Buchrezensionen

Krämer, Steffen: Herrschaftliche Grablege und lokaler Heiligenkult. Architektur des englischen Decorated Style, Deutscher Kunstverlag, Berlin 2007.

Eine grundlegend neue Sicht auf die gotische Baukunst des Decorated Styles in England verspricht das umfangreiche Werk von Steffen Krämer, das 2004 als Habilitationsschrift eingereicht wurde.

Der Autor hat sich dem Thema in jahrelanger Arbeit auf eine neue Weise genährt: Statt wie bislang üblich nach übergeordneten Stilbegriffen zu suchen, stellt er repräsentativ einige der wichtigsten Bauten dieses Baustils ins Zentrum seiner Untersuchung.

Der Decorated Style ist eine Phase der englischen Gotik, die von etwa Mitte 13. Jahrhundert bis Mitte / Ende 14. Jahrhundert angesetzt wird. Eingeführt wurde die Bezeichnung Anfang des 19. Jahrhunderts von dem englischen Architekten Thomas Rickman. Dekorative Stilisierungen, reiches Ornament und große Maßwerkfenster überziehen die Bauten des Decorated Styles, es »herrscht eine derart verwirrende Mannigfaltigkeit architektonischer Ideen und Entwürfe vor, wie man sie selbst in den anderen Perioden der englischen Gotik nicht antrifft« (S. 11).

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Weiter ist die Bestimmung dieser Bauphase jedoch noch nicht gekommen; in der Forschung herrscht nach wie vor Uneinigkeit nicht nur darüber, wann Beginn und Ende dieser Ausprägung der englischen Gotik anzusetzen sind, sondern auch darüber, was eigentlich als Decorated Style verstanden werden soll. Zwar sind solche Differenzen gerade in der Mittelalterforschung nichts Unbekanntes, allerdings sind sie nach Krämer beim Decorated Style grundlegenderer Natur. In einem Überblick über die Rezeption des Stilbegriffs seit Thomas Rickman zeichnet er die Problematik nach: Rickmans Analyse stellte nicht wissenschaftliche, sondern architektonische Details in den Vordergrund; seine Stildefinitonen waren für die kunsthistorische Forschung zu ungenau. Im Laufe der Zeit wurden seine Begriffe daher immer wieder neu und unterschiedlich gedeutet.

Einig ist sich die Forschung nur über die außerordentliche Vielfalt der Erscheinungsformen des Decorated Styles sowie über die besonderen Leistungen individueller Baukünstler. Nach Krämer ist es jedoch hinderlich, »Stilvielfalt und baukünstlerische Individualität zu Hauptkennzeichen des Decorated Styles zu erklären« (S. 43), da so die eigentlichen Hintergründe für die Entwicklung dieser Bauweise nicht erschlossen werden. Die individuellen Fähigkeiten eines Baumeisters sagen nur etwas über das jeweilige Werk aus, jedoch nichts darüber, warum die variantenreichen Gestaltungsformen gewählt wurden und warum der Wunsch nach dekorativer Formenvielfalt bestand. Eine zentrale Rolle spielt dabei, so Krämers These, die Funktion der Bauten, die die Baugestalt und ihre künstlerische Artikulierung beeinflusst. Mit dem Mittel der historisch-formalen Interpretation fragt er »nach jenen Ursachen, die dieser künstlerischen Eigenwilligkeit [der Baukünstler des Decorated Styles] zugrunde liegen« (S. 54), um zu einem besseren und grundlegenderen Verständnis des Decorated Styles zu gelangen.

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Dazu bespricht der Autor beispielhaft vier bedeutende Bauten des Decorated Styles, die nach ihren Baufunktionen ausgewählt wurden: Der Chor der ehemaligen Stiftskirche in Bristol und der Chorumbau der ehemaligen Abteikirche in Tewkesbury sind beide wichtige Adelsgrablegen. Darauf folgen der Engelschor der Kathedrale von Lincoln, eines der bedeutenden Neubauprojekte des Decorated Styles und der Retrochor von Wells, ein kontrovers diskutierter Bau und eine der ungewöhnlichsten Lösungen der Spätphase des Decorated Styles (S. 266). Beide Bauten sind wichtige Standorte in lokalen Heiligen- und Reliquienkulten.

Den Analysen voran geht jeweils ein ausführlicher Überblick über die Entwicklung und die Struktur der herrschaftlichen Grablege im Mittelalter sowie über den mittelalterlichen Heiligen- und Reliquienkult im für die Untersuchung relevanten Rahmen. Exemplarisch herangezogen werden darüber hinaus zahlreiche weitere Bauten, die die Analysen über die vier in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellten Bauten hinaus illustrieren.

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Krämers Ansatz bietet eine grundlegend neue Sicht auf den Decorated Style, die er Schritt für Schritt entwickelt und gut fundiert. Er bietet mehr als genug zusätzliche Hintergrundinformationen, die das Verständnis dieser Epoche erleichtern. Dieser Deutungsansatz könnte zudem, so der Autor, auch auf die gesamte gotische Baukunst in England ausgeweitet werden könnte. Mit Sicherheit wird seine Arbeit für Diskussionsstoff sorgen und neue Deutungsweisen und Verständnismöglichkeiten der Gotik in England eröffnen.

Ein umfangreicher Bildteil mit über 220 Schwarzweiß-Abbildungen ergänzt den Text. Darüber hinaus finden sich im Anhang ein umfangreiches Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der verwendeten mittelalterlichen Schriftquellen sowie deutsche Übersetzungen der zitierten lateinische Textpassagen und ein kleines Orts- und Personenregister.

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