Buchrezensionen

Hildegard Kretschmer: Die Architektur der Moderne. Eine Einführung, Reclam 2013

Die handliche Publikation aus dem Hause Reclam erzählt die Geschichte der modernen Architektur. Sie beginnt mit den berühmten Kristallpalästen Londons, errichtet 1851, und führt bis zur Gegenwart, obwohl sich die Autorin nicht ganz sicher ist, ob wir selbst auch noch zur Moderne zählen. Stefan Diebitz hat das empfehlenswerte Buch gelesen.

Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte eine Anzahl von Erfindungen das Bauen von Grund auf. Neue Materialien zusammen mit der industriellen Produktion und ganz neuartigen Aufgabenstellungen wie etwa dem Kaufhaus führten zu einer Revolutionierung der Bautechnik und der Arbeit des Architekten. Gleichzeitig setzte als Gegenbewegung ein stark historisierender Stil beim Privathaus wie bei öffentlichen Gebäuden ein, der in diesem Buch ebenso nur am Rand dargestellt wird wie Jugendstil, Art Deco, Estilo modernismo und andere Richtungen, denen das Dekor noch etwas galt. »Modern« ist in diesem Buch also weniger eine Epochenbezeichnung als vielmehr ein Stilbegriff.

Erzählt wird die Geschichte der modernen Architektur als die Geschichte ihrer Architekten, und von den wirklich wichtigen fehlt nicht ein einziger. Kretschmer schildert ihre Herkunft, ihre Ausbildung und ihre wichtigsten Arbeiten knapp und sachlich – fast im Stil eines Nachschlagewerkes, als das man ihr Buch sicherlich auch benutzen kann. Anders als in einem Nachschlagewerk hält sie sich mit Wertungen nicht zurück, die aber nie einseitig und im übrigen auch immer nachvollziehbar sind.

Beispielhaft ist in ungefähr der Mitte des Buches das Kapitel über Le Corbusier, dessen seltene Begabung geschildert, dessen schönste Arbeiten gewürdigt, dessen Anmaßung aber auch nicht verschwiegen wird. Le Corbusier und andere »sahen sich als Retter der Menschheit«. Sie brachen fast komplett mit der Tradition und waren bereit, ganze historische Städte ihren Ideen zu opfern. Geschichtsfeindlichkeit war ja ohnehin eine Parole der Moderne, die am liebsten am Punkt Null begonnen hätte, aber der Architekt Le Corbusier trieb es auf die Spitze.

Das »städtezerstörerische Konzept« Le Corbusiers, das auf »eine radikale Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit« zielte, diente, so Kretschmer, »vor allem der Profitgier der Wirtschaft, denn teure Innenstadtgrundstücke wurden frei, und lange Wege zur Arbeit förderten die private Motorisierung. […] Le Corbusier wurde für seine Ideen aber von einem großen Autoindustriellen unterstützt.« Tatsächlich findet man alles das, was an unseren Städten schlecht ist, in den Konzepten des großen französischen Architekten, der sich selbst als »pseudoreligiöser Erlöser-Architekt und Entwerfer, ja Schöpfer einer neuen Welt« inszenierte.

Es ist ein Vorzug dieses Buches, dass die Autorin sich nicht mit der Schilderung der Architektur begnügt, sondern immer auch soziale, kulturelle, ökonomische und politische Zusammenhänge im Auge behält. Ohnehin können die formalen Aspekte gar nicht für sich betrachtet werden. Das gilt vor allem für solche auch symbolisch bedeutsamen wie das Flachdach, ohne das die Moderne überhaupt nicht denkbar ist, und das Fensterband, das in ähnlicher Weise die Horizontale betont. Vielleicht trennen diese beiden Elemente die Bauwerke der Moderne mehr von der Tradition als ihre bevorzugten Materialien – Stahl oder Eisen, natürlich Beton, endlich Glas. Ziemlich am Ende des Buches verdichtet Kretschmer ihre Darstellung maximal, wenn sie schreibt, in der modernen Architektur werde diese verstanden als »Gestaltung von Volumen, nicht mehr als Formgebung von Masse«. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass die Moderne ihre Häuser von innen nach außen, nicht etwa von außen nach innen plant.

Kretschmer kritisiert einzelne Architekten und ihre Projekte, aber an keiner Stelle die ganze Richtung der Moderne, wie es etwa der Philosoph Hans-Dieter Mutschler tut, der in seinem Buch »Von der Form zur Formel« insbesondere die Betonung der Horizontalen scharf kritisiert und nicht von der Moderne spricht, sondern von der »Klötzchenarchitektur«. Er geht so weit, von »völlig phantasielosen Kisten oder Kästen« zu sprechen, »die eher einem Container als einem Wohn- oder Bürogebäude gleichen«. Mit dieser Schärfe greift Kretschmer die moderne Architektur selbstverständlich nicht an, sondern ihr Buch weiß sehr differenziert zu urteilen und auch das Schöne an der Moderne zu würdigen. Aber bleibt es nicht ein merkwürdiges Faktum, dass in keiner Epoche zuvor Häuser sich nicht nach oben verjüngten? Flachdächer sind doch allein in sehr heißen Gegenden praktisch, wo man die Nacht auf ihnen verbringen kann.

Noch etwas darf der Architekt nicht in den Mittelpunkt stellen, wenn er die Vertikale betonen will. So fehlt in der Moderne (und deshalb auch in diesem Buch) eines der Elemente großer Gebäude, das im Historismus noch Triumphe feierte: die Treppe. Besonders in Gerichts- oder öffentlichen Verwaltungsgebäuden, in Theatern, Schulen und Universitäten, aber auch in den Privathäusern sehr reicher Personen oder in öffentlichen Anlagen wurden prachtvolle Treppenhäuser und –anlagen gebaut. Die Moderne dagegen legte weder außerhalb der Gebäude noch innerhalb auf prachtvolle Treppen Wert, sondern die Treppe wurde als ein mögliches Symbol von Macht angesehen und deshalb auf ihre bloße Funktion reduziert und in Ecken oder Versorgungstürme verbannt – schöne Treppen vermochte die Moderne so wenig zu akzeptieren wie spitze Dächer, von Türmchen ganz zu schweigen.

Obwohl die Autorin die Moderne irgendwann nach dem 2. Weltkrieg versiegen sieht, berührt dieses Buch unsere Gegenwart, wenn letzte Tendenzen und Richtungen wie die Postmoderne, der Dekonstruktivismus oder die Rationale Architektur besprochen werden. Ganz am Ende kommt Kretschmer sogar auf eine »neuerliche Revolution« zu sprechen, als die sie die digitale Architektur versteht. Immer aber bietet das Buch eine Menge sachlicher Information mit gelegentlicher, meist entschieden vorgetragener Wertung. Hinweise auf die Literatur sowie zwei Register (Personen- und Sachregister) beschließen den Band, den man nur empfehlen kann.

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