Buchrezensionen, Rezensionen

Judith Collins: Sculpture today. Phaidon. London, New York 2007

Es ist gelungen! Die zeitgenössische Skulpturenlandschaft öffnet ihre Pforten und gewährt endlich Ein- und Überblick in ihre Methoden und Praktiken. Von der ephemeren Materialität des Haselnusspollen bis zur nahezu unzerstörbaren Steinskulptur, vom traditionsreichen marmornen figurativen Akt bis zum selbst gestrickten Objekt - die zeitgenössische Skulptur kennt keine Grenzen.

In 18 Kapiteln hat Judith Collins zusammengefasst, was an stilbildenden Kriterien und thematischen Akzenten das Panorama gegenwärtiger Skulptur ausmacht. Und die Autorin hat sich nicht in schwerlastigen Begriffsdefinitionen verfangen, sondern hält den Blick frei für die enormen Veränderungen, die die Welt und somit die Skulptur in den vergangenen 30 Jahren erfahren hat (vgl. Chronologie, S. 474-475).

Von der Figur (Kap. 1), über das Post-Pop Objekt (Kap. 4) , vom Architekturbezug (Kap. 5) über die Vielfalt verarbeiteter kultureller Einflüsse (Kap. 6) und dann wieder über die Verwendung traditioneller Materialien (Kap. 7) - Collins reichbebilderte Aufsatzsammlung reflektiert die thematische und methodische Entgrenzung zeitgenössischer Skulptur. Die Herausforderung an den Leser liegt in der Konfrontation mit Themenkomplexen wie »Ephemere Effekte« (Kap. 8), »Erinnerung« (Kap. 11), »Monumentalität« (Kap. 13) und »Schwerkraft« (Kap. 15), die dem enorm fluktuierenden Charakter der aktuellen Szene entsprechen, einen verbindlichen kunsthistorischen Kontext allerdings außen vor lassen.

Es sind die weltweiten [und unabsehbaren] Auswirkungen der elektronischen und digitalen Technologien seit den 1970er Jahren - die Entwicklung des Internets und die globale Zunahme der mobilen Kommunikation - die eine veränderte Wahrnehmung unserer Welt erzeugen, was die zeitgenössische Skulptur reflektiert, indem sie den Rezipienten mit einer im Material, den Formen, Techniken und Konzepten entgrenzten, sich ständig erweiternden Gattung konfrontiert. Da geradezu alles ins Spiel gebracht werden kann, um eine Skulptur zu schaffen, so Collins, wurden Videokunst, kinetische und fotografische Kunst aus Gründen der Platzersparnis im Band nicht mit aufgenommen. (6) Dem Gewissheit versprechenden Wunsch nach Klassifizierung für die unübersehbare Fülle zeitgenössischer dreidimensionaler Ausformungen wird gleich zu Beginn der Untersuchung ein Stich versetzt - denn, so Collins einleitendes Theorem: »Sculpture has probably changed more during the last thirty years than at any other time in its more than 30,000-year history, and it has changed because we have changed.« (6) Solchermaßen zur Konfrontation der eigenen Lebensrealität mit der zeitgenössischen Skulptur aufgefordert, stellt dieser Band ein Novum in der Fachliteratur dar.

Mit dem vorliegenden Band liegt ein opus magnum der zeitgenössischen Skulptur vor, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Bestandsaufnahme dreidimensional arbeitender Positionen unter Einbeziehung der vergangenen 30 Jahre vornimmt. Der unglaublichen Unbeschwertheit, mit der Collins hier einen kompetenten Ritt durch die aktuelle Skulpturenlandschaft vornimmt, ist nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen. Es entspringt dem anglo-amerikanischen Raum, dem Leser komplexe kunsthistorische Themen mit größerer Leichtigkeit aufzubereiten, als dies z.B. die Schwerlastigkeit des deutschen Spezialistentums zu Wege bringt. Hinzu kommt die pragmatische Kunstfertigkeit, mit der der opulente über 480 Seiten und über 460 Abbildungen starke Band gestaltet wurde: Die Kapitelüberschriften wurden mit aus der Fläche geschnittenen, in die Dreidimensionalität heraus gefalteten und schließlich wieder in die Zweidimensionalität „hinein- fotografierten“ Papierschnitten gestaltet. Dass der gewaltige Druckauftrag an die Volksrepublik China erging, liest sich am Rande mit.

Dem Leser erschließt sich das thematische Panorama über den Zugriff signifikanter Kapitelüberschriften. Text und Abbildungen werden in einem erstaunlich gleichberechtigten Verhältnis zueinander präsentiert. Wenn die Auswahl der Künstler und Künstlerinnen auch wenig begründet wird und die thematischen Auswahlkriterien sicherlich erweitert oder auch modifiziert werden könnten, so ist das Wagnis dieses Buchprojektes - mit dem notwendigen Mut zur Lücke - als gelungen zu bezeichnen - und sicherlich ein Meilenstein in der Aufbereitung der gegenwärtigen Skulpturgeschichte.

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