KunstGeschichten

KunstGeschichte: Almstation

Unheimlich, was man unter Drogen alles auf einem Bild zu sehen glaubt. Lesen Sie in der neuen KunstGeschichte von Erich Wurth über die trügerische Wahrnehmung eines Amputationspatienten.

Nur zur Warnung: In dieser Geschichte passiert eigentlich überhaupt nichts. Wenn Sie also „actionreiche“ Texte lieben, lesen Sie erst gar nicht weiter.
Diese Geschichte befasst sich nämlich nur mit den Veränderungen, die der Eindruck eines Kunstwerks durch geänderte Bewusstseinszustände erfahren kann. Und diese Veränderungen können sowohl beängstigend als auch heiter sein.

Unseren Protagonisten wollen wir Hans Neuner nennen. Er wohnte am Stadtrand von Wien, knapp außerhalb der Stadtgrenze, war verheiratet mit Martha und besaß mit Terry einen kleinen Hund von undefinierbarer Rasse, der einem Cairnterrier ähnelte und bereits ein alter Herr war.
Hans bekam eines Tages Probleme beim Gassi gehen.
Eine bleierne Müdigkeit seines linken Beines machte sich plötzlich bemerkbar und nach Hause kam er nur, indem er mehrere Pausen einlegte.
Daheim begann das Bein zu schmerzen und zwei Tage später entschloss sich Hans, den Arzt aufzusuchen. Doktor Bäcker schickte ihn zum Ultraschall und dort stellte man den fast völligen Verschluss der Hauptarterie fest.
Damit war Hans in die Fänge des österreichischen Gesundheitswesens geraten. Erst wurde er ins Krankenhaus „Rudolfsstiftung“ im dritten Gemeindebezirk eingewiesen, dort operiert und nach einer Woche wieder entlassen. Nur: Die Operation hatte nichts gebracht. Erneut trat der Arterienverschluss auf.

Der praktische Arzt von Hans tat sein Möglichstes. Dreimal pro Woche setzte er dem Hans in dessen Wohnung eine Infusion. Es nützte nichts.
Natürlich tat Hans der linke Huf beinahe permanent höllisch weh. Doktor Bäcker verschrieb Schmerzmittel. Dann stärkere Schmerzmittel und am Ende landete Hans bei Opiaten.

Daraufhin begann Hans nachts Gespenster zu sehen. Doktor Bäcker warnte vor unüberlegtem Gebrauch des Medikaments, aber Hans fraß das Zeug doch im Übermaß, weil ihm sein Bein gewaltig zu schaffen machte.
Musste er nachts einmal raus (was ohnehin nur mehr mit Krücken möglich war), fand er bei seiner Rückkehr sein Bett besetzt. Alle möglichen Typen lagen da drin. Türken, Araber, einmal eine sehr dicke, verschleierte Frau. Hans machte sich nichts draus und legte sich dazu. Nur einmal weckte er seine Frau und bat sie, den hässlichen, alten Zigeuner raus zu schmeißen. Worauf seine Frau die Bettdecke aufhob – und der Zigeuner war weg.

Das ging etwa einen Monat so weiter. Hans' Bein verfärbte sich immer mehr, interessante Blautöne dominierten, die Durchblutung wurde immer schlechter. Hans fraß Opiate am laufenden Band. Und plötzlich konnte er nicht mehr artikuliert sprechen.
Doktor Bäcker wies ihn ins Krankenhaus Mödling ein. Dort vermutete man einen Schlaganfall und karrte Hans ins Krankenhaus Tulln, wo man auf Schlaganfallpatienten spezialisiert ist. Zwar besserte sich dort Hans' Sprache, aber nicht sein Bein. Man verlegte ihn weiter: In die Klinik der Landeshauptstadt Sankt Pölten.

Hans war also in die Maschinerie des Niederösterreischischen Krankenanstaltverbundes geraten. Das bedeutete, dass seine Frau über 60 km weit fahren musste, um ihn zu besuchen. Und da Martha sonst nur selten Auto fuhr, stand Hans immer Ängste aus, wenn er seine Frau auf der Autobahn wusste.
Die Klinik Sankt Pölten ist ein hochmodernes Krankenhaus mit allen Behandlungsmöglichkeiten. Nur die chirurgische Abteilung ist noch in einem alten Trakt aus dem 19. Jahrhundert untergebracht. Dort lag Hans im zweiten Stock in einem sehr engen Dreibettzimmer. Er hatte das mittlere Bett. Rechts von ihm lag ein pensionierter Fahrdienstleiter mit Nierenproblemen, die Patienten im Bett links neben dem seinen wechselten rasch.

Vor allem war Hans froh darüber, dass es die Glanzstoffwerke nicht mehr gab. Von seinen früheren Aufenthalten in Sankt Pölten wusste er, dass die gesamte, 52.000 Einwohner zählende Stadt von dem bitteren, Ekel erregenden Gestank dieser Fabrik erfüllt gewesen war. Die sehr ansprechende, barocke Altstadt zog daher nicht viele Touristen an. Und die Klinik befand sich noch dazu in unmittelbarer Nachbarschaft der Glanzstoffwerke. Jetzt war die Atmosphäre nach der Pleite der Fabrik aber glücklicherweise nicht mehr belastet.

Unmittelbar gegenüber dem Bett von Hans hing ein seltsames, recht buntes Bild. Erkennen konnte man nicht viel darauf. Es schien sich um eine Art Landschaft zu handeln und am rechten Rand stand eine hohe Gestalt, nur ganz ungefähr einem Menschen ähnlich.
Schon am Tag nach seiner Ankunft in der Klinik Sankt Pölten wurden Hans zunächst einmal sämtliche Zehen des linken Fußes amputiert, was problemlos verlief. Nur nach seiner Rückkehr aus dem OP sah das Bild in seinem Zimmer anders aus.
Hans war sich nicht klar: War das Bild ausgetauscht worden?

Am nächsten Tag kam Martha zu Besuch. Es war reichlich warm und Hans machte sich Sorgen um den Hund, der im Auto wartete. Aber seine Frau beruhigte ihn. Sie werde alle zwanzig Minuten nach Terry sehen.
Als sie vom Parkplatz zurückkam, sah das Bild schon wieder anders aus. Hans machte Martha darauf aufmerksam: „Das Bild da drüben verändert sich. Kannst bitte nachschauen, wie die das machen?“
Martha stand auf, sah das Bild an und verließ dann wortlos das Krankenzimmer. Sie kam aber gleich wieder und hatte eine Krankenschwester dabei.
Diese sah sich Hans an, maß den Blutdruck und beruhigte dann die Martha. Solche Halluzinationen wären nach einer Operation nichts Außergewöhnliches. Damit verschwand sie.
Martha nahm das Bild von der Wand und reichte es Hans. „Aquarell“, erklärte sie. „A ganz normales Bild. Da kann sich nix ändern dran!“

Hans betrachtete das Blatt, das eine Glasplatte bedeckte. Tatsächlich. Die Signatur konnte man zwar nicht lesen, allerdings stand unterhalb der schwungvollen Unterschrift „Almstation“.
„Siehst du da Berg' drauf?“, fragte Hans leicht verblüfft. „Wie der Maler auf so was wie a Alm kommt, is mir a Rätsel!“
„Halt surreal“, meinte Martha und hängte die Almstation wieder an die Wand.
Es war bisher recht bewölkt gewesen, aber jetzt hatten sich die Wolken verzogen.
„Der Wagen steht wahrscheinlich in der prallen Sonn'“, meinte Martha nach einiger Zeit. „Dem Hund wird heiß! I glaub, i geh jetzt besser.“
Na ja, recht war es dem Hans zwar nicht, aber dem Hund zuliebe verabschiedeten sich die beiden. Martha fuhr heim nach Wien und Hans wartete besorgt auf ihren Anruf, dass sie gut nach Haus gekommen war.

Am nächsten Vormittag kam Oberarzt Doktor Helmsted und besah sich den verbliebenen Rest von Hans' linkem Huf. Er war gar nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Wahrscheinlich werde das Übrige des Vorfußes auch noch dran glauben müssen, meinte er.
Als er weg war, sah das Bild wieder anders aus. Jetzt glaubte Hans, nahe dem oberen Rand so etwas wie einen Autobus zu erkennen. Und die menschliche Gestalt am rechten Bildrand kam Hans vor, als ob das eine junge Frau wäre. Allerdings gab es keine Anzeichen für seine Vermutung. Hans „wusste“ nur mit einem Mal, das war ein „klasser Has“.

Am nächsten Morgen kam Doktor Helmsteds Assistentin, Frau Doktor Baumgartner sehr früh zur Visite und schüttelte bedenklich den Kopf, als sie Hans' Verband entfernte. Sie werde versuchen, so früh als möglich einen Termin für die Amputation des nächsten Teiles zu erhalten.
Das Bild sah wieder anders aus. Der Autobus war abgefahren, dafür stand ein LKW vor einem Gebäude am linken Bildrand. Hans wunderte sich, dass er das Gebäude bisher nicht bemerkt hatte und auch keine Viecher sah! Da müssten doch Kühe auf einer Alm sein!

Nachts wachte Hans auf. Alles war still, nur der alte Fahrdienstleiter rechts neben ihm schnarchte leise. Hans hatte trotz des Platzmangels im Zimmer seit Kurzem einen Rollstuhl zur Verfügung, damit er allein zum WC fahren konnte. In diesen Rollstuhl schob er sich jetzt hinein und bemühte sich, zum geheimnisvollen Bild an der Wand ihm gegenüber zu kommen.
Es war ein mühsames Unterfangen. Licht hatte er nicht gemacht, um seine Zimmerkollegen nicht zu stören, von draußen schien zwar das Licht der Straßenbeleuchtung herein, aber das kleine Zimmer bot kaum Platz, den Rollstuhl zu manövrieren.

Dann saß er schließlich doch unter dem Bild an der Wand, bemühte sich zwar, aus dem Rollstuhl aufzustehen, fiel aber wieder auf die Sitzfläche zurück. Der Fuß tat teuflisch weh!
Aber das Bild, sehr schwach beleuchtet, schien sich jetzt tatsächlich zu bewegen. Da kam doch irgendwas von rechts oben zur Bildmitte gefahren!

Und plötzlich bemerkte Hans, dass er im Rollstuhl eingeschlafen war. Daraufhin bemühte er sich, ins Bett zurück zu kehren. Was auch immer das war auf dem Bild, es würde schon ohne ihn zurecht kommen.
Am darauf folgenden Morgen erhielt Hans kein Frühstück. Stattdessen wurde ihm mitgeteilt, dass er demnächst erneut operiert werden sollte. Das Aquarell „Almstation“ sah heute so aus, wie es ganz am Anfang ausgesehen hatte. Zumindest nach Hans' Erinnerung.
Gegen halb elf holte man ihn in den OP ab und um etwa 13 Uhr wachte er wieder in seinem Bett auf. Von seinem linken Fuß war nur mehr die Ferse vorhanden, aber der jetzt fehlende Vorfuß tat immer noch weh.

Bedrückt sah Hans das Aquarell an. Würde er mit dem amputierten Vorfuß noch jemals auf einen Berg steigen können? Nicht, dass er bisher ein großer Wanderer gewesen war, aber jetzt erschien es ihm beinahe erstrebenswert, so eine Alm zu erreichen. Na, mit einem Spezialschuh würde er es schon noch schaffen, die Ferse war ja immerhin noch dran.

Abends ging es Hans bereits besser. Eine ihm bisher unbekannte Krankenschwester erschien zum Nachtdienst und stellte sich als Diplomschwester Hermine vor. Sie war die letzten drei Wochen auf Urlaub gewesen. Hans musste zugeben, dass er noch nie eine so aufregende Schwester gehabt hatte. Sie hatte ein hübsches Gesicht und eine erstklassige Figur – und die weiße Schwesterntracht mit Hose und Jäckchen hatte sie offenbar etwas umgearbeitet, um ihre Formen noch zu unterstreichen. Hans kam sich vor wie in einem alten Hollywood Film. Er nahm die abendliche Spritze von Hermine entgegen wie eine Auszeichnung. Als sie die Injektionsnadel dem Hans in den Bauch stach, lächelte sie entschuldigend und Hans nahm sich vor, in der Nacht irgendetwas zu brauchen, damit er Hermine wieder sehen konnte.
Nach einundzwanzig Uhr schaltete der junge Mann links neben Hans endlich den Fernseher aus und löschte das Licht. Und in dem Dämmerschein der Straßenbeleuchtung glaubte Hans plötzlich, die Gestalt der Schwester Hermine am rechten Rand der „Almstation“ zu erkennen.
Hans läutete nach der Schwester und gab vor, Schmerzen zu haben. Hermine brachte ihm Tropfen und machte das Licht an. Da war plötzlich auf dem Aquarell rechts nur mehr die gewohnte Gestalt zu sehen, ohne jede Ähnlichkeit mit der Nachtschwester.
Hans schluckte die Tropfen und versuchte, sowohl das verrückte Aquarell als auch Schwester Hermine zu vergessen. Er sah sie am nächsten Morgen nicht mehr, er wachte erst auf, als der Tagdienst bereits übernommen hatte.

Die Visite des Oberarztes verlief eher unerfreulich. Nach Begutachtung des kärglichen Restes von Hans' Fuß eröffnete er seinem Patienten, dass der Unterschenkel wohl nicht mehr zu retten wäre. Die vollständige Amputation wäre für Samstag vorgesehen. Aber Hans möge sich keine Sorgen machen, die moderne Prothesentechnik erlaube ein sicheres Gehen auch ohne Stock oder Krücken, man müsse lediglich anfangs fleißig üben. Hans werde das sicher schaffen!

Gleich nach der Visite rief Hans von seinem Handy Martha an. Erst fiel es ihm schwer, ihr die Neuigkeiten mitzuteilen. „Martha, du wirst leider einen echten Krüppel zurück bekommen“, rückte er endlich heraus.
Erschüttert fragte Martha: „Rollstuhl? Pflegefall?“
„Prothese“, sagte Hans. „Wird a Zeit dauern, bis ich mich dran g'wöhnt hab.“
„Na Gott sei Dank“, meinte Martha. „Marathon wirst ja eh nimmer laufen. Hast ja auch bisher net g'macht.“
„Ja, magst mi denn überhaupt noch, wenn mir ein Haxen fehlt?“
„Tschapperl“, sagte Martha. „Wenn's weiter nix is! A Haxen is doch net so wichtig. Wann hast denn die Amputation?“
„Samstag.“
„Dann bin ich am Samstag bei dir“, kündigte Martha an.

Am Nachmittag brauchte Hans wieder einmal einiges an Schmerzmitteln. Der nur mehr in Ansätzen vorhandene linke Fuß hatte wieder einmal alle Register gezogen. Aber das Bild „Almstation“ war jetzt beinahe friedlich und Hans konnte die Landschaft einer breiten, hoch gelegenen Talmulde mit ziemlicher Sicherheit erkennen. Und rechts stand seine Martha!

War doch eine verteufelte Angelegenheit, das Leben! Da ging alles seinen gewohnten Gang – und plötzlich war alles anders. Dass man den Leuten mitunter irgendwelche Körperteile abmontierte, das war zwar bekannt, aber wenn einem das dann selber passierte, war das doch etwas ganz Spezielles. Es ist nicht so, dass unangenehme Dinge nur anderen Leuten passierten! Jederzeit kann einem etwa ein Flugzeug auf die Birne fallen! Hans nahm sich vor, in Zukunft bewusster zu leben. Jeden Moment könnte es vorbei sein!

Abends beruhigte sich der kleine Rest vom linken Huf des Hans. Er lag da und betrachtete das Aquarell „Almstation“. Seit dem Vormittag hatte es sich nicht mehr verändert. Genau genommen, seit er in der Gestalt am rechten Bildrand seine Martha erkannt hatte. Er freute sich auf den angekündigten Besuch seiner Frau.

Um neunzehn Uhr dreißig kam die Heparin-Spritze zur Vorbeugung einer Thrombose. Und Nachtdienst hatte schon wieder Schwester Hermine!
Hans bemerkte, Schwester Hermine habe offenbar eine Vorliebe für Nachtdienste. Sie bestätigte das und bedauerte die Kolleginnen, die Nachtdienste als Belastung betrachteten. Da wäre man doch allein auf der Station und das bedeutete eine gewisse Freiheit. Und in Notfällen gab es ja immerhin noch genug andere Stationen, deren Personal aushelfen könne.

Etwa drei Minuten lang dauerte der Smalltalk mit der Nachtschwester, dann bekam Hans seine Injektion, die er kommentierte, dass es beinahe ein Genuss wäre, von so zarter, hübscher Hand eine Nadel in den Backhendlfriedhof gestochen zu kriegen. Hermine lächelte geschmeichelt. Dann aber begann der erst heute neu hinzu gekommene junge Mann links von Hans, auf Teufel komm raus mit Schwester Hermine zu flirten, diese aber reagierte betont kühl.
Bevor Hans seine übliche Schlaftablette schluckte, telefonierte er noch ausgiebig mit seiner Frau, die ihm die Neuigkeiten seines Heimatorts mitteilte. Und am Ende sagte Hans doch tatsächlich zu Martha: „Gute Nacht. Und danke für alles. Ich hab dich sehr, sehr lieb, Martha.“
Seine Frau reagierte ganz gerührt. Denn obwohl Hans seine Martha ehrlich liebte, sagte er es ihr kaum. Hans hielt solche Sätze für banal.
Heute hielt er den Satz nicht für banal. Es war immerhin jetzt alles anders.
Martha würde am Samstag die ungeliebte Autobahnfahrt unternehmen, um ihm vor seiner Amputation beizustehen und sie hatte auf die Ankündigung, er würde künftig als Krüppel durchs Leben gehen nicht negativ reagiert. Auf so eine Frau konnte man stolz sein!

Am Samstag bekam Hans natürlich wieder kein Frühstück und dann war er eine Stunde lang beunruhigt, weil Martha wieder auf der Autobahn unterwegs war. Aber gegen zehn Uhr traf sie im Krankenhaus ein. Hans war mittlerweile gesagt worden, er käme frühestens um 14 Uhr in den OP. Deshalb machte sich Martha auf, sich eine Bleibe bis zum nächsten Tag zu suchen. Sie wollte sich die Autobahnstrecke sparen, aber am Sonntag ihren dann einbeinigen Hans wieder etwas moralisch aufrichten. Hans war ihr unendlich dankbar dafür.

Martha kam gegen 13 Uhr wieder. Sie hatte eine kleine Pension ganz im Süden der Stadt gefunden. Terry wartete wieder im Auto.
Dann wurde Hans mitgeteilt, dass das OP-Team mit einem Notfall beschäftigt wäre. Amputation erst am Abend.

Damit begann für Martha und Hans ein eigenartiger Nachmittag. Hans lag ruhig da, Martha hielt ihm die Hand und Hans sah das Gemälde „Almstation“ in ganz unterschiedlichen Versionen. Jetzt bewegte sich zwar nichts mehr in dem Bild, aber jedes Mal, wenn Hans wegsah, wirkte es hinterher verändert. Vor allem die hohe Gestalt am rechten Bildrand sah immer wieder anders aus. Hans gab es schließlich auf und sah lieber seine Martha an.

Diese ging tatsächlich alle dreißig Minuten zum Auto um Terry hinauszulassen. Und jedes Mal kam sie wieder. Hans sagte ihr schließlich, dass ihm ihre Ausdauer unendlich helfe. Und Martha war ganz glücklich drüber.
Auch nach dem Ende der Besuchszeit wurde Martha nicht von den Schwestern hinaus geschmissen, sondern man gestattete ihr, als psychologische Unterstützung zu bleiben. Und so musste der arme Terry bis gegen 18 Uhr warten, bis sein Frauchen endlich kam und ihn erlöste.

Hans wurde mitsamt seinem Bett in den OP-Bereich geschoben. Dort musste er vor dem Operationssaal noch eine ganze Weile warten. Es zog dort unangenehm, aber im OP war man emsig damit beschäftigt, die Spuren der letzten, sehr blutigen Operation zu beseitigen.

Über der Tür zum OP hing eine alte elektrische Uhr, die Hans sehr an jene Bahnhofsuhren erinnerte, die über den Bahnsteigen des Westbahnhofes in Wien angebracht waren, als das Bauwerk nach dem Wiederaufbau in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts wieder in Betrieb ging. Damals, als kleines Kind, hatte er sich gern auf dem Bahnhof herum getrieben und am liebsten wäre er in den nächsten Zug gestiegen. Die meisten Schnellzüge hielten erst wieder in Sankt Pölten.

'Na, jetzt bin ich in Sankt Pölten', dachte Hans. 'Und nicht mit dem Zug gefahren. Und das kostet mich jetzt einen Haxen, dieses Sankt Pölten. Sozusagen ein Opfer für den heiligen Hippolyt, dem Namensgeber der Stadt...'

Dann endlich war es so weit. Hans wurde in eine Art medizinischen Liegestuhl gesetzt und der Anästhesist fragte um sein Einverständnis zu einer Periduralanästhesie. So ein im Volksmund „Kreuzstich“ genannter Narkoseersatz beuge der Gefahr vor, dass Hans später unter so genannten „Phantomschmerzen“ zu leiden habe. Hans gab sein Einverständnis, ihm graute aber davor, das Geräusch der Knochensäge hören zu müssen.
Es wurde aber nicht so schlimm. Nach der Injektion ins Rückgrat bekam er irgendetwas in die Vene gespritzt und verbrachte die nächste halbe Stunde in einem Dämmerschlaf, der ihm zwar zu registrieren gestattete, dass da etwas mit seinem Bein geschah, nicht aber, was es war.

Halbwegs zu sich kam er dann erst wieder in seinem Krankenzimmer. Auf dem Bild „Almstation“ war einiges los. Mehrere Fahrzeuge waren da vor der Almhütte, die es auf dem Gemälde ja nur in Ansätzen gab – und es schienen Touristenbusse zu sein. Die Gestalt am rechten Bildrand, also seine Frau Martha, war fast immer in Bewegung und schien sich irgendwie um die Besucher zu bemühen. Dann aber schlief Hans ein und erst das Frühstückstablett, das neben sein Bett gestellt wurde, weckte ihn.

Hans war hungrig. Den ganzen letzten Tag hatte er ja nichts genossen – und das Frühstück war ohnehin für ihn so etwas wie der Höhepunkt des Tages. Er widmete sich daher mit Konzentration dem so genannten „Kaffee“, der zwar offenbar mit echten Kaffeebohnen nie in Berührung gekommen war, nichtsdestoweniger aber anregend wirkte und gar nicht übel schmeckte.
Erst dann unterzog er sein Bein einer genaueren Begutachtung.

Unterhalb des Knies waren noch etwa zehn Zentimeter des Unterschenkels vorhanden. Hans war beruhigt. Das sollte wohl reichen, um eine Prothese befestigen zu können.
Die „Almstation“ war auch ruhig. Nichts bewegte sich auf dem Bild und das Blatt tat so, als hätte es nie sein Aussehen verändert. Hans fühlte sich erstaunlich gut an diesem Sonntagmorgen. Na gut, das Bein war halt weg. 'Tausend Rosen', dachte er. 'Mit eine Prothese umgehen kann man auch noch lernen.'
Was ihn allerdings wunderte, war die Tatsache, dass er immer noch der Alte zu sein schien. Der Verlust eines Körperteils hatte also offenbar keinerlei Auswirkungen auf seine Persönlichkeit. Also bestand (außer ein paar Nerven) keine Verbindung zwischen seinem Hirn und dem abmontierten Haxen. Was sie wohl mit dem „Abfall“ getan hatten?

Um zehn kam Martha. Sie erzählte, dass Terry in ihrer kleinen Pension eine ernste verbale Auseinandersetzung mit einer großen Bulldogge gehabt hatte, es aber dann vorgezogen habe, rechtzeitig einen taktischen Rückzug anzutreten. Über Hans' Allgemeinzustand war sie ehrlich erfreut.
Dann wurde Hans mitgeteilt, dass er am frühen Nachmittag einen Gips angelegt bekommen würde. Wenn man nicht sein Knie gestreckt ruhig stellen würde, könnte er später Probleme beim Durchstrecken des Stumpfes bekommen – und dann wäre es fast unmöglich, die Prothese ohne Schwierigkeiten zu benutzen.
Martha verabschiedete sich also schon am Mittag und fuhr heim nach Wien. Glücklicherweise konnte Hans sie noch von seinem Handy zu Hause erreichen, bevor man ihn abholte.
Wieder bekam er irgendein Teufelszeug in die Vene gepumpt, denn das gewaltsame Durchstrecken des Knies war doch ziemlich schmerzhaft.

Aber Hans bemerkte gar nichts davon. Die nächsten zwei Stunden verbrachte er in einem Zustand, der einem Rausch ähnelte. Sekunden lang hatte er immer wieder „Aussetzer“ und bemerkte gar nicht, was die Ärzte mit ihm anstellten. Hinterher hatte Hans beinahe den Eindruck, das Mittel, das man ihm gespritzt hatte, wäre so etwas wie LSD gewesen. Denn er hatte das Anlegen des Gipses als äußerst amüsant empfunden.
Manchmal drehte sich alles um ihn wie auf einem Rummelplatz, manchmal schien sein Bett zu rotieren – und die Ärzte, die ihm die mit Gips getränkten Bandagen um sein Knie wickelten, drehten sich mit. Und dann wurde er wieder in sein Zimmer geschoben und war blendender Laune. Die „Almstation“ war ebenfalls in vollem Betrieb! Die unterschiedlichsten Fahrzeuge erschienen neben der schlanken Gestalt am rechten Bildrand, die aber diesmal nicht zu erkennen war. Es war weder seine Frau Martha noch die schöne Schwester Hermine.
Was die Autos alle da auf der Alm wollten? War da ein Fest im Gange? Feierte man seinen Gips? Oder die gelungene Amputation?
Dann klang Hans' Rauschzustand langsam ab und das Gemälde beruhigte sich. Zum Abendessen gab es Schafkäse, den Hans nicht mochte.

Nachts schmerzte ihn das Kniegelenk und der Gips drückte. Mehrmals bekam Hans seine üblichen Schmerztropfen, aber das Bild veränderte sich die ganze Nacht über nicht mehr.
Die nächsten beiden Tage verbrachte Hans mehr schlecht als recht. Der Gips machte ihm zu schaffen. Endlich, am Mittwoch, gelang es ihm, den Oberarzt Dr. Helmsted zu überreden, den Gips abzunehmen.
Daraufhin ging es Hans bedeutend besser. Zwei seiner Freunde aus Wien besuchten ihn und die Almstation blieb alle die Tage unverändert. Die Heilung der Narbe machte gute Fortschritte und es gab keinerlei Komplikationen.

Hans begann mit den Schwestern und der Assistenzärztin Dr. Baumgartner über seine mögliche Entlassung zu sprechen. Man gab ihm zu verstehen, dass man gerne noch die Prothese angemessen hätte. Das ginge aber erst, wenn die Klammern aus der Narbe entfernt worden waren. Nächste Woche voraussichtlich wäre es dann so weit.
Hans fügte sich in sein Schicksal. Zwar fieberte er seiner Entlassung entgegen, zumal der nierenkranke, pensionierte Fahrdienstleiter rechts von ihm bereits von dessen Frau abgeholt worden war, aber er war sich der Wichtigkeit einer gut sitzenden Prothese bewusst.

Am Wochenende kam noch einmal seine Martha und blieb wieder über Nacht in Sankt Pölten. Seit beinahe einer Woche hing das Gemälde „Almstation“ an der Wand, ohne sich zu verändern oder Hans irgendwie zu beunruhigen. Er fasste wieder Vertrauen zu seinem Hirn, ja er zweifelte, dass seine Sprachstörungen tatsächlich auf einen Schlaganfall zurückzuführen wären. Es könnten genau so gut die betäubenden Schmerzmittel gewesen sein.

Und dann kam der große Tag. Mit der Zange zur Entfernung der Klammern erschien die schöne Schwester Hermine.
Hans war etwas betreten. Eine andere Schwester wäre ihm lieber gewesen. Seit den Besuchen seiner Frau hatte er plötzlich ein viel intensiveres Verhältnis zu Martha. Es als angenehm zu empfinden, dass gerade Hermine die Klammern heraus nahm, empfand er irgendwie als Betrug seiner Frau gegenüber.
Hans bemühte sich, den Stumpf seines Beins möglichst ruhig zu halten. Das Entfernen der Klammer war ziemlich unangenehm und manche Stellen der Operationsnarbe, die sich entzündet hatten, schmerzten recht stark. Hans' Blick wechselte zwischen Hermine und dem Bild vor ihm – und die „Almstation“ erwachte wieder zu einer Art Leben. Besonders die Gestalt am rechten Bildrand veränderte sich laufend.
Und dann zuckte Hans' Bein unvermittelt und recht heftig. Hermines Zange hatte eine besonders empfindliche Stelle berührt.
Hermine erschrak sichtlich und Hans entschuldigte sich. Die Bewegung wäre völlig unwillkürlich gewesen. Hermine atmete tief durch – und dann lachten sie beide.
Das war auch das Ende des Eigenlebens des Gemäldes „Almstation“.

Schon am nächsten Tag erhielt Hans die Prothese mittels Gipsabdruck angemessen. Und einen weiteren Tag darauf war er unterwegs mit dem Krankenwagen nach Hause zu seiner Martha.
Die Schwester Hermine sah Hans nicht wieder. Er hat auch gar kein Bedürfnis, sie eventuell in der Klinik einmal zu besuchen.
Mit seiner Prothese läuft Hans mittlerweile ganz brav umher und benötigt gerade einmal einen Stock. So ganz ohne Gehhilfe ist ihm die Fortbewegung zu Fuß doch noch ein bisschen zu riskant. Die meisten Leute bemerken nicht einmal, dass Hans nur ein Bein hat.
Und wenn man ihn fragt, was denn seine bemerkenswerteste Erfahrung im Krankenhaus Sankt Pölten gewesen wäre, dann antwortet er: „Das sich ändernde Bild im Krankenzimmer. Die Almstation.“

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