Ausstellungsbesprechungen

Ken Aptekar – Nachbarn, Museum St. Annen Lübeck, bis 29. Mai 2016

Die einmalige Nachbarschaft eines christlichen Klosters zu einer Synagoge nahm der amerikanische Künstler Ken Aptekar zum Anlass, eine Ausstellung über die Begegnung der Kulturen zu konzipieren, in der er mittelalterliche Kunst neu malt und mit neuen Aufschriften versieht. Stefan Diebitz hat die anregende Ausstellung besucht.

Der 1950 geborene Ken Aptekar versteht sich als ein Konzeptkünstler, zu dessen Markenzeichen seine ganz spezielle Beschäftigung mit der Geschichte der Kunst geworden ist: Er malt Bilder neu. Als er das St. Annen-Museum besuchte, fiel ihm in Lübeck die (in Europa wirklich einmalige?) Nähe von Kloster und Synagoge ins Auge. So entstand das Konzept dieser Ausstellung, die vielleicht noch nach England und in die USA gehen wird; abgemacht ist noch nichts, aber das Museum war optimistisch genug, den Katalog gleich zweisprachig zu drucken.

Direkt neben dem spätgotischen St. Annen-Kloster, das seit mehr als einhundert Jahren schon als höchst eindrucksvolles Museum der mittelalterlichen Kunst dient, steht die Lübecker Synagoge, die sich leider nie von dem ihr 1938 zugefügten Brand erholt hat. Heute ein eher schlichtes Gebäude, wurde sie 1904 als ein prachtvolles Gotteshaus im maurischen Stil errichtet, das viele Lübecker gerne wiederhätten – nur gibt es offensichtlich niemanden, der einen derartig anspruchsvollen Um- oder Rückbau finanzieren könnte.

Das St. Annen-Museum zeigt mittelalterliche Kunst und besonders Altäre. Aptekar hat diese alten Altäre genauestens untersucht und schließlich einige mittelalterliche Retabel ausgesucht, fotografiert, ihre Bilder anschließend selbst neu gemalt und dazu die alten Schriftbänder mit Computerhilfe durch eigene Sätze ergänzt und variiert. Diese neuen Schriftbänder befinden sich nicht auf dem Bild, sondern wurden auf eine dicke, jeweils ungefähr 25 Kilogramm schwere Glasscheibe gesandstrahlt, die in Paris gefertigt wurde. Alle diese Glasscheiben spiegeln stark, so dass sich der Betrachter – vom Künstler ist das aber gewünscht – selbst betrachten kann oder sogar betrachten muss.

Es war besonders die Geschichte der Familie Carlebach, die Aptekar beschäftigte. Der in Lübeck hoch angesehene Rabbi Salomon Carlebach, unter dessen Ägide die Synagoge so exotisch-prachtvoll und dazu an einem so zentralen Ort errichtet werden konnte, war 1919 verstorben und musste deshalb nicht mehr miterleben, was der Familie seines Sohnes Simson widerfuhr, die zunächst unter den Bedingungen des Krieges schwer zu leiden hatte, bis sie 1942 nach Lettland verschleppt und dort ermordet wurde. Diese Geschichte erzählt Aptekar in insgesamt sechs ursprünglich sakralen Bildern mit neuen Aufschriften, die den Anspruch erheben, vollkommen zu den Bildern zu passen, also eine alte Form mit einem komplett neuen Inhalt zu versehen. Das gelingt auch wirklich; aber die lateinischen Lettern harmonieren nicht besonders gut mit den alten Bildern.

Besonders schön ist diese Geschichte: Kurz vor ihrer Verschleppung hatte die Familie schwer unter den für Juden besonders kargen Lebensmittelrationen zu leiden. Aber es gab Nachbarn, die ihnen halfen, und als die Carlebachs abgeholt wurden, befestigten sie zum Zeichen des Dankes noch ein Tuch mit einem aufgestickten Monogramm am Gartentor, wo die Nachbarn ihre Gaben niedergelegt hatten. 1985, als mit Felix Carlebach ein Nachkomme Lübeck besuchte, überreichte ihm eine im Katalog nicht näher geschilderte Frau das Tuch mit den Worten: »Unsere Eltern waren Nachbarn. Ich habe etwas mitgebracht, das Ihnen gehört.« Dieses Tuch kann man jetzt unter Glas in der Ausstellung anschauen, und außerdem fand Aptekar ein passendes Gartentor auf einem Bild von 1520, so dass er diese Geschichte perfekt illustrieren konnte.

Die aus sechs Stücken bestehende »Carlebach-Folge« ist nur ein Teil der Ausstellung, wenngleich vielleicht ihr wichtigster. Glanzstück ist sonst noch »der zwölfjährige Jesus im Tempel«, Liebermanns zunächst skandalumwittertes Jugendwerk von 1879, das er nur kurze Zeit später den Erfordernissen seiner Umgebung anzupassen wusste. Besaß nämlich der Jesusknabe zunächst wirklich das Aussehen eines jüdischen Jungen, so nahm der spätere Malerfürst diese für den germanischen Geist ganz unerträgliche Provokation zurück und verschaffte dem Heiland ein deutsches Aussehen und vor allem schönes blondes Haar. Leider mochte oder konnte die Hamburger Kunsthalle dieses Bild nicht ausleihen – es sei für das Haus essentiell, ließ man mitteilen. (In den nächsten Wochen wird ja die ständige Ausstellung in Hamburg nach Renovierung und Umbau wieder zugänglich gemacht.)

Auf Aptekars Bearbeitung des Gemäldes kann man in dicken Majuskeln lesen »Die Juden in der St. Annen-Kirche« – das ist immerhin der Ort, an dem heute die Kunsthalle zu finden ist und wo sich also auch dieses Bild selbst befindet. Der Grundriss der St. Annen-Kirche spiegelt noch heute die Geschichte dieses Ortes, denn die Betonmauern der Kunsthalle sind an der Stelle der alten Mauern errichtet, und auch die Fenster sollen an das ursprüngliche gotische Bauwerk erinnern. Fast direkt neben der Bearbeitung von Liebermanns Werk hängt das Bild einer Synagoge mit der Aufschrift »Die Juden in der Synagoge nebenan«.

Als Aussage ist das alles ebenso wahr wie auch ein wenig platt, aber es gewinnt durch die Intensität der mittelalterlichen Malerei – diese ist so etwas wie das Transportmittel der Emotionen, wegen ihrer leuchtenden Farbigkeit und wohl auch dank der gelegentlich verzeichneten und meist fremdartigen Gesichter. Weil der Künstler das nachbarschaftliche Zusammenleben von Deutschen, Russen und Türken im heutigen Lübeck im Auge hatte, finden sich neben jedem Exponat die Erklärungen in vier Sprachen: Deutsch, Englisch, Russisch und Türkisch.

Besonders sympathisch scheint das Vertrauen des Künstlers in eine von Theorien oder Wissen nicht gestützte Begegnung mit Kunst. Aptekar legt Wert darauf, dass man nicht viel wissen muss, um auch einem exotischen oder sonst schwer verständlichen Kunstwerk begegnen zu können, denn schließlich gibt es ja auch eine Ebene der einfachen Menschlichkeit, und so sprach er angesichts der jüdischen Leiden von »sadness« oder »tristesse« und machte deutlich, dass es ihm ganz wesentlich auf den Ausdruck von Stimmung (»mood«) ankomme. Und um diese wahrzunehmen, muss man sensibel und offen sein, aber eben nicht viel wissen.

Die zweite Hälfte der Ausstellung wird von Silberstiftzeichnungen auf schweren Glasplatten bestimmt, die ebenfalls nachbarschaftliche Verhältnisse thematisieren. »Wir machen Urlaub. Würdet Ihr bitte in unserem Briefkasten nach Post und Zeitungen sehen?«, lautet zum Beispiel ein Text, den man vielleicht nicht unbedingt in diesem Rahmen und derart kunstvoll auf schwerem Glas lesen müsste. Endlich muss noch ein Video angesprochen werden, in welchem der 1936 nach Chile ausgewanderte Rodolfo Hoffmann, von Aptekar interviewt, über seine Kindheit und Jugend in Lübeck berichtet. Erst 1933, so Hoffmann, habe er gelernt, sich als Juden zu verstehen – seine Familie sei vollständig assimiliert gewesen.

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