Buchrezensionen, Rezensionen

Joe Brainard: Ich erinnere mich, Walde + Graf Verlag 2011

Mit »Ich erinnere mich« legt der Walde + Graf Verlag erstmals die Memoiren des 1941 in Salem/Arkansas geborenen bildenden Künstlers und Schriftstellers Joe Brainard in deutscher Sprache vor. Diesem zwischen frappierender Leichtigkeit und bewegendem Tiefgang, Klarheit der Sprache und poetischen Miniaturen oszillierenden Stück Literatur ist ein grandioser Lesezauber eingeschrieben, dem sich auch unsere Autorin Verena Paul nicht entziehen konnte.

Bereits 1975 veröffentlichte Joe Brainard die »wirbelnd[e] Collage von Erinnerungen«, wie Paul Auster es in seinem das Werk treffend charakterisierenden Vorwort formuliert. Vor dieser Zeit stand jedoch die Malerei im Zentrum von Brainards Schaffen, wobei seine frühen Bilder und Assemblagen Einflüsse von Jasper Jones, Andy Warhol und Joseph Cornell erkennen lassen. Allerdings fand er rasch einen eigenen Stil, der sich in Ölbildern, Zeichnungen, Collagen oder Assemblagen ebenso artikulierte wie in Bühnenmalereien, Comicstrips oder der Covergestaltung von Lyrikbänden oder Literaturmagazinen. 1969 publiziert Brainard schließlich Gedichte, Tagebücher und kurze Prosastücke in Literaturmagazinen. Hier traten bereits – so Auster – die das vorliegende Buch prägenden Eigenschaften hervor: »charmant, augenzwinkernd, unprätentiös, transparent und häufig die Grammatik missachtend.« Der Künstler sei nun »beinahe zufällig auf ein Ordnungsprinzip gestoßen […], das seiner Prosa eine ganz andere Dimension verlieh.«

Doch wie lässt sich der Reiz erklären? Ist es diese über das bloß Persönliche hinausweisende Allgemeingültigkeit, in der sich die Leser selbst wieder finden, die hypnotische Macht der Ich-erinnere-mich-Formel zu Beginn eines jeden Satzes, die syntaktische Verschmelzung von gänzlich verschiedenen Lebensbereichen, der Mut, derart offen über Sexualität zu sprechen, das wachsame Auge des bildenden Künstlers, die Gabe zu Erzählen, oder die von Auster beschriebene »Modulation des Tons, der mal geradeheraus, mal poetisch ist«? In der Tat ist die vorliegende Arbeit einem Musikstück vergleichbar, in dem, so Auster, eine Vielzahl an Stimmen verwoben, ein Thema »für kurze Zeit aufgenommen, fallengelassen und dann wieder aufgegriffen« wird. Es werden Erinnerungen an die Familie, Essen, Kleidung, Körper und Sexualität, Künstler, Filmstars, Träume, Sprachspiele und Reflexionen über scheinbar banale Alltäglichkeiten durcheinander gewirbelt und schließlich doch zu einer homogenen Geschichte gelebten Lebens verbunden. Mittels graphischer Interventionen, bei denen ein Satz sich in ausgefallener Typographie auf einer ganzen Seite entfalten kann, erfolgen konstant Auflockerungen im Werk, von dem Brainard selbst sagte: »Ich bin völlig überwältigt von diesem Stück Prosa, an dem ich gerade schreibe. Ich fühle mich wie Gott, der die Bibel schreibt. Es ist, als würde ich nicht selbst schreiben, aber es würde wegen mir geschrieben. Und ich habe das Gefühl, dass es jeden genauso betrifft wie mich. Das gefällt mir.«

Beeindruckend finde ich, was Joe Brainard mit dem neugierigen Auge des Künstlers notiert: »Ich erinnere mich an durch ein Fenster betrachtete Regentage«, »Ich erinnere mich an pfirsichfarbene Abende kurz vor Einbruch der Dämmerung«, »Ich erinnere mich an Möbel aus blondem Holz« oder »Ich erinnere mich an Väterchen Frost, Kürbiskuchen, Flaschenkürbisse. Und sehr blauen Himmel«. Spannend und unterhaltsam aber auch die dazwischen gestreuten Phantasien (»Ich erinnere mich, dass ich mir plötzlich vergegenwärtigte, wie viele Leute, ‚jetzt in diesem Augenblick’ auf der Welt Sex hatten«, »Ich erinnere mich, dass ich mir nicht erklären konnte, warum Balletttänzerinnen sich nicht die Zehen brechen, wenn sie machen, was sie gewöhnlich machen«) oder Beobachtungen wie »Ich erinnere mich, dass die alltäglichsten Gesten einen völlig verrückt machen können bei Leuten, die man liebt«. Doch nicht diese einzeln heraus gepflückten Sätze machen die Magie des Bändchens aus, sondern die Gesamtkomposition, weshalb ich dieses originelle Meisterwerk jedem empfehlen kann, der sich von Sprache gerne neu überraschen lassen und dabei einem Künstler in die Seele schauen möchte.

Fazit: Ein kraftvolles Lebenspotpourri, das den Leser alles um sich herum vergessen lässt. Ist man erst von dem Sog der sich in Raum und Zeit frei bewegenden Erinnerungen und Assoziationen Joe Brainards erfasst, gibt es – im positivsten Sinne – kein Entrinnen mehr. Ich habe dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite verschlungen, war sprachlos über die Offenheit des Schreibers, verblüfft ob seiner hellwachen Wahrnehmung und fasziniert von der unglaublich emphatischen und poetischen Sprache, die samtpfötig zwischen bisweilen grotesk anmutende Szenerien schleicht. Pointiert hat Paul Auster in seinem Vorwort dieses Werk beschrieben: »Das Buch bleibt neu und fremd und immer überraschend – I Remember ist zwar ein schmales Bändchen, aber unerschöpflich. Es ist eines dieser seltenen Bücher, die einen ein Leben lang bereichern.«

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