Ausstellungsbesprechungen

Johannes Rave und Rudolf Schoofs - Malerei und Grafik

Aus der Rede von Günter Baumann anlässlich der Ausstellungseröffnung in der Galerie Kränzl in Göppingen.

Was wir hier vor uns haben, sind Zeichnungen, Aquarelle und Malerei. Um der Lebensleistung insbesondere von Rudolf Schoofs gerecht zu werden, will ich zunächst die Zeichnung ins Blickfeld nehmen. Als Bildsprache beziehungsweise Medium steht sie am Beginn unsrer Zivilisation. An die Wände ihrer Höhlen kritzelten die Menschen Zeichen der Ehrfurcht vor höheren Mächten und sie schilderten ihren Triumph über den Feind: das Tier. Ihr Gegenstand war konkret fassbar, aber es reichte eine entfernte Ähnlichkeit völlig aus. Ich behaupte, dass die Menschen einst über die Abstraktion zum Begriff, zum Ding fanden, sowohl im Bild wie in der Sprache. Ein Ableger der Zeichnung ist die Schrift als ein in Stein geritztes Zeichen. Rein pragmatisch gesehen ist die Zeichnung auch die Grundlage der anderen Künste. Immerhin reicht ein Stift aus, und sofern man nicht Hauswände zweckentfremden will, was sich sowieso nicht ziemt, ist ein Blatt Papier ganz nützlich. Dabei darf man allerdings nicht verkennen: Wo immer die Zeichnung über die Skizze hinausgeht, ist sie auch eine der unerbittlichsten Techniken – in anderen Künsten kann man eventuell mogeln, aber der Strich des Zeichners »sitzt«, oder er ist falsch platziert. Von dem postmodernen Philosophen Jean-François Lyotard stammt die Charakterisierung der Zeichnung als »fast mystische Ärmlichkeit«, was auf die Differenz von Ausdrucksmöglichkeit und materieller Genügsamkeit zielte. Für Lyotard ist die Zeichnung unmittelbar, spontan und uranfänglich und somit anderen Künsten vorgeordnet.

Nehmen wir eine beliebige Arbeit von Schoofs ins Visier und versuchen nachzuvollziehen, wie er um jede Linie ringt, wie Schraffuren mit einzeln gesetzten Strichen korrespondieren, wie aus dem vagen, suchenden Verlauf des Bleistifts mit unterschiedlichen Härtegraden über dem Papier sich eine Form ergibt, die wiederum eine Beziehung mit anderen Formen eingeht, und zuweilen verdichten sich die Formen zum Motiv, bei dem schon die Frage auftaucht, ob der Künstler das Thema entwickelt hat, oder ob dies zufällig geschehen ist, oder ob nicht sogar nur das Auge des Betrachters etwas erkennt, was objektiv gar nicht da ist. Die Kunst als Abenteuer, als Entdeckungsreise des menschlichen Geistes!

Leonardo da Vinci, der das so kunstvoll entrückte wie glaubhaft realistische, jedenfalls berühmteste Lächeln aller Zeiten in das Porträt der Lisa del Gioconda zaubern konnte, empfahl die Betrachtung von Wolken oder der Holzmaserungen, um aus der Phantasie die schönsten Motive zu entlocken. Wie real, hyper-real, sur-real oder gar ir-real die sogenannte Wirklichkeit uns aber auch immer erscheinen mag, letztlich bleibt das, was wir sehen, was wir fühlen und empfinden, immer ein Resultat unserer subjektiven Wahrnehmung.

Die Welt, die wir für gewöhnlich sehen, ist zweifellos vorhanden, aber als Bild basteln wir sie in unserem Kopf zusammen. Wir vernetzen unsere Sinneseindrücke mit unseren Vorerfahrungen und Emotionen zu unserem Abbild der Wirklichkeit. Die Welt der Gegenstände scheint uns gewiss, solange wir sie sehen, kommt sie aus dem Sinn, können wir schon nicht mehr sicher über ihren Zustand sein, denn unbesehen fällt sie unter die Rubrik einer Welt der subjektiven Wahrnehmung oder Vorstellung – und nur die haben wir jederzeit parat. Auf du und du mit der »Idea«, hält die Zeichnung das Primat des Gedankens im Gepäck. 

Von Heinrich von Kleist stammt der vielbeachtete Essay »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in dem er von dem Phänomen berichtet, wie jemand, der etwa eine juristische Streitsache erörtern oder eine algebraische Aufgabe lösen soll, darüber brüten kann, so lange er mag und doch nichts zustande bringt – und kaum erwähnt er es seiner Schwester im Gespräch gegenüber, steht ihm der rettende Gedanke plötzlich klar vor Augen. »Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne sagte«, so schreibt Kleist, »denn sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler … studiert. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt«. Kleist bekennt, er habe die Erkenntnis – die Idee komme beim Reden – gemopst als Parodie auf die französische Weisheit, der Appetit komme beim Essen. Und so will ich in einem weiteren Schritt den Satz beherzt noch einmal wenden: Die Idee kommt beim Zeichnen.

Um den Weg zurück zu Rudolf Schoofs zu finden, und ich sage gleich dazu, dass wir längst auch die Arbeiten von Johannes Rave mit einbeziehen können, will ich noch einmal Kleist zitieren: »… weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, dass die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.« Lesen wir vor diesem Hintergrund – ich sage bewusst: lesen wir – zum Beispiel die malerische Zeichnung, die sich hier neben dem Durchgang zum hinteren Raum befindet, so können wir nachvollziehen, wie kühn der Pinsel in heftigen Vor- und Rückwärtslineaturen, hier und da schwungvoll kreisend über das Papier geht, hastet, wie stakkatohaft waagerechte und senkrechte Formelemente eingezogen werden und wie in präzisen kompositorischen Abständen ein Blau und mehrfach ein lichtes Braun für Halt im ansonsten weiß und grau tönenden Bild sorgen. Wer vermag zu sagen, wann die Idee dazu kam, dass man eine sitzende Person mit drastisch gestreckten Händen herauslesen kann?

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Noch einmal Kleist: »Ein solches Reden« – ich sage hier Zeichnen – »ist ein wahrhaftes lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen neben einander fort … Die Sprache« – respektive die Zeichnung – »ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes Rad an seiner Achse.« Rudolf Schoofs ist durch und durch Zeichner, weshalb mir die Konzentration auf diese Gattung redlich schien. Natürlich könnte ich dem kongenialen Maler Schoofs auch einige Zeit widmen. Aber da er auch mit breiten Pinseln und Farbe letzten Endes zeichnerisch ans Werk geht, da er auch hier die Notwendigkeit und Freiheit weniger der Linie als der Farbe in einer grandiosen Balance hält, will ich ihnen nur die Auswahl seiner Gemälde in dieser Ausstellung für die spätere Betrachtung ans Herz legen.

Wenn ich zu den Arbeiten von Johannes Rave schwenke, mache ich einen Gattungs- und Perspektivenwechsel. Sein Lehrmeister ist zwar nicht zu übersehen, aber Rave hat seinen eigenen Stil gefunden. Er hat sich sozusagen zwischen der Zeichnung und der Malerei bei Schoofs für das Aquarell als seine Leittechnik entschieden. Dazu kommt, dass er den dünnen Grat, den Schoofs von der Abstraktion in die Figuration beschritten hat, in die andere Richtung ging. Diese Richtung schlagen zwar viele Künstler ein, aber Johannes Rave hat diesen schmalen Grenzbereich zwischen Wahrnehmung und Fiktion genau erfasst. Es geht gar nicht um die Übersetzung der Gegenstandswelt in eine künstlerische Sprache, sondern um die Ausformulierung eines Als-ob. 

Rave kennt die Lockungen der abstrakten Kunst, sogar in ihrer konstruktivistischen Ausrichtung, war aber durch den Einfluss der Schoofs-Schule relativ gefeit vor der – wie er es nennt – »Eleganz« der Beliebigkeit: frei, das sollte die Kunst sein, aber eben auch notwendig! Da kam ihm die Beschäftigung der die Realität verfremdenden, mitunter verzerrenden Silhouette eines Schattens gerade recht. Er malte dieses Abbild vom Gegenstandsbild ab, gab dem entstandenen Bild mit bunten Wasserfarben ein Eigenleben, sodass die Vorlage aus der Wirklichkeit – und ich erinnere nur daran: Was heißt schon Wirklichkeit? – in eine parallele, erfundene Kunstwelt überführt wurde.

Die Kopf-Reihe hier im Raum mit den durchnummerierten Titeln »Lichtfigur« ist die Fortführung der Schatten-Idee, zudem gewissermaßen auch eine Weiterentwicklung von Schoofs’ Abstraktionsrealismus. Grellbunt: gelb, blaugrau, orange, violett, grün, braun und im Aquarell sogar leuchtend grau präsentieren sich gänzlich anonyme menschliche Umrisse, als könnten sie sich selbst zum Porträt erheben und ihre Schattenherkunft konterkarieren. Diese Irritation des freilich gescheiterten Ansinnens der eben nicht real dargestellten Personen wird noch verstärkt durch die wasserbedingten, bedeutungsvoll einprägsamen Farbränder, die den Anonymi durchaus Spannung und sogar Charakter verleihen. Im oberen Raum finden Sie weitere »Lichtfiguren«, die man bei der gebotenen Kühnheit als menschliches Paar auffassen lassen, den Rändern nach mag man beeindruckt hinzufügen: vom Wasser gemalt. Oder ist es auch diesmal nur der Betrachter, der überhaupt ein Bildnis sehen will, wo es doch nur ein Farboval auf Papier ist? Rave interessiert sich ausdrücklich für das wahrnehmungspsychologische Phänomen, dass unser Auge gewillt ist, Vorhandenes und Nichtvorhandenes zu einem Gesamtbild zu vervollständigen, wie er es in seiner Serie»Tales from the darkside of the moon« thematisiert hat.

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Die Faszination für die Aquarelltechnik hat Johannes Rave zu einem Meister seines Fachs gemacht – wie Rudolf Schoofs ein Meister der Zeichnung ist. In Erkundung ihrer Grenzen konfrontiert er die Wasserfarbe zuweilen mit der Bleistift- oder Kohlelinie, indem er sie übermalt und dem Trocknungsprozess des Wassers überantwortet, oder er erzeugt eine lichtvolle Transparenz, indem er hier und da das Papier frei von Farbe lässt, wie Sie es auch in diesen nur potenziellen Porträts sehen. Wenn sich die abstrahierte Form dann doch einmal vollkommen, fast anarchisch verselbständigt, entstehen fast mystisch inspirierte Blätter, deren edelsteinklarer Glanz über Hintertürchen wieder in eine wenn auch gehobene Wahrnehmungsebene gelangt. Die Gemälde transportieren diese freien Arbeiten in eine weniger flüchtige Technik, verleihen in Ausdruck und Wirkung eine neue Qualität. Im Übrigen kommen sich Schoofs und Rave in den Gemälden recht nahe, wobei Schoofs hierbei die teils lapidare Härte der Zeichnung wieder aufgreift und Rave die poetische Lichtfülle der Aquarelle zu erhalten sucht.

Dass diese puren Möglichkeiten, die Raves und Schoofs’ Kunst aus der sinnlich fragwürdigen Wirklichkeit macht, sich aus vielfachen Assoziationen speisen, zeigt nicht zuletzt die Bedeutung des Reisens, das die Vita beider Künstler auszeichnet. Konkret dürfte das Schatten-Thema während Raves Reisen durch Indonesien Nahrung erhalten haben. Aber auch da wird man weder hier noch dort auf touristische Impressionen stoßen, die dem Werk von beiden völlig konträr lägen. Ich will deshalb mit einem Zitat von Rudolf Schoofs enden, das nicht nur seine Reisetätigkeit umschreibt, sondern auch als Motto für die Arbeiten stehen könnte, die sie heute sehen: »Ich gehe mit den Augen eines Kindes ins Unbekannte«… 

… Mit der äußeren Welt haben Schoofs und Rave nicht viel am Hut, und wenn doch, dann wollen sie sich diese zumindest in einem schöpferischen Erkenntnisakt erschließen. Es scheint gegenwärtig eine neue Realismus-Debatte entbrannt zu sein, nachdem die Leipziger Schule den Kunstmarkt überflutet hat und die Öffentlichkeit gewahr wurde, dass nicht nur in Leipzig, sondern allerorten eine ganze Palette von Realismen präsent sind. Allein die Tatsache, dass es parallel dazu nach wie vor ungegenständliche, konzeptuelle Positionen gibt, stellt sich die Frage neu: Was ist real, was wirklich, echt oder auch nur möglich? Die Arbeiten von Rudolf Schoofs und Johannes Rave sind abstrakt insofern, als sie mit dem dargestellten Gegenstand keinerlei Abbildfunktion verbinden, und doch kann man ihnen einen figurativen Ansatz nicht absprechen insofern, als sie sich eine Welt erfinden, die unsrer auf anderer Ebene entspricht: Nennen wir sie eine fiktive oder Parallelwelt.

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