise Will Grohmann, Werner Hofmann, Eduard Trier oder Werner Haftmann, Moores Wirken mit Berichten und Kritiken in die Öffentlichkeit trugen. Darüber hinaus – und das bildet den Kern ihres Beitrages – spürt die Autorin dem großen Einfluss des britischen Künstlers auf die jüngere Bildhauergeneration nach, mit dem Fazit: „Sein Werk inspirierte und polarisierte zugleich.“

Mit „Henry Moore. Impuls für Europa“ legt der Hirmer Verlag eine rundum gelungene Publikation vor, die ich uneingeschränkt empfehlen möchte – und zwar nicht nur Moore-Liebhabern, Wissenschaftlern und Studenten, sondern einem kunstinteressierten Leserkreis, der Freude an gut gemachten Büchern mit Erkenntnisgewinn hat!

Titelangaben:

Hermann Arnhold (Hrsg.)
Henry Moore. Impuls für Europa
Hirmer, ISBN 978-3-7774-2679-2, Ladenpreis 39,90 €

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