Buchrezensionen

Isabelle Graw: Die Liebe zur Malerei. Genealogie einer Sonderstellung, Diaphanes 2017

Malerei spielt nach wie vor die Hauptrolle in den bildenden Künsten, auch und gerade als Tafelbild. Stefan Diebitz hat den Aufsatzband von Isabelle Graw zu diesem Thema gelesen.

Isabelle Graw: Die Liebe zur Malerei. Genealogie einer Sonderstellung, Diaphanes 2017

Malerei spielt nach wie vor die Hauptrolle in den bildenden Künsten, auch und gerade als Tafelbild. Stefan Diebitz hat den Aufsatzband von Isabelle Graw zu diesem Thema gelesen.

Isabelle Graw lehrt Kunsttheorie an der Städelschule in Frankfurt und ist gleichzeitig Herausgeberin der »Texte zur Kunst«, in denen drei der hier versammelten Essays und Aufsätze vorab erschienen sind. Andere Texte, die in sechs Kapitel zusammengefasst sind, wurden für Ausstellungskataloge oder Sammelbände geschrieben. Zum ersten Mal veröffentlicht werden vor allem die Gespräche, die sich am Abschluss eines jeden Kapitels pünktlich einfinden.

Auf Interesse wird dieses Buch vor allem deshalb stoßen, weil die Autorin sich in der aktuellen Kunst sehr gut auskennt und viele große oder auch weniger große Stars der Szene teils vorstellt, teils ihnen das Wort erteilt. Einige der vorgestellten Künstler sind noch recht jung.

Was hätte die »Genealogie einer Sonderstellung«, wie sich Graws Buch im Untertitel nennt, zu leisten? Liegt in dem Begriff »Genealogie « nicht ein historisches Moment, so dass eine Genealogie einen Beginn (einen Anlass, einen Ursprung) und eine darauf folgende allmähliche Entwicklung zu bieten hätte? Tatsächlich spricht die Autorin in ihrem ersten Aufsatz mit Leon Battista Alberti und André Félibien zwei Theoretiker des 15. bzw. 17. Jahrhunderts an, so, als wollte sie ernsthaft den Wandel der Bedeutung des Tafelbildes im Laufe der Zeit beschreiben und ausdeuten, und der Leser freut sich über eine – eventuell ja eigenwillige – Geschichte der Malerei und ihrer Bedeutung.

Aber leider, von einer Genealogie kann keine Rede sein, weil die vier-, fünfhundert Jahre zwischen der Frührenaissance und der Moderne oder sogar unseren Tagen in diesem Buch kaum eine Rolle spielen. Gelegentlich werden zwar einige Namen genannt, aber mehr geschieht nicht; Reformation und Gegenreformation mit ihren so unterschiedlichen Konzepten werden nicht einmal von fern berührt, die Blüte der Malerei in den Niederlanden kommt nicht vor, geschweige denn, dass sie geistesgeschichtlich, ökonomisch oder soziologisch zu erklären versucht wird, und die Abkehr von der gegenständlichen Malerei in den letzten hundert Jahren wird an keiner Stelle problematisiert. Dagegen finde ich es verständlich, dass das Buch auf den zweifellos sehr aufwendigen Vergleich des europäischen Tafelbilds mit den so ganz anderen Traditionen Ostasiens verzichtet. So geht es hier allein um unsere Gegenwart, also um die europäische Malerei der letzten dreißig, vierzig Jahre, zu deren intimen Kennern die Autorin zweifellos gehört.

Es ist also keine Genealogie, sondern ein Buch über die Gegenwart der Kunst, und in jedem seiner Kapitel präsentiert sich Graw nicht als Beobachterin, sondern als Teil der Szene, als eine Person, die fast jede Entwicklung nicht allein beschreibt, sondern auch begrüßt und jedenfalls nicht kritisiert. Gewiss, gelegentlich mag eine zaghafte Distanz spürbar sein, aber der von Graw im Eingang zu ihrem Buch formulierte Anspruch, Malerei »aus einer gegenwartsbezogenen Perspektive heraus distanziert zu betrachten«, wird keinesfalls eingehalten. Und sie versucht es auch gar nicht. Denn sie steht nicht außen, und sie schreibt bestimmt nicht für Außenseiter, sondern setzt beim Leser eine ähnliche Kenntnis und Grundeinstellung voraus; im Grunde schreibt sie für Eingeweihte, für einen geschlossenen Zirkel. Entsprechend versucht sie sich auch nicht an Porträts, stellt also nicht etwa ausdrücklich die Künstler mit ihrer Vita und deren Werk in all seinen Facetten vor, das sie deutet oder mit denen sie sich bespricht. So ist man in den Gesprächen nicht wirklich über die Allgegenwart des Duzens überrascht. Distanz ist Graws Sache eben nicht, und diese Distanzlosigkeit, die sich mit Kritiklosigkeit deckt oder doch wenigstens dieser sehr nahe kommt, zeichnet das ganze Buch aus und mindert seine Qualität.

Eines der Leitmotive dieses Buches sind die »vitalistischen Phantasien«, mit denen »vitale Eigenschaften wie Subjektivität, Lebenskraft oder Beseeltheit in tote Materie« imaginiert werden, so, als gewännen die Bilder gegenüber dem Künstler eine gewisse Selbstständigkeit. Bis hin zum letzten Gespräch kommt sie immer wieder darauf zu sprechen. Aber im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht doch trotzdem der Erfolg von Malerei. Allerdings, unter Erfolg versteht Graw nicht etwa das gelungene Kunstwerk, sondern die schlichte Tatsache, dass man angesichts geringer Produktionskosten und leichter Transportierbarkeit der Bilder, falls sie wirklich verkäuflich sein sollten, schnell und leicht Geld verdienen kann. Sogar sehr viel Geld, wenn es erst einmal gut läuft. Und bei den Malern, mit denen sie spricht oder über die sie schreibt, läuft es ganz offensichtlich zufriedenstellend, mindestens. Denn wenig erfolgreiche Künstler kommen bei ihr nicht vor; das könnte man auch einmal kritisch anmerken. Und was sagen die Künstler, mit denen sie diskutiert? Gleich im Eingang seines Gespräches mit der Autorin gibt Merlin Carpenter zum Besten: »Es geht in erster Linie darum, mit ihr Geld zu verdienen.« Mit ihr meint er natürlich: die Malerei.

Unter diesen Umständen liegt es nahe, dass ein anderes Thema die Selbstvermarktung der Künstler sein muss, ihr eifriges Bestreben, aus sich selbst eine Marke zu machen (»Branding«). Deshalb unterhält sich Graw mit dem Kalifornier Alex Israel darüber, warum er ein Profilbild von sich selbst mit Sonnenbrille herstellte, und auf diese Weise erfährt der geneigte Leser, warum für diesen Maler das Profilbild mit Sonnenbrille »das visuelle Leitmotiv« seines zweifellos sehr gut verkäuflichen Werks werden konnte, wie Israel sein Profil findet (»Ich habe eine wirklich große Nase.«) und anderes Wichtige mehr. Und endlich werden, weil die Autorin sich ja Professorin für Theorie der Kunst nennt, diese tiefen Einsichten in die Sprache des Bildungsbürgers übersetzt: »Werk und Persona gehen eine Verbindung miteinander ein.«

In dem letzten Gespräch des Bandes formuliert Graw selbst die unausweichliche Konsequenz, die wenig überraschend darin besteht, dass sich der »kreative Anspruch vom Kunstwerk hin zum Lebensstil verschoben hat.« Das ist die Ansicht des Spießers über das Lotterleben der Künstler, übersetzt in leicht verständliches Feuilletonistendeutsch, äh, in die Sprache der Kunstheorie. Zuvor übrigens wurde noch an einen immer zitierenswürdigen Denker mit seiner gegenläufigen Einsicht erinnert: »Der Aufstieg der Kunst zum universalen Subjekt ist bei Adorno offenkundig an die Einsicht in die verminderte Bedeutung des Künstlersubjekts geknüpft.«

Es wäre interessant zu erfahren, wie Graw oder überhaupt »die« Kunstkritik (oder gar »die« Kunstheorie) unter diesen Umständen auf eine strikt anonym vorgelegte Arbeit reagieren würde – was wäre der Maßstab für eine Beurteilung der Qualität? Denn die »konkrete Beschaffenheit« der Arbeiten soll es nicht sein, was ihren Wert ausmacht, so Graw selbst. Eigentlich bei allen Künstlern in diesem Buch spielt die Präsentation eines riesengroßen, kerngesunden Egos eine entscheidende Rolle, und es sollte uns nicht überraschen, dass es ohne Ego, ohne Branding und ohne Selbstvermarktung nicht mehr so richtig weitergehen will – wie es etwa geschieht, wenn jemand dahinscheidet. Was wurde aus dem Ruhm von Martin Kippenberger, einem prominenten Vertreter der »Neuen Wilden«?

»Der Fall zeigt,«, wie Graw zugeben muss, »wie die Wertschätzung einer künstlerischen Position im Laufe der Zeit Veränderungen durchmacht: Was in einem bestimmten historischen Moment hochgelobt wird, kann unter veränderten Zeitbedingungen in Frage gestellt, ja sogar rundheraus abgelehnt werden.« Nach allem, was man hört, soll dergleichen schon häufiger vorgekommen sein. Aber dass es ganze 16 Jahre nach dem Tod eines Künstlers geschieht, sollte eine Kritikerin vielleicht doch nachdenklich machen. Und einmal davon abgesehen, dass eine derartige Missachtung ihres Werks selbst einigen der Allergrößten widerfahren ist – hier wie auch sonst stellt sich nicht allein die Frage, ob die von Graw besprochenen Werke den Tod ihrer Schöpfer überleben werden, sondern vor allem, ob sie sich jemals wiederbeleben lassen. Ich habe da meine Zweifel.

Besonders wichtig ist es Graw, dass »das Leinwandbild intellektuelle Abstraktionsleistungen auch bei seiner Betrachterin« (sic) voraussetze, weil und indem es »offen für Spekulationen« sei, und hochachtungsvoll schreibt sie von »Künstler/innen«, die nun selbst »programmatische Texte« verfassen. Ja, diese Texte kennen wir… Aber ist es wirklich wahr, dass damit der Intellekt gefordert wird? Weder kennen heutige Bilder wie in früheren Zeiten einen mythologischen oder religiösen Hintergrund, um den man sich erst einmal intellektuell bemühen müsste, noch drücken sie in einer symbolischen oder allegorischen Sprache ein Wissen aus, das sich uns als den Zeitgenossen nicht intuitiv erschließen ließe. Liebe Frau Graw, was also fordert an den Bildern der »Neuen Wilden« oder Vertretern des »Bad Painting« intellektuell? Es mag auch heute Bilder geben, die den Verstand beanspruchen, aber derartige Bilder werden in Ihrem Buch doch überhaupt nicht angesprochen!

Vielmehr läuft es doch auf das hinaus, was man seit den fünfziger Jahren beklagen muss: Die Kunst provoziert eine nicht enden wollende Suada, eine Flut pseudophilosophischer Texte. Fürchterliches Geschwurbel allerorten.

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