Ausstellungsbesprechungen

Kapoor in Berlin, Martin-Gropius-Bau, Berlin, bis 24. November 2013

Farbe, Form, Drama, Musik, das Sublime, Poesie, Farbperspektive, Multiperspektivität, Materialität, Immaterialität, Volumen und Negativvolumen, Bilder am laufenden Band, Inhalt – kann das wahr sein? Ist er tatsächlich so gut? Ja, es lohnt sich. Die Berliner Ausstellung des gebürtigen Inders Anish Kapoor beeindruckt sowohl Kunstkenner als auch Laien. Für jeden ist etwas dabei. Man sehe, höre und fühle – halt, das darf man nicht – aber staune, heißt die Devise. Gudrun Latten war vor Ort.

Es ist einmal wieder die Farbe, die mich täuscht, oder? Vielleicht sind es dieses Mal doch die Formen? Man kann sich nicht ganz sicher sein. Jede Perspektive lässt etwas anderes vermuten. Ständig versucht man schlauer zu sein als andere, versucht, sich nicht täuschen zu lassen. Ein veränderter Blickwinkel straft den soeben gefassten Schluss lügen. Welcher der Faktoren täuscht? Ist es das Material, die Farbe oder doch die Form? Den Blick schärfen, genauer hinsehen, sich nicht hinters Licht führen zu lassen, ist oberste Prämisse. Die Multiperspektivität erreicht bei Kapoor eine gänzlich neue Bedeutung. Jeder Standpunktwechsel lässt mich meine Ansicht neu justieren, erzählt mir etwas anderes, spiegelt mir eine andere Wahrheit vor. Welcher Standpunkt ist bloß der Richtige, welche Perspektive erzählt mir vom Schein? »The Void« entzieht sich jeglicher Entschlüsselung. Handelt es sich um Hohlräume oder sind es gefüllte geometrische Formen? Die Verführung ist groß den Test zu wagen.

Auf die Spiegel ist kein Verlass. Sie zeigen uns verschiedene Bilder von uns selbst, stets neu, stets anders. „Ich bin viele!“, kann ich nun endlich rufen. Die Skulpturen stehen in einem Dialog zu ihrem Umfeld. Doch scheint der Kontakt zur Umgebung gestört zu sein. Sie nehmen nicht das auf, was wir, die wir in diesem Raum stehen, wahrnehmen. Diese Skulpturen geben uns ein gänzlich anderes Bild von der Wirklichkeit wider. Ein Durchgang, welcher nur im optischen Bereich stattfindet. Ich bin völlig verwirrt – eine verkehrte Welt! Das geht doch nicht. Wo gehe ich hindurch? Wie gehe ich hindurch? Ich habe es genau gesehen! Die Skulptur heißt doch »The Door«.

Womit habe ich es zu tun? Was genau steht da bloß vor mir? Wie reagiere ich darauf? »The Void« und die anderen Skulpturen verbreiten eine unheimliche Stimmung. Ich weiß nicht, ob ich ihnen ausweichen muss, ob diese schwer oder leicht sind, ob ich sie umgehen muss oder einfach darüber hinweggehen kann. Vielleicht darf ich »The Void« berühren? Es ist ein Spiel mit Schein und Sein, welches getrieben wird. Es ist unmöglich, den Schein dieser Arbeiten mit dem Auge zu durchdringen. Die Unzulänglichkeit des eigenen Blickes wird mir sprichwörtlich vor Augen geführt. Es sind gänzlich neue Seherfahrungen. Noch nie hat mich das Auge derart betrogen. Das Unsichtbare hat eine Oberfläche erhalten. Kein einziger Lichtreflex lässt sich bei »Descent into limbo« erkennen. Täuscht mich nun auch der Titel?! Ich weiß nicht genau, worauf ich mich noch verlassen kann – ist es der Sehsinn, mein Verstand, meine Ohren – es ist in diesem Fall tatsächlich allein der Tastsinn, der mir Aufschluss über die realen räumlichen Verhältnisse geben könnte. Ist der Abstieg tief? Wie weit treibt er die Täuschung? Das Schreckenerregende, das Unheimliche und das Düstere, das Geheimnisvolle und die quälende Ungewissheit sind es, welche das Sublime bei Anish Kapoor ausmachen.

Die Skulptur zeitigt Rückwirkungen auf den Raum, gestaltet ihn. Auch dieser verhält sich nun ambigue. Eine der Sichtweisen vergrößert den Raum, die andere Perspektive füllt den Raum. Das Spiel mit dem Volumen, welches einst Antoine Pevsner und Naum Gabo trieben, hat eine neue Dimension erhalten. Der Dialog zwischen Form und Farbe ist bei den Skulpturen Anish Kapoors noch ausgeprägter als bei Anthony Cragg. Die Farbe, das der Malerei eigene Mittel, lässt die Skulpturen sprichwörtlich aus der Form geraten. Einmal wieder treibt er das Spiel mit Materialität und Immaterialität auf die Spitze. Es wird vom bloßen Hinsehen nicht klarer, ob die Materie dicht oder undicht ist – blickdicht ist das Ganze auf jeden Fall.

Anish Kapoor betreibt Grundlagenforschung im visuellen Bereich. Er erforscht bislang unbekannte Phänomene und beeindruckt damit ungemein. »Und schließlich war es diese Oberfläche, auf die seine Forschung sich wandte. Sie bestand aus unendlich vielen Begegnungen des Lichtes mit dem Dinge, und es zeigte sich, daß jede dieser Begegnungen anders war und jede merkwürdig. An dieser Stelle schienen sie einander aufzunehmen, an jener sich zögernd zu begrüßen, an einer dritten fremd an einander vorbeizugehen; und es gab Stellen ohne Ende und keine, auf der nicht etwas geschah. Es gab keine Leere.« So hat einst Rainer Maria Rilke über die Skulpturen Rodins geschrieben.

In der Tat scheint es sich bei Anish Kapoor um den würdigen Nachfolger von Auguste Rodin zu handeln, denn auch bei ihm findet sich eine originelle Behandlung der Oberfläche. Es bricht sich kein Licht auf dem Fiberglas und dem Pigment. Samtig weich muss sie sich anfühlen. Matt muss sie sein. Zudem hat die Oberfläche eine neue Tiefe erhalten. Kurz: Diese Skulpturen sind nicht nur abstrakt, sie besitzen Inhalt. Auch dies ein Aspekt, der sich mit der Form und ihrer Täuschung erst einmal in Einklang bringen lassen muss. „It’s bigger on the inside“, meine ich nach eingehender Beschäftigung behaupten zu können.

In Anlehnung an El Lissitzkys Entwürfe zu Malevitsch’s »Dem Sieg über die Sonne« schuf Kapoor eine Installation im Lichthof des Gropius-Baus. Die Farbe Rot nimmt bei ihm einen hohen Stellenwert ein. Dem Wachs steht die Farbe – es wirkt, als sei es an manchen Stellen frisch auseinandergebrochen, an anderer Stelle bereits eingetrocknet. Ein regelrechtes Trompe-l'œil, scheinbar lebendig, als sei es aus Fleisch und Blut gefertigt. Die Arbeit »Wound« bestätigt diesen Eindruck. Der gemalte Lichtreflex auf der Sonne kann sowohl optische Tiefe als auch einen optischen Hohlraum bezeichnen – das hängt ganz vom Standpunkt ab. Die Perspektive kommt nun endlich zum Tragen. Es ist interessanterweise eine Farbperspektive, für welche sich Anish Kapoor entschieden hat.

Sehr viel Musik und sehr viel Poesie wohnen dieser Arbeit inne. Lange war es ein Geheimnis, wie die Installation wohl aussehen würde. Nun fällt von den vier Fließbändern kein Wachs mehr auf den Boden, es ist ausgegangen. Aber ist die Installation dadurch fertig? Ein gewaltiges Naturereignis scheint zu einem Ende gekommen zu sein. Aus dem Untergrund wurde das rote Wachs magmaähnlich auf Förderbändern ans Tageslicht gekarrt, unter der Sonne ausgebreitet. Die Maschinen erledigten den Rest. Fließbänder und eine richtige Kanone formten und fertigten »Shooting into the corner« und »Symphony of a beloved sun«. Könnte man die Arbeit als eine Écriture automatique bezeichnen? Aber nein! Das ist ein Jackson Pollock dreidimensional und ich darf während des Drippings anwesend sein, live – mit Ton, Farbe und Bewegung, nur der Künstler fehlt. Auch die wächserne Glocke ist einfach nicht fertig geworden. Sie verharrt in ihrer Form, ist Gussform und Skulptur zugleich.

Es nimmt einfach kein Ende bei Anish Kapoor: Oper, Glamour, Glanz, Schein, Architektur, Abstrakter Expressionismus, Minimalismus, Stein, Stahl, Wachs, Pigment, PVC und High-Tech-Material, Tradition, ausgereifte Technik…. Nur noch wunderbar! Skulptur aus vollem Rohr geschossen.

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