Buchrezensionen

Jürgen Müller, Thomas Schauerte: Pieter Bruegel. Das vollständige Werk, Taschen 2018

Die schlichte Zweisilbigkeit seines Nachnamens genügt, um auf den Plakaten überall in Wien und Österreich einem Titan wie Pieter Bruegel anlässlich seines 450. Todestages eine große Bühne zu bereiten. Die jüngst im Wiener KHM am Burgring mit königlichem Staatsgast eröffnete Schau sprengt alles bislang Dagewesene dieser Art. Eine Schau der Superlative. Zugleich hat der Kölner Taschen Verlag mit Pracht und Protz eine Veröffentlichung zum Gesamtwerk ediert, die ebenfalls jede Monografie in den Schatten stellt. – Doch was, fragt unser Kritiker Walter Kayser, macht eigentlich den Künstler hinter dieser blendenden Fassade heute für uns aus? Wer ist der einzigartige Begründer dieser dynastischen Marke „BRUEGEL“? Werden auch neue Zugänge und tiefere Einsichten vermittelt?

Für viele Künstler ist es gleichermaßen Trost wie Tragik, ein großer Traum wie quälender Albtraum, dass wenigstens ihre Werke ihr flüchtiges Leben überdauern mögen. Doch für die meisten von ihnen erwies sich leider Senecas „ars longa, vita brevis“ als Trug und Fluch. Ihre Arbeiten gingen genauso wie ihre Körper den Weg alles Irdischen. Sie verblassten und vermoderten im namenlosen Nichts.

Für Pieter Bruegel gilt das nicht. Seine Bilder wurden schon immer als begehrte Meisterwerke gehandelt. Als er vor 450 Jahren starb, war er bereits, wie man es so leichtfertig übertreibend formuliert: unsterblich.
Geblieben sind seine Werke; von seinem Leben weiß man so gut wie nichts. Eine Ausnahme ist vielleicht die romantische Liebesgeschichte zu Mayken, der Tochter seines Lehrherrn Pieter Coecke van Aelst, welche er dann doch einer verlogenen Ehefrau vorzog. Aber auch das ist vielleicht mehr eine legendenhafte Romanze, entsprungen aus dem Bedürfnis, dem großen Unbekannten mehr Gesicht zu geben. Selbst die Frage, ob er im Jahre 1525 oder vielleicht doch erst 1530 oder 1531 geboren wurde, ist genauso unklar wie seine Herkunft, möglicherweise aus dem Dorf Brueghel bei Breda, das ihm dann den Namen gab (bei dem er später das „h“ strich). Schon seine beiden Söhne Jan und Pieter d. J. verblassten hinter der Originalität des Vaters. Wenngleich sie exquisite Spezialisten waren, so blieben sie doch weitgehend als Kopisten seiner Manier hinter dem Vater zurück.

Noch hat sich der 450. Todestag dieses Ausnahmekünstlers im strengen Sinne gar nicht gejährt, und schon ist das Jubiläum mit einem doppelten Paukenschlag eröffnet: Zeitgleich mit der alle Superlative für sich in Anspruch nehmenden großen Schau in Kunsthistorischen Museum in Wien erschien dieser Tage im Taschen Verlag ein Buch, das das Gesamtwerk präsentiert. Nun ist das Kölner Verlagshaus für qualitativ wie finanziell spektakuläre Publikationen bekannt. Aber dieser Prachtband sprengt doch die gewohnten Maßstäbe; denn von einem „Buch“ zu sprechen, wirkt fast wie eine Untertreibung. Zu opulent ist dieser schwergewichtige Band, den man kaum in zwei Hände nehmen, geschweige denn zur Lektüre mit ins Bett nehmen könnte. Er hat ein Foliant-XXL-Format von jenem Kaliber, das man im Mittelalter auf drehbare Lesepulte hievte, damit der gesamte Mönchskonvent im Chorgestühl daraus singen konnte, - eher ein Koffer als ein Buch, nur dass ihn vermutlich jede Fluglinie als Handgepäck zu sperrig und als Cargo zu schwer finden würde. Er eröffnet ein Breitleinwandkino im heimischen Wohnzimmer, sind doch die Abbildungen und zahlreichen Großausschnitte in einer fast unnatürlichen Abbildungsschärfe, welche vor den originalen Tafeln schon deshalb nicht zu genießen wären, weil man dabei fürchten müsste, dem Nachbarn auf die blitzsauberen Schuhe zu treten oder auch seine ausgefahrenen Ellenbogen in den Rippen zu spüren.

Die jetzige Ausstellung im KHM am Burgring in Wien, an sich schon ein einzigartiger historistischer Kunsttempel im Stil der Neorenaissance, wird sicherlich zu Recht als Sensation angepriesen. Für die Direktorin Sabine Haag ist die Schau nicht nur ein Höhepunkt in der Reihe vieler fulminanter Ausstellungen, sondern auch persönlich ein Gipfelpunkt ihrer nun zehnjährigen Leitungstätigkeit. Üppige Sponsorengelder der Getty Foundation ermöglichten in einer sechsjährigen kuratorischen Vorlaufzeit etliche wissenschaftliche Forschungsprojekte.

Davon unabhängig ist die Ausstellung aber wohl vor allem der Tatsache zu verdanken, dass Wien seit den Habsburgererwerbungen des 16. Jahrhunderts den weltweit größten Bestand an Bruegels Gemälden besitzt. Ein Drittel aller Bruegels sind hier seit Ewigkeiten daheim. Dieser Fundus ermöglichte es erst, hier wie sonst nirgendwo mit einmaligen Ausleihen eine erste und sicherlich einmalige monografische Schau entstehen zu lassen.

Nie zuvor wurden so viele Gemälde, Zeichnungen und Grafiken zusammengetragen und gerade die über die Gattungsgrenzen hinausgehende Betrachtung ist ungewöhnlich aufschlussreich. Dabei musste für jede der aus New York, Berlin oder Neapel entliehenen Bildtafeln allein ein Versicherungsbetrag von mehreren Millionen Euro locker gemacht werden. Selbst Schweizer Privatsammlungen, die nie zuvor ihre Bilder auf riskante Reisen geschickt hatten, haben nun ihre Tresore geöffnet. Für eine derart beschickte Schau mit solch reichhaltigen internationalen Verbindungen hat sich bei Sabine Haag die englische Formulierung von der „Once-in-a-lifetime“-Chance eingebrannt. Alles sei ganz einzigartig und einmalig. Mit großem Theaterdonner und Fanfarenklang wird so einem Titan die Bühne bereitet. Da genügt mit gezieltem Understatement und in seiner schlichten Zweisilbigkeit der Name „Bruegel“ als Marke.

Doch was ist, unabhängig von dem Anhäufen von Superlativen, die konzeptuelle Ausrichtung dieser Ausstellung?
Zeitgemäße mediale Präsenz scheint das oberste Gebot eines netzgestützten Begleitprogramms zu sein. Niemals konnte man Bilder so detailliert am heimischen PC auspixeln und heranzoomen. Da wird viel Hightech aufgefahren, um über technische Analysen aller Art Rückschlüsse auf Maltechnik, verwendete Farben und Lasurweise des Malers zu gewinnen. Doch ist es wirklich hilfreich, nachgewiesen zu bekommen, in welchem Winkel Pieter Bruegel seinen Pinsel auf den Malgrund aufsetzte? Ist es nicht Blendwerk, in dieser Weise Forschung in erster Linie auf naturwissenschaftlich-technischem Feld zu betreiben? Empirie statt Deutung? Muss sich ausgerechnet die Kunst und Kunstgeschichte dem modischen Trend anpassen, „relevante“ Wissenschaft nur noch mit empirischer Naturwissenschaft gleichzusetzen?

Nun ist klarzustellen, dass die Neuveröffentlichung des Gesamtwerkes im Taschen Verlag sich nicht als offizieller Katalog zur Wiener Ausstellung versteht; allein der Veröffentlichungszeitpunkt im Vorfeld des großen Gedenktages führt zu dieser Koinzidenz. Zwar vermittelt auch sie den Eindruck, dass auch hier alles auf Superlativisches abgestellt ist: Sensationsheischend etwa die Eingangsseiten der jeweiligen Buchkapitel, die auf Goldgrund gedruckte Texte zeigen - was in erster Linie die Lesbarkeit erschwert und den Eindruck der Kostbarkeit, auf den schon die opulenten Ausmaße zielen, nochmals aufbrezelt. Ansonsten aber setzen die beiden Verfasser erfreulicherweise einen (ergänzenden) Kontrapunkt. Sie geben tatsächlich einen sehr guten Querschnitt heutiger Deutungszugänge. Jürgen Müller lehrt Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Technischen Universität in Dresden, und Thomas Schauerte leitet neben dem Albrecht-Dürer-Haus auch das Stadtmuseum Nürnberg. Insbesondere als Grafikspezialist hat er sich einen Namen gemacht, und von den etwa 90 Kupferstichen und Handzeichnungen her erscheinen die Gemälde noch einmal in ganz neuem Licht.

Aber wie ist das Bild, das wir von Pieter Bruegel heute vermittelt bekommen? Gibt es neue Zugänge und Sichtweisen? Das Geheimnis seines Erfolges liegt vor allem in der Spannbreite der Möglichkeiten, mit der man ihn anschauen kann. Tiefe und Oberfläche liegen dicht beieinander. Ganz vordergründig betrachtet sind seine Gemälde schöne realistische Wimmelbilder, auf denen unendlich viel passiert und die deshalb schlichtweg neugierig machen. Er ist der Urahn jener berühmten Ali-Mitgutsch-Bilderbücher, an denen sich in den letzten Jahrzehnten Generationen von Enkeln nicht satt sehen konnten. Pralles Leben, Alltagsszenen mit all dem an Hallodri und Plackerei, was nun mal Tag für Tag den größten Teil der uns gegönnten Zeit ausfüllt. Bruegel hat das Weltliche geheiligt und das sakrale Geschehen, etwa die Anbetung der heiligen drei Könige im Stall, buchstäblich an den Rand gerückt (wie in dem herrlichen Bild, das aus der Sammlung Oskar Reinharts in Winterthur nach Wien gekommen ist).

Die biblische Heilsbotschaft ist nur glaubwürdig im Hier und Jetzt, im (erstaunlich gebirgigen) Flandern des 16. Jahrhunderts. Bethlehem liegt nicht im Orient, sondern ganz selbstverständlich in einer tief verschneiten eisigen Winterwüste irgendwo in den südlichen Niederlanden. Es ist, als ob Bruegel immer wieder den Brief des Paulus habe bebildern wollen, welcher an die Philipper schrieb, dass Gott so sehr die Welt geliebt habe, dass er sich in seinem Sohn „[…] entäußerte und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie irgendein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode“ (Ph. 2; 7f). Vermittelt wurde die theologische Einstellung wohl vor allem durch Sebastian Franck, der sich immer wieder gegen aufgeblasene Autoritäten und jede Form von konfessionellem Dogmatismus wendete. Deshalb sieht der Adoptivvater Josef im Stall von Bethlehem (auf der Anbetung der Londoner National Gallery) so aus, als hätte der Philosoph Peter Sloterdijk persönlich Modell gestanden. Über eine Knollennase und seinen Schmerbauch sieht er scheel und nachsichtig auf den alten Weisen aus dem Orient herab, der sich mit seinen fettigen Zottelsträhnen in den Dreck wirft.

Der Dichter Cees Nooteboom, ein weit gereister Landsmann unserer Tage, ebenfalls ganz und gar Augenmensch und großer Kunstfreund, brachte es auf den Punkt: „Man kann die Bilder nicht betrachten, ohne eine unendliche Neugierde zu verspüren, man möchte zwischen den Menschen um den predigenden Johannes der Täufer stehen, um zu hören, was sie sagen, man möchte hinter den Bauleuten durch das düstere Labyrinth des Turms zu Babel streifen, man möchte das Heu riechen zwischen den Männern und Frauen im Gras an dem Tag, an dem das Korn geerntet wurde […]“.

In seiner Habilschrift von 1934 mit dem Titel „Die Macchia Bruegels“ wagte Hans Sedlmayr die These, dass die fleckenhafte Unkenntlichkeit der Bruegelschen Figuren, die „Geschlossenheit ihres Umrisses das anschauliche Äquivalent einer seelischen ‚Verschlossenheit‘ und Isolierung“ sei; Bruegel sei modern in dem Sinne, dass er die Erfahrung der Entfremdung, des maskenhaften Treibens und den „Charakter des sinnlos zusammengesetzten und chaotisch Durcheinandertreibenden in jenen Visionen des Wahnsinns, in denen jeder Sinnzusammenhang zerfällt“, vor Augen führe. Diese Sichtweise war zu ihrer Zeit sicherlich mutig und modern, zugleich aber doch ganz der damals existenzphilosophischen Grundströmung verhaftet.

Andererseits, es ist heute allzu leichtfertig und ungeschichtlich, in den Bildern der Menschen in dieser Weise vorschnell eine Verallgemeinerung der „conditio humana“ zu sehen. Genauso unreflektiert muss es aber erscheinen, im Zusammenhang mit Bruegels scharfer Beobachtungsgabe von „Realismus“ zu sprechen. Dieser Begriff ist, nicht zuletzt durch die doktrinäre Okkupation seitens des real existierenden Sozialismus, sowohl als ästhetische wie als historische Kategorie zu sehr aufgeweicht. Dabei ist es ganz offensichtlich, dass Bruegel das Leben der einfachen Leute, ihren übermächtigen Arbeitsalltag, der alles Spektakuläre in den Hintergrund oder an den Rand schiebt, ihre Ordinärheit und Grausamkeit, mit großer, ganz ins Neuzeitliche weisender Wirklichkeitstreue erzählt. Zugleich aber ist er doch konservativ, bedenkt man, dass er – wie Karel van Mander, der niederländische Vasari, in seinem „Schilder-Boeck“ berichtet – Italien in der Blütezeit seiner Renaissance ausgiebig besuchte. Seine Reise führte ihn über Rom und Neapel sogar bis ins sizilianische Messina. Gemessen an dem, was er zu dieser kulturgeschichtlichen Hochzeit an Anregungen durch die genialen italienischen Kollegen bekommen haben muss, ist seine Kunst erstaunlich traditionsverhaftet geblieben: der hochgezogene Horizont kosmischer Überblickslandschaften, die Simultaneität einer Überfülle von Szenen, durch die das Auge wandern muss, die eher konventionelle Maltechnik auf Eichenbohlen (statt auf Leinwand), die anhaltende Vorliebe für biblische und „nordische“ Genreszenen statt der seinerzeit längst angesagten antiken Mythologie. Wie es scheint, ist Pieter Bruegel ein schweigsamer bis widerborstiger Zeitgenosse gewesen, der nur indirekt in seinen Bildern zu erkennen gab, dass er dem Hickhack des Konfessionalismus, der Inquisition und der bäuerischen Plumpheit eine aufklärerische Gegenposition entgegenhält. Dennoch geht Bruegels „Realismus“ nicht so weit, dass er metaphysikfeindlich würde. Er ist weder der ganz dem einfachen Volk verpflichtete „Bauernmaler“ (Gombrich) noch der Bauernverächter. Es ist nicht seine Sache, aus humanistischer Position bissig moralisierend die Dummheit desselben zu dokumentieren, wie es Karl Tolnai nahelegte. Um es anders auszudrücken: Bruegel ist vielleicht in seiner Thematik und in seiner Bildsprache „realistisch“, aber keineswegs „volkstümlich“, denn, wie Brecht es einmal so treffend sagte, das Volk ist überhaupt nicht „tümlich“.

Auch die typisch reformatorische Sicht, wonach in der Hässlichkeit der äußeren Erscheinung und in der Verfallenheit an die niedrigen Triebe nur ein Beweis für die Nichtigkeit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen zu sehen ist, macht nur einen Teilaspekt aus. Kein Zweifel, die Welt ist verkehrt, verrückt, die Menschen sind blind, wie jene Bauern im Darmstädter Landesmuseum, die ausgelassen und selbstvergessen unter dem Galgen tanzen. Dieser ist selbst so unlogisch und multiperspektivisch verdreht gemalt wie ein Korkenzieher, so dass auch er zu tanzen beginnt. Das sehr spät, nämlich 1568, gemalte Bild, welches der Maler seiner Frau vermachte, ist wie der „Blindensturz“, welcher aus Neapel nach Wien entliehen wurde, in einer neueren Sicht kein Ausdruck des hämischen Zynismus, wonach eben ein Blinder keinen anderen führen sollte, sondern in neuerer Sicht ein Sinnbild der Gottsuche: Wir sind alle Blinde, die auf ihrem Lebensweg vor sich hinstolpern; und insbesondere die Selbstgefälligkeit der in Orthodoxie und konfessioneller „Eygenrichtigkeit“ Verfangenen schreit nach Aufklärung im wörtlichen Sinne.

Am ehesten sollten wir uns Bruegel also als den verschrobenen Einzelgänger vorstellen, (als) den er (sich) selbst in einer späten Zeichnung porträtierte: mit einem misstrauischen Blick, der sich halb unter borstigen Brauen versteckt, ein aufrechter Skeptizist mit erhobenem Pinsel, welcher dem „Kenner“, dem Kunstmarkt und der ganzen Welt tapfer und kritisch standhalten muss.

Dass seine Bilder in aller Regel als Überblickslandschaften gebaut sind, in extremer Aufsicht, mit Abstand und voller enzyklopädischer Fülle, zeugt im übertragenen Sinn auch von einer umfassenden Weltsicht. So auf die Verrücktheit der Welt blicken zu können, setzt eine kritische Distanz voraus, die gewissermaßen alles Treiben der menschlichen Species sub specie aeternitatis betrachtet - eine Sicht, wie sie höchstens dem weisen Philosophen oder der Nachsicht eines Menschen auf dem Sterbebett möglich ist.

Titelangaben

Jürgen Müller, Thomas Schauerte
Pieter Bruegel. Das vollständige Werk
Taschen, ISBN: 978-3-8365-5688-0, Ladenpreis 150,00 €

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