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Jochen Gerz/Hermann Pfütze (Hg.): 2-3 Straßen. Text und Making of, DuMont Buchverlag 2011

Ein wirres Textgefüge von 887 Autoren auf 3000 Seiten geschrieben und bar jeder Orthografie, das ist »2-3 Straßen. Text«. Was daran fasziniert? Die Idee, die dahinter steckt. Rowena Fuß hat sich den Wälzer und dessen Making of einmal vorgenommen.

Was sich Jochen Gerz gedacht und in »2-3 Straßen« umgesetzt hat, lässt sich nur mit Kants Genie-Begriff adäquat fassen (vgl. KdU B 235 u. 250). Statt im Zirkel der deutschen Migrationsdebatte zu trudeln und am omnipräsenten Streben nach Globalisierung zu scheitern, bietet Gerz einen viel versprechenden Lösungsansatz: Produktion von Kultur. In »2-3 Straßen. Making of« stellt der Künstler dieses Konzept vor.

Mit dem Stichwort „Zeitgenossenschaft“ überwindet Gerz die Ratlosigkeit gegenüber der Frage nach dem „Wie“ des Zusammenwachsens. (Ähnlichkeiten mit kommunistischen Ideen sind rein zufällig). Die immer wieder geforderte Emanzipation des Betrachters wurde hier wörtlich genommen: Nur wer sich an der Produktion beteiligt, wer selbst Teil der neuen Öffentlichkeit wird, also Zeitgenosse, kann das Werk als solches identifizieren, d.h. die gemeinsam geschaffene Kultur.

Wie hat man sich diese „Genossenschafts-Produktion“ nun vorzustellen? Als partizipative Kunst im öffentlichen Raum zeigt »2-3 Straßen« Straßen ohne Sehenswürdigkeiten oder besondere Vorkommnisse. Bei den Vertretern dieser Gattung, die von den drei Städten Dortmund, Duisburg und Mülheim im Rahmen des Großspektakels Ruhr.2010 zur Verfügung gestellt wurden, handelt es sich jeweils um ein Viertel, das erneuert oder verändert wird bzw. das neu entsteht, renoviert, rehabilitiert oder umgewidmet wird. Die Straßen werden mit allem, was Teil davon ist, was sich darin befindet und dazu gehört, zu einer Ausstellung. Was in den Straßen geschieht wird zum Gegenstand des Kunstinteresses. Das alltägliche Leben wird Kultur und die 78 Teilnehmer am Projekt plus Besucher sind die Künstler, bilden den Kern der Gesellschaft, die „(Zeit-)Genossen“.

Dank dem Beitrag der Bewohner und Ausstellungsbesucher entstand in den Straßen des Ruhrgebietes nun tatsächlich eine geistige Produktion. Mithilfe von Laptops, die miteinander verlinkt waren, wurde ein einziger Text erstellt. Jeder Teil des Textes fügt sich an bereits Geschriebenes an. So fließen die Textbeiträge in »2-3 Straßen. Text« ohne Überschriften, Absätze oder Nennungen der Autoren ineinander — wie ein „Textgewebe“ nach Derrida. Der Grillabend im Hinterhof wird genauso verhandelt wie die Kassenschlange im Dortmunder Supermarkt, verloren gegangene Liebschaften ebenso wie der wöchentliche Revierstundenplan. Seitenlang weiß man nicht, wo man sich befindet oder welcher Tag ist, denn hier schreibt kein ortbares „Ich“, hier schreibt ein „Wir“, eine Gesellschaft.

Damit sind wir bei der verblüffenden Pointe der Gerz’schen Kulturproduktion: Was eine Gesellschaft letztlich produziert, sind 1001 kleine Alltagsgeschichten und Kultur ist die Kunst des Geschichtenerzählens.

Neben den dichtgepackten Ausführungen von Gerz beinhaltet »2-3 Straßen. Making of« zudem zwei ausführliche Beiträge, die versuchen das Projekt historisch einzuordnen. Ralf Georg Czapla verortet »2-3 Straßen. Text« in der Entwicklung moderner Literatur und experimenteller Schreibweisen. Söke Dinkla hingegen verortet das Projekt im künstlerischen Werk von Jochen Gerz als partizipative Kunst im öffentlichen Raum. Daneben wird »2-3 Straßen« von weiteren Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen als Modellfall für planerische Initiativen und sozialpolitische Alternativen untersucht.

Die Beiträge von Elisabeth Giers und Hermann Pfütze werfen einen Blick auf die Arbeitswelt der Kreativen und den Prozess der Einnischung in der Gesellschaft sowie auf »2-3 Straßen« als Antithese zur Eventkultur. Eine Vielzahl an Bildern in bzw. aus den Wohnungen der Teilnehmer und Randbemerkungen runden das »Making of« ab.

Fazit: Mit »2-3 Straßen« haben wir ein bemerkenswertes Kulturgut erhalten, welches ironischerweise allen Ansprüchen der zukünftigen „globalisierten“ Gesellschaft genügt: Der Text ist ernüchternd, komplex und absatzweise hinkt man mit dem Verständnis hinterher. Als Pflichtlektüre zur Bildung einer modernen Gesellschaft sollte es gerade deswegen jeder im Regal haben!

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