Ausstellungsbesprechungen

Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik, Hamburger Kunsthalle, bis 13. März 2011

Neben Caspar David Friedrich ist Philipp Otto Runge (1777 – 1810) der bedeutendste Maler der deutschen Romantik, aber er ist nicht nur ungleich weniger populär als sein Kollege, mit dem er einige Jahre gemeinsam in Dresden verbrachte, sondern viele Kunstinteressierte stehen seinem Werk eher skeptisch oder gar ablehnend gegenüber. Eine große Ausstellung seines Gesamtwerks, die am zweihundertsten Todestag des Künstlers eröffnet wurde, soll den Maler jetzt wieder etwas mehr in den Mittelpunkt rücken und ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Stefan Diebitz ist von Umfang und Qualität der Schau ebenso beeindruckt wie von der Vielseitigkeit des Künstlers.

1974 und 1976 sorgte mit Werner Hofmann der damalige Direktor der Hamburger Kunsthalle mit zwei großen, weithin beachteten Ausstellungen dafür, dass Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Beide Künstler gehören seit langem mit zahlreichen Werken zum Bestand des Hauses; für Runge kann die Kunsthalle sogar beanspruchen, den weitaus größten Teil seines malerischen Werkes zu besitzen, denn schließlich erwarb bereits Alfred Lichtwark, seit 1886 ihr erster Direktor, systematisch Bilder des in Wolgast geborenen Künstlers, der entscheidende Jahre in Hamburg verbracht hat.

Hofmanns Ausstellung setzte sich das Ziel, Runges Werk in den Kontext der Zeit zu stellen, wogegen jetzt am selben Ort der »Kosmos Runge« dargestellt werden soll. Das ist ebenso wie der auf das berühmte Bild anspielende Untertitel zweideutig, denn „Kosmos“ kann einmal bedeuten, dass das Gesamtwerk Runges gezeigt wird – ein angesichts seines frühen Todes erstaunlich vielgestaltiges Werk –, auf der anderen Seite wird damit aber auch auf die religiöse bzw. weltanschauliche Position des Künstlers angespielt, der seine künstlerische Existenz nicht von seiner Religiösität getrennt sehen wollte.

Zu den auch heute noch bekanntesten Leistungen Runges gehört die Farbenkugel, der am Ende der Ausstellung mit zwei didaktischen Räumen gehuldigt wird, aber eigentlich kam er von der Linie her, denn als Jugendlicher übte er sich in der Mode der Zeit, dem Scherenschnitt, den er virtuos beherrschte. Später wurde er schnell ein versierter Zeichner. Schon aus seiner Zeit an der Kopenhagener Akademie – er verließ sie bald, unzufrieden mit dem Unterricht – sind zahlreiche Kreidestudien erhalten, die im ersten Raum vor einem roten Hintergrund gezeigt werden. Diese Farbe wie alle anderen ist, versichern die Kuratoren, eine Farbe des späten 18. Jahrhunderts und deshalb historisch; die Zeichnungen Runges werden also präsentiert wie zu seiner Zeit künstlerische Arbeiten in den Akademien. Der Effekt ist außerordentlich und keinesfalls zu bunt oder gar marktschreierisch, denn die Zeichnungen kommen auch und vielleicht sogar nur dank der Farbigkeit des Hintergrundes so wunderbar und vor allem so plastisch zur Geltung.

Dieser letzte Aspekt ist besonders wichtig, denn schon in seinen frühen Arbeiten wird die besondere Begabung Runges für die dritte Dimension sichtbar. Man mag es zunächst nicht wahrhaben, aber »Der Triumph des Amor« von 1802, auf den ersten Blick ein Gipsrelief und nahezu monochrom, ist tatsächlich ein Ölgemälde. Die Illusion ist fast perfekt, denn die Figuren scheinen aus der Fläche herauszutreten und Schatten zu werfen. Markus Bertsch hat im Katalog unter dem Stichwort „Die Dimension des Haptischen“ wertvolle Beobachtungen zu diesem Charakterzug der Rungeschen Kunst zusammengestellt. Nicht allein in dem frühen Ölgemälde, sondern auch in einem anderen seiner Hauptwerke, in der »Lehrstunde der Nachtigall«, wusste er die Illusion eines Reliefs hervorzurufen. Bei diesem zweiten Beispiel handelt es sich um eine Arabeske, die einen Holzrahmen vortäuscht.

Runge hat auch als Porträtist Hervorragendes geleistet, zunächst in zahlreichen Familienbildern, also in den Porträts seines Bruders oder seiner Frau oder in dem bekannten Gemälde, das seine sehr ernsten und in sich gekehrten Eltern zeigt, aber auch in »Die Heimkehr der Söhne« von 1800/1801, das seine Abkehr vom Klassizismus und die Hinwendung zu einer persönlicheren Bildkonzeption ankündigt. Dazu kommen seine zahlreichen unprätentiösen Selbstporträts, in denen er sich selbst mehrfach als Denker darstellt, den Kopf in die Hand gestützt: ein wichtiger Hinweis auf sein Selbstverständnis als konzeptionell arbeitender Künstler. Im Eingang zur Ausstellung sind die Wände mit Zitaten bedeckt, und die zahlreichen, oft äußerst sorgfältigen Vorarbeiten nicht allein zu seinen Hauptwerken dokumentieren Runges Arbeitsweise, die von theoretischen Überlegungen ebenso bestimmt war wie von peniblen Detailstudien. Der Katalog zeigt, wie viel Ideologie in den Bildern Runges steckt, wie viel Geometrie und überhaupt Berechnung – ein Aspekt, den sie mit den Werken Friedrichs gemein haben.

Ein schönes Beispiel ist die Konstruktion einer Kornblumenblüte, die an eine gotische Fensterrosette erinnert, ein anderes durchkonstruiertes, mit Symbolik sogar überfrachtetes Kunstwerk ist »Die Lehrstunde der Nachtigall« nach einem Gedicht Friedrich Gottlieb Klopstocks, in dem sich vielfache Korrespondenzen zwischen dem arabesken Rahmen und dem Binnengeschehen ergeben. Es ist also ein wenig wie in einer romantischen Rahmennovelle, wenngleich Johannes Grave im Katalog zu Recht darauf hinweist, dass die Lektüre einer Novelle sich ganz anders als das Anschauen eines Gemäldes vollzieht, bei dem das Auge sich zwischen dem Rahmen und dem eigentlichen Bild hin- und herbewegt. Von einer Illustration des Gedichtes kann bei diesem Bild eigentlich gar nicht gesprochen werden, sondern es handelt sich um eine sehr freie, von Klopstock angeregte Variation des Themas. Der Vogel etwa taucht allein im Rahmen auf und spiegelt das Geschehen bzw. verweist auf das Gedicht, im Gemälde selbst aber unterrichtet nicht ein Vogel einen anderen, sondern eine junge Frau, den Finger belehrend erhoben, einen kleinen Amor. Bei der Dame handelt es sich um Pauline Bassenge, Runges spätere Ehefrau. Ohne den Titel würde man nicht ohne weiteres auf Klopstocks Gedicht kommen.

In seinem jüngst erschienen Buch über die phantastische Kunst (»Phantasiestücke«) hat niemand anderes als Werner Hofmann Runge vorgeworfen, „immer wieder das Weltgeschehen in lückenlose, kohärente Systeme“ zu pressen, und eben dies geschah nicht allein mit den Mitteln der Geometrie, sondern vor allem auch mit der Arabeske. „Runges Gedanke“, schreibt Hofmann, „mit Hilfe der Arabeske […] sein kosmisches System mit Leben zu erfüllen, erwies sich als anachronistische Spekulation, als mißglückte Häufung und Addition der Bedeutungsebenen“. Mich erinnert sein Vorhaben an »Das Christentum und Europa« von Novalis, das Runge aber vermutlich nicht gekannt hat – dieser kurze, das Mittelalter beschwörende Essay wurde, obwohl bereits 1799 geschrieben, erst 1826 veröffentlicht, lange nach dem frühen Tod seines Verfassers wie dem Runges. Allerdings kannte Runge Tieck, den engen Freund und poetischen Nachlassverwalter Hardenbergs, und die Ausrichtung vieler Arbeiten von Runge auf Christus wäre ganz in Novalis’ Sinn gewesen.

Trotz der wohl zutreffenden Einwände Hofmanns übt das eigenartige Bild gerade auch wegen des Rahmens einen großen Reiz aus, was mit der Meisterschaft des Künstlers zu tun hat, der damit die fast perfekte Illusion einer räumlichen Tiefe schuf, in der wir das eigentliche Bild erblicken. Wer würde angesichts seines bukolischen Motivs oder der pausbäckigen Genien an einen Künstler der Romantik denken, wenn er nichts über Runge wüsste? Amor und junge Frau deuten eher auf die Lyrik des 18. Jahrhunderts.

Runges Werke verweisen nicht allein zurück, sondern auch weit in die Zukunft. Ist es ganz abwegig, angesichts von Meisterwerken der Frühromantik an den Jugendstil zu denken? Aber vieles erinnert wirklich daran, was sowohl mit der großen Bedeutung der floralen Ornamentik als auch mit den Umrisszeichnungen zu haben muss, etwa den Zeichnungen, die Runge für die Illustration des »Ossian« vorgesehen hatte. Auch »Arions Meerfahrt«, eine Federzeichnung, erinnert an den Jugendstil. Dazu kommt die Farbgestaltung anderer Bilder, etwa die Goldfarben in der Mitte des »Morgen«. Die ganze Stimmung dieses Bildes verweist auf eine Zeit hundert Jahre später. Endlich gehört die Affinität des Künstlers zur Gebrauchskunst zu den Gemeinsamkeiten.

In den »Hülsenbeckschen Kindern« zeigt sich ebenfalls ein Maler, der seiner Zeit voraus ist, aber jetzt in einer ganz anderen Weise; Kinder haben vor ihm nur wenige in einer ihnen wirklich entsprechenden Weise dargestellt. Es sind lebendige Kinder, die wir dort sehen, und doch ist auch dieses Bild durchdacht und durchkomponiert – viel mehr, als man im ersten Augenblick meint. Denn jedes der drei Kinder ist nicht allein Individuum, sondern auch Vertreter einer bestimmten Phase der Kindheit oder des Erwachens, und damit schließt das Bild an den »Triumph des Amor« an, in dem die verschiedenen Epochen der Liebe dargestellt werden. Diese Auffassung eines den Kosmos mit einbeziehenden organischen Lebensrhythmus ist typisch für das Weltbild Runges, und deshalb scheint es schlüssig, dass die Darstellung „zyklischer Bewegungen“, von denen Christian Scholl in seinem Beitrag zum »Morgen« spricht, das eigentliche, vielfach varrierte Thema Runges ist.

Was an den »Hülsenbeckschen Kindern« irritiert, erschließt sich dem Betrachter erst nach einer Weile: es ist der rechte Arm des ganz rechts stehenden Kindes, der zu kurz zu sein scheint und an dessen Ende – fast genau in der Mitte des Bildes! – eine ziemlich verzeichnete Hand sitzt, die nach einer Kugel greift. Es ist kaum möglich, den kleinen Finger willentlich so abzuspreizen, wie es die kleine Kinderhand vorführt, und dass es unwillkürlich geschieht, kann man direkt ausschließen. Eigenartig, dass ein exzellenter Zeichner, der in seinen Bildern der Hand eine so große Bedeutung zuspricht, ausgerechnet an dieser buchstäblich zentralen Stelle versagt!

Runges Menschendarstellungen zeigen meist kaum Emotion; allein in »Die Heimkehr der Söhne« kann man sie in einer eigentlich theatralischen Szene finden. Umso bewegender muss dann eine seiner letzten Arbeiten überhaupt sein, das Porträt der »Sophia Sieveking auf dem Sterbelager«, mit dem ihn die Mutter der Todkranken beauftragt hatte und das zusammen mit mehreren Studien sehr schön von Mareike Hennig geschildert wird: „Im Weiß der Laken und Decken und vor dem in weichen Schraffuren abgedunkelten Hintergrund zieht das Gesicht der todkranken 19-jährigen den Blick an. Der Körper verschwindet in den Stofffalten, er ist kaum mehr vorhanden. Im Gesicht jedoch ist noch Leben: Die Lippen sind leicht geöffnet, die langen Wimpern scheinen zu flattern, dunkle Löckchen kräuseln sich über dem Ohr, mit schwarzer und brauner Kreide und einem hell belassenen Streifen gibt Runge dem Haar Glanz.“

Schon dieses Bild, gezeichnet von einem selbst dem Tod ins Auge blickenden Künstler, vermag zu bewegen; noch mehr aber tut das eine Bleistiftstudie, die den nackten Leichnam des völlig ausgezehrten Mädchens schonungslos darstellt – wir sollten bedenken, dass der Künstler selbst an eben der Krankheit litt, die das Mädchen hingerafft hatte.

Aber auch mit diesem Bild ist noch nicht der ganze Runge erfasst; es kommen noch Räume mit Scherenschnitten (darunter wahre Wunderwerke an Filigranität; gröbere Figuren hat er angeblich geschnitten, ohne auf seine Finger schauen zu müssen) und mit angewandter Kunst – selbst Spielkarten hat er entworfen oder Raumschmuck, der naturgemäß mit den Häusern wieder verschwand. Auch hätte Runge gern einen der Bestseller des 18. Jahrhunderts, den »Ossian«, illustriert, und hatte sich bereits hunderte von Stellen notiert, die dafür in Frage kamen. Und endlich seien noch seine zahlreichen, in der »Amaryllis« von 1808 kumulierenden Blumenbilder und –zeichnungen genannt. Alle diese so verschiedenen Aspekte seines Werkes, das in wenig mehr als zehn Jahren eines kurzen Lebens entstand, werden in der Ausstellung (und entsprechend im Katalog) fast durchgängig als „work in progress“ mit unzähligen Vorarbeiten, Skizzen und Detailstudien vorgestellt. Ihrem Titel wird diese Ausstellung damit ganz ohne Zweifel gerecht.

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