Schottlands Kapitale Edinburgh ist eine europäische Kulturmetropole ersten Ranges. Hochkarätige Konzertaufführungen und Festivalaktivitäten begeistern den Besucher der Stadt ebenso wie die reiche Museumslandschaft – ob es sich nun um das breit aufgestellte National Museum of Scotland handelt, die National Portrait Gallery oder die Scottish National Gallery. Letztere zeigt aktuell eine inspirierende Impressionismusausstellung, die sinnigerweise unter dem Titel »Inspiring Impressionism« firmiert. Rainer K. Wick hat sie sich auf einer Kunstreise durch Schottland angesehen.
Eigentlich sollte man meinen, über den Impressionismus sei alles gesagt und man habe sich längst an ihm satt gesehen. Die ungebrochene Beliebtheit dieser Kunstrichtung bei einem breiten Publikum spricht allerdings eine andere Sprache, und dass der Impressionismus immer noch ergiebig genug ist, um ihm frische Seiten abzugewinnen, beweisen derzeit die Kuratoren der sehenswerten Schau »Inspiring Impressionism« in Edinburghs Scottish National Gallery. Drei Künstler stehen im Mittelpunkt der Ausstellung: Charles-François Daubigny (1817-1878), der im eigentlichen Sinne kein Impressionist war, sondern ein Vorreiter der impressionistischen Bewegung, Claude Monet (1840-1926), die zentrale Figur des französischen Impressionismus, und Vincent van Gogh (1853-1890), dessen historische Leistung eher in der Überwindung des Impressionismus und in seiner Rolle als einer der Pioniere des späteren Expressionismus bestand. Die Ausstellung mit fünfundneunzig Arbeiten, meist Leihgaben aus bedeutenden internationalen Museen, ist nicht nur ein grandioses visuelles Erlebnis, zeigt sie doch hinreißende Bilder, die in dieser Zusammenstellung noch nie zu sehen waren, sondern sie verfolgt auch eine klare Absicht, nämlich – so Michael Clarke, Direktor der Scottish National Gallery – zu zeigen, wie sehr der rezeptionsgeschichtlich zu Unrecht lange vernachlässigte, ja fast vergessene Daubigny die jungen Impressionisten inspiriert hat und wie sehr ein Künstler wie van Gogh sich später auf ihn bezogen hat.
Charles-François Daubigny zählt mit Camille Corot, Théodore Rousseau, Constant Troyon und anderen zu den Künstlern der sog. Schule von Barbizon. Das Dorf Barbizon gilt nicht nur als Mutter aller Künstlerkolonien im 19. Jahrhundert, sondern auch als Inkubationsort der französischen Moderne. Seit den 1830er Jahren kamen Maler aus dem nahe gelegenen Paris in das urwüchsige Waldgebiet von Fontainebleau, wo sie in Barbizon und anderen Orten am südlichen Waldrand meist kleinformatige Landschaften, die sog. »paysages intimes«, malten. Im Unterschied zur akademischen Ateliermalerei arbeiteten sie im Freien (was auch durch die Erfindung und Verbreitung der Tubenölfarbe erleichtert wurde) und wurden damit zu maßgeblichen Vorläufern des Impressionismus. Dabei kann im strengen Sinne nicht von einer »Schule« von Barbizon die Rede sein, denn tatsächlich handelte es sich weder um formalisierte Lehrer-Schüler-Beziehungen noch um eine geschlossene Gruppe, sondern um ein Miteinander künstlerisch mehr oder weniger Gleichgesinnter, die lockere Formen der kreativen Geselligkeit pflegten und sich fachlich austauschten. Obwohl Daubigny häufig Kontakt mit den Malern von Barbizon hatte, fand er seine Motive in erster Linie nicht dort, sondern eher auf ausgedehnten Reisen. Ähnlich wie später Claude Monet nutzte er dazu seit den 1850er Jahren auch ein Hausboot, mit dem er die Oise, die Marne, die Seine und deren Nebenflüsse befuhr und bis Le Havre am Atlantik gelangte. Dort wurde die Gegend um das nahe gelegene Villerville zu einem seiner bevorzugten Motive. 1860 ließ er sich – obwohl er sein Atelier in Paris behielt – in Auvers-sur-Oise fünfunddreißig Kilometer nordwestlich vom Stadtzentrum der französischen Hauptstadt nieder, wo im Jahr 1890 auch Vincent van Gogh in einem einzigartigen Schaffensrausch die bis zu seinem frühen Tod verbleibenden Monate verlebte.
Obwohl Daubigny unter anderem bei dem prominenten französischen Historienmaler Paul Delaroche gelernt hatte, war er durch und durch Landschaftsmaler. Seine anfänglich noch klassizistisch inspirierten und genau durchgearbeiteten Landschaften wurden zu Beginn der 1860er Jahre lockerer, der Farbauftrag wurde spontaner, die Malweise skizzenhafter, die Palette lichter. 1865, also rund ein Jahrzehnt, bevor sich das Label »Impressionismus« etablierte, sprach ein französischer Kritiker – hellsichtig möchte man rückschauend sagen – bereits von »Monsieur Daubigny« als dem »chef de l‘école de l’impression«. Der Landschaftsmalerei erschloss er neue Dimensionen. Neuartig war nicht nur sein für die Zeitgenossen »unfertiger« Malstil – der Schriftsteller Théophile Gautier beklagte die Vernachlässigung von Details –, sondern auch sein unkonventioneller Blick auf die Dinge. So malte er Flusslandschaften häufig nicht wie üblich vom Ufer, sondern von der Mitte des Flusses aus und trug damit zur Etablierung eines »Neues Sehens« bei, wie es für die Impressionisten typisch wurde. Sein Hausboot »Botin«, manövriert von seinem Sohn und in Edinburgh als moderner Nachbau ausgestellt, machte er zu einem mobilen Atelier, von dem er flüchtige Lichtstimmungen und oszillierende Farbeindrücke unmittelbar zu erfassen und sofort auf die Leinwand zu bannen suchte. Auffallend ist Daubignys Vorliebe für das Querformat im Verhältnis 2:1 (Doppelquadrat), das für die Darstellung sich horizontal ausdehnender Landschaften besonders geeignet ist und ebenfalls von van Gogh in seinen letzten Gemälden in Auvers-sur-Oise genutzt wurde.
In frappierenden Gegenüberstellungen zeigen die Kuratoren den eminenten Einfluss, den Daubigny auf den jungen Claude Monet ausgeübt hat. Beispielhaft seien zwei Gemälde herausgegriffen, die am Atlantik in der Nähe von Le Havre gemalt wurden, Daubignys »Villerville-sur-Mer« von 1864 und das ein Jahr später entstandene Bild »La Pointe de la Hève à marée basse« des damals erst dreiundzwanzigjährigen Monet. Beide sind kompositorisch ähnlich aufgebaut, links das Meer, rechts das ansteigende Gelände, und beide zeigen treffend beobachtet einen düsteren Himmel sowie eine sturmgepeitschte See. Die gebrochenen Farbtöne entsprechen durchaus der Wetterlage, doch wird es nicht lange dauern bis Monet seine Palette deutlich auffrischt und Schwarz und Grau entschieden zurückdrängt, ja nach Möglichkeit meidet.
Die Wahl ähnlicher Motive ist ein typisches Merkmal für den künstlerischen Dialog zwischen Daubigny und Monet (und anderen Impressionisten, wie in Edinburgh anhand einiger Werke von Berthe Morisot, Camille Pissarro und Alfred Sisley punktuell belegt wird). Im Jahr 1874 präsentierte Claude Monet auf einer Gruppenausstellung im Studio des Pariser Fotografen Nadar eine zwei Jahre zuvor gemalte Ansicht des Hafenbeckens von Le Havre im Morgendunst mit dem orangeroten Ball der aufgehenden Sonne. Sein Titel »Impression, Soleil levant« ließ es gleichsam zum Programmwerk des Impressionismus werden. Während dieses Bild aus dem Pariser Musée Marmottan in Edinburgh leider fehlt, wird dem Besucher in der Scottish Gallery ein ähnliches Gemälde Monets aus dem Petit Palais in Paris geboten, in dem der Künstler das Thema der glühenden Sonne aufgriff, diesmal in Form eines winterlichen Sonnenuntergangs (»Soleil couchant sur la Seine à Lavacourt, effet d’hiver«, 1880). Damit korrespondierend überrascht Daubignys »Paysage au clair de lune« (um 1875). Es handelt sich um eine mit breiten Pinseln offenbar in einem Zuge nass in nass hingeworfene Landschaft im Mondschein, eine Farbskizze, die in ihrem freien Duktus davon Zeugnis ablegt, dass der Ältere nicht nur gebend, sondern auch nehmend war und insofern durchaus von einer reziproken Beziehung zwischen ihm und Malern des Impressionismus gesprochen werden kann.
Neben Küsten- und Flusslandschaften, Sonnenauf- und -untergängen, Panorama- und Straßenansichten kleinerer Ortschaften (insbesondere von Auvers, wo nicht nur Daubigny lebte, sondern auch Paul Gachet, Freund der Impressionisten und im Jahr 1890 behandelnder Arzt Vincent van Goghs) sind es Motive wie blühende Obstgärten, leuchtende Mohnfelder und reife Kornfelder, für die sich die in Edinburgh ausgestellten Künstler gleichermaßen begeisterten und an denen sie sich künstlerisch abarbeiteten. Direkte Vergleiche machen in der überzeugend gehängten Bilderschau erfahrbar, wie unterschiedlich sie mit diesen Motiven umgingen.
Verstärkt kommt hier nun Vincent van Gogh ins Spiel, geboren dreizehn Jahre nach Monet und anderthalb Generationen jünger als Daubigny. Er bewunderte Daubigny als »großen Vorläufer« der modernen Landschaft, und manche der pastos gemalten Landschaftsbilder, die er in seiner letzten Lebensphase in Auvers-sur-Oise schuf, können als direkte Huldigungen an das verehrte Vorbild gelesen werden. Ganz explizit gilt dies für das Bild »Le Jardin de Daubigny«, das im Hintergrund neben der gotischen Kirche von Auvers das Haus und im Vordergrund den großen Garten des 1878 verstorbenen Vorreiters des Impressionismus zeigt. Hier erscheint durch den stakkatoähnlichen, kommaartigen Farbauftrag und die charakteristischen dynamischen Kurvierungen alles in äußerste Bewegung versetzt, und der Schritt von der einen Seheindruck »objektiv« registrierenden Malerei des Impressionismus zur subjektiven Deutung und expressiven Steigerung ist in diesem Bild ebenso vollzogen wie in etlichen anderen, oft farbglühenden Kompositionen, die der Künstler kurz vor seinem Selbstmord malte und die derzeit in Edinburgh zu besichtigen sind.
Die Ausstellung wurde zuvor unter dem Titel »Daubigny, Monet, van Gogh: Impressions of Landscape« in den USA im Taft Museum of Art Cincinatti gezeigt und wird ab Oktober 2016 im Van Gogh Museum in Amsterdam, zu sehen sein. Das sehr empfehlenswerte, reich bebilderte Katalogbuch in englischer Sprache ist im Museumsshop in Edinburgh für £ 24,95, das sind nach aktuellem Kurs ca. € 30, erhältlich.