KunstGeschichten

KunstGeschichte: Boliden

Marcello Krieger ist Sportler durch und durch: Er studiert Sportwissenschaft, ist verrückt nach Autorennen und malt obendrein außergewöhnlich gute Aquarelle seiner motorisierten Helden. Doch er muss feststellen, dass auch andere Motive einigermaßen lohnend sind. Erich Wurth erzählt uns, wie der junge Künstler in eine neue Schaffensphase tritt.

Marcello Krieger kam durch puren Zufall zur Aquarellmalerei. Der Zweiundzwanzigjährige war Student der Sportwissenschaften und hatte den Plan, Trainer bei einem renommierten Fußballklub zu werden, seine tatsächliche Leidenschaft wiederum war allerdings die Formel 1. Er und alle seine Kumpel verehrten Sebastian Vettel wie einen Halbgott und drückten immer die Daumen für den österreichischen Rennstall Red Bull.

Im vergangenen Frühjahr hatte der Marcello ein eigenes kleines Autorennen organisiert. Auf dem Verkehrsübungsplatz Teesdorf, südlich von Wien, sollten die „Piloten“ aus dem Team seiner Freunde ein paar Runden drehen. Der ÖAMTC als Platzbetreiber hatte die Absicherung übernommen und kündigte das Rennen sogar in der Clubzeitung an. Und der Dominik Schober hatte ein Werbeplakat dafür gemalt. Allerdings hatte er auf das Plakat Rennwagen gezeichnet, die ungefähr um das Jahr 1950 modern gewesen sein mochten – heutzutage waren diese Fahrzeuge ganz einfach nur noch Schrott! Marcello machte also die Zeichnung noch einmal, mit Wasserfarben. Und plötzlich waren die coolsten Autos zu sehen, die in nervenzerfetzenden Überholmanövern um den Verkehrsübungsplatz rasten. Daraufhin druckte die ÖAMTC-Clubzeitung das Plakat in der Zeitung ab und die Zuschauerzahlen beim Rennen waren schließlich ganz ordentlich.

An dem kleinen Privatrennen nahmen elf Fahrer teil. Den flottesten Wagen hatte der Kevin Wieninger, einen etwas älteren Triumph-Sportwagen, den der Tommy Lischka auffrisiert hatte. Aber die Jessica Lackner, die Tochter eines Abgeordneten, machte auch mit – und zwar mit einem Cabrio von VW, einem alten, offenen Käfer mit weißer Lackierung, den ebenfalls der Tommy bearbeitet hatte und der seine gut 180 Sachen machte. Marcello selbst landete zwar unter „ferner liefen“ und Kevin machte das Rennen vor Jessica, die auf Teufel komm raus gefahren war. Aber immerhin erhielt er eine lobende Erwähnung für die Malerei des Werbeplakates!

Also machte Marcello weiter mit seinen Rennwagenmalereien. In erster Linie malte er Sebastian Vettel in seinem Red Bull, aber auch andere Formel-1-Fahrer kamen an die Reihe, so etwa Lewis Hamilton, Nico Rosberg, Felipe Massa und Jenson Button. Immer waren sie gut erkennbar, denn Marcello hatte ein echtes Talent für das Malen von Gesichtern. Und auch die Rennwagen der Asse waren immer gut getroffen und entsprachen in Form und Farbe durchaus den Originalen. Innerhalb kürzester Zeit bekam er so einen neuen Job bei der Clubzeitung des ÖAMTC: Und zwar illustrierte er Artikel, die sich mit der Formel 1 beschäftigten. Ein besonders häufig Abgebildeter war natürlich der Herr Niki Lauda mit seinem roten „Novomatic-Kapperl“ auf der Glatze.

Und dann kam eines Tages die Jessica Lackner angetrabt. Sie engagierte sich privat in einem Schwimmclub und trainierte Wasserspringen und Synchronschwimmen. Dort sollte es demnächst einen internen Wettkampf geben, natürlich öffentlich zugänglich, im Stadionbad. Der Club machte sogar Reklame dafür. Jessica wollte nun den Marcello dazu bringen, die Werbeplakate zu gestalten. Der war zwar nicht gerade glücklich darüber, andererseits stand er aber auf sie, die ein ausgesprochen hübsches junges Mädchen war. Obendrein waren sie bereits lose befreundet und sie hatte schließlich den zweiten Platz beim Rennen in Teesdorf belegt – also sagte Marcello zu.

Marcellos Besuch zu einem Training im Stadionbad bewirkte fast, dass er ein Fan des Wassersports wurde, die Jessica betrieb, fand er doch die beiden Sportarten äußerst attraktiv. Wie sie sich mit gekonnten Sprüngen vom 10-Meter-Brett fallen ließ und welche Verrenkungen sie und ihre Kolleginnen da im Wasser vollführten, das beeindruckte ihn ungemein. Daraufhin malte er die Jessica, die einen dreifachen Salto vom Sprungbrett durchführte und die Zweiergruppe der Synchronschwimmerinnen, die, den Kopf unter Wasser, die Beine im Spagat über die Wasseroberfläche brachten. Er malte direkt im Schwimmbad mit Wasserfarben auf Zeichenkarton und in einem Höllentempo! Später wurden die Blätter dann ausgestaltet und ergaben ganz ansprechende Aquarelle.

Wenige Tage später erhielt er dann plötzlich die Meldung, dass es dem Herrn Dietrich Mateschitz, dem Haupteigentümer des Getränkeherstellers Red Bull, gelungen wäre, das Formel-1-Rennen nach längerer Pause wieder auf den Österreich-Ring in Zeltweg zurückzuholen. Bernie Ecclestone habe seine Zustimmung dazu gegeben. Marcello war wie elektrisiert von der Meldung. Den Großen Preis von Österreich sollte es wieder geben!
Aus der ÖAMTC-Clubzeitung erfuhr Marcello, dass Dietrich Mateschitz den Österreich-Ring umbauen wollte und dass er einige seiner Red-Bull-Rennautos zur Rennstrecke schaffen ließ, um dort weitere Tests durchzuführen. Die Zeitung bewilligte ihm, sich zur Strecke aufzumachen, um einige Bilder zu malen und eventuell auch von den Arbeiten dort zu berichten. Das ließ er sich nicht zweimal sagen!

Er alarmierte umgehend die Jessica: Ob sie nicht zum Österreich-Ring mitkommen wolle?
Natürlich wollte die! Aber nur mit ihrem eigenen VW-Cabrio! Da müsse es doch möglich sein, ein paar Runden auf der Rennstrecke zu drehen.
Na ja, möglicherweise.
Damit war die Sache fixiert. Am nächsten Wochenende würden Marcello und Jessica nach Spielberg fahren!

Am Samstagmorgen ging der Ausflug los. Jessica fuhr ihren VW und Marcello hatte sich den Triumph von seinem Freund Kevin Wieninger geborgt – das war immerhin die schnellste Schüssel im gesamten Freundeskreis. Es war ein schöner, warmer Frühlingstag. Am Verteilerkreis Favoriten fuhren die beiden hintereinander auf die Südautobahn auf. Die ersten Kilometer waren gepflastert mit Geschwindigkeitsbegrenzungen: Bis weit nach der Stadtgrenze galt Tempo 80. Marcello reihte sich dennoch sofort ganz links ein und drückte auf die Tube. Mit knapp 120 fuhr er die Gerade nach der Peer-Albin-Hanson-Kurve entlang. Dann fiel ihm auf, dass Jessica nicht mitmachte, also reihte er sich wieder rechts ein und wartete auf das weiße Käfer-Cabrio. Und da kam es auch schon. Knapp unter 100 km/h schnell und auf der mittleren Fahrspur. Aha, die Jessica hatte Angst vor den vielen Zivilstreifen in dieser Gegend! Sie winkte auch dem Marcello etwas heftig zu, als sie herangekommen war. Schön. Also vorläufig einmal schön pomali. Wer wusste, wozu es gut war? Marcello ordnete sich auf der rechten Spur ein und fuhr knapp über 90 km/h. Bis hinter der Abfahrt Mödling behielt er das Tempo bei, dann überholte er einen LKW und steigerte das Tempo, obwohl das Limit nach wie vor galt. Der Triumph des Kevin war schon eine tolle Schüssel! Wie der Tommy Lischka den wohl frisiert hatte? Nach der Abzweigung der A3 nach Sopron, wo die lange Gerade nach Baden beginnt, erreichte Marcello knapp über 200 km/h auf der dritten Spur. Und Jessica kam hinter ihm her! Also musste der VW Käfer auch seine 200 Sachen machen! Das war beachtlich! Jessica aber blinkte ihn dauern mit der Lichthupe an. Ja, sie hatte recht: Auch da gab es Zivilstreifen und das konnte teuer werden. Marcello nahm also den Fuß vom Gashebel und hielt daraufhin die 130 km/h genau ein. Der Käfer überholte ihn und setzte sich genau vor den Triumph. Jessica wollte offenbar überwachen, ob er die Geschwindigkeitsbegrenzung einhielt. Weit über die Wiener Neustadt hinaus hielt Marcello sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen, aber in der langen Geraden nach der weiten Rechtskurve wurden Jessica und er von einem schwarzen Mercedes der S Klasse überholt, der mit gut 200 Sachen unterwegs war. Na, das ging natürlich nicht! Marcello war ganz brav und vorschriftsmäßig unterwegs – und der Großkopferte raste fast mit Maximaltempo!

Marcello hängte sich an. Als er die Jessica überholte, schaute die erstmal ganz ungläubig. Aber dann stieg auch sie aufs Gas. Sie kamen zur Verzweigung mit der S6. Die heißt zwar Semmeringschnellstraße, ist aber eine vollwertige Autobahn. Auf diese bog der schwarze Mercedes ab, seine beiden Verfolger knapp hinter ihm. Bis zur ersten markanten Steigung, knapp vor Gloggnitz, hielt Marcello das hohe Tempo durch, aber auch Jessica schaffte den Anschluss. Dann zog der wesentlich stärkere Mercedes davon und Marcello gab die Verfolgung auf. Jessica setzte sich wieder vor ihm auf die rechte Spur und war offenbar dankbar für das gemächlichere Tempo. Die kontinuierlichen Steigungen machten es schwer, die 130 km/h beizubehalten und manchmal sank die Geschwindigkeit auf unter 110. Jessica tat sich mit ihrem Fahrzeug umso schwerer und als sie den Scheiteltunnel durchfuhren, war das VW Cabrio heiß gelaufen. Im Tunnel überholte sie deshalb ihren Freund und fuhr, gleich nachdem sie das Tageslicht wieder erreicht hatten, auf dem ersten Parkplatz ab. Marcello, der folgte, schimpfte ein wenig auf den VW und auf den Tommy Lischka, der das Frisieren so stümperhaft erledigt hatte, aber er wartete halt ab, bis die Motortemperatur ein Weiterfahren ohne die Gefahr, den Motor abzustechen, ermöglichte. Das Mürztal entlang ging es dann wesentlich gemütlicher. Jessica fuhr voran und beschleunigte nie über 120 km/h. Es war ein entspanntes Reisen und das Wetter war recht angenehm. Schließlich erreichten sie die Abfahrt Knittelfeld West und fuhren von der Schnellstraße ab.

Kurze Zeit später trafen sie am Österreich-Ring ein. Die Rennstrecke war wie ausgestorben. Keinerlei Aktivitäten! Der Parkplatz war bis auf zwei PKW völlig leer.
„Es müssen doch irgendwelche Leute da sein!“, meinte Marcello. „Kann man da irgendwo rein zur Strecke?“
„Ich versuch's“, beschloss Jessica und marschierte die Front des Gebäudes entlang. „Vielleicht muss ich weiter geh’ n, kann länger dauern.“
Marcello setzte sich in seinen Triumph und wartete.
Es dauerte gute zwanzig Minuten, bis sich der Haupteingang öffnete und Jessica mit einem jungen Mann in einem ölverschmierten Overall ins Freie trat. Sie hatte ein Pflaster auf dem Oberschenkel kleben, unter dem etwas Blut hervor lief.
„Jessica! Ist dir was passiert?“, rief Marcello.
„Beim Drüberklettern am Maschenzaun hängen geblieben“, erzählte die und der Mann im Overall ergänzte: „Sie ist über’ n Stacheldraht“.
„Na ja, ein anderer Zugang war da nicht“, meinte Jessica entschuldigend.
„Wir haben schon Iod drauf getan“, erklärte der Mann im Overall.
„Das ist Signore Campanelli, Mechaniker von Red Bull“, erklärte Jessica. „Wir können rein zu den Boxen. Herr Campanelli wird sich meinen Käfer ansehen. Vielleicht kann er was machen damit.“

Der Italiener öffnete das Zufahrtstor zur Rennstrecke, und Jessica fuhr ihr Cabrio durch das Tor aufs Renngelände. Marcello holte seine Farben und den Zeichenkarton aus dem Triumph und ließ den Wagen dann auf dem Parkplatz stehen. Von der Red-Bull-Box machte er eine Aquarellskizze und er wunderte sich, welche Unordnung da herrschte. Da lagen haufenweise Teile des Rennwagens herum und der Motor war umgeben von Dutzenden Kabeln, die zu Messinstrumenten führten. Als Campanelli den Motor startete, machte dieser einen Lärm wie ein startender Militärjet. Die Messinstrumente schlugen alle aus und der Mechaniker begann, den Motor mit einem Spezialschraubenzieher zu justieren. Marcello musste sich die Ohren zuhalten! So konnte er allerdings nicht malen. Also stopfte er sich ein Papiertaschentuch in die Ohren und machte weiter.

Die Skizze wurde ganz anständig und Campanelli grinste ihn triumphierend an, als der Motor plötzlich in einem anderen Ton aufheulte. Er wartete noch etwa zwei Minuten und überprüfte die Messinstrumente, dann machte er die Zündung aus.
„Welchen Unterschied ein paar neue Ventile ausmachen“, sagte er, als sich wieder Stille über den Raum senkte.
„Könnten Sie auch in meinen Käfer neue Ventile einsetzen?“, fragte Jessica, die vor der Einfahrt zur Box gestanden war.
„Wenn ich passende finde...“, sagte Campanelli und begann, in den hölzernen Laden am Werktisch zu kramen.
„Ich hole meinen Boliden rein“, kündigte Jessica an.
Marcello beendete soeben sein Bild von der Box, als sie mit ihrem Cabrio erschien. Campanelli hatte inzwischen die passenden Ventile gefunden.
„Na, drehen Sie erst einmal eine Runde über die Rennstrecke“, schlug er vor. „Dann wissen wir, was Ihr Wagen so ohne Veränderungen schafft. Ich geb Ihnen einen Helm!“

Marcello legte sein inzwischen fertiges Aquarell beiseite und nahm ein neues Zeichenblatt. Damit und mit seinen Farben setzte er sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Jessica setzte den Helm auf und fuhr los. Für den Marcello war es beinahe unmöglich, sein Gemälde anzufertigen. Jessica fuhr wie der Teufel und er wurde gehörig durcheinandergeschüttelt. Nach wenigen Sekunden gab er es auf, denn der Pinsel war einfach nicht ruhig zu führen. Aber die etwas mehr als vier Kilometer der Strecke waren bald geschafft und Jessica fuhr durchs Ziel. Drei Minuten und achtzehn Sekunden hatte sie benötigt.
„Ganz gute Zeit“, meinte Campanelli. „Gleich bleiben Sie unter drei Minuten!“
Er öffnete die Motorabdeckung am Heck und beugte sich über das Triebwerk. Jetzt, da der VW still stand, hatte Marcello die Gelegenheit, das Aquarell zu skizzieren.

Er malte die Jessica mit ihrem Helm und ihren weißen Shorts, wie ihre nackten Beine die Pedale bearbeiteten. Den etwas angespannten, konzentrierten Gesichtsausdruck hinter dem Visier hatte er ganz gut getroffen, als die Skizze fertig war. Das Aquarell war etwas ungewöhnlich, da der Sichtwinkel eigentlich unmöglich war (es war viel zu wenig Platz auf den Vordersitzen), aber Jessica war komplett abgebildet mit all ihrem Sex-Appeal und das Blatt hatte eine gewisse erotische Ausstrahlung. Campanelli pfiff durch die Zähne, als er es sah und er kommentierte: „Großartiges Bild!“
„Ich werde etwa eine Stunde für die Ventile brauchen“, kündigte er nach Begutachtung des Käfers an.
„Dann fahren wir inzwischen ins Bad“, meinte Marcello.

Mit dem Triumph fuhren die beiden ins Strandbad Knittelfeld. Jessica zog sich einen einteiligen Badeanzug an, da sie einige Sprünge vom Zehnmeterbrett plante. Nur leider war da kein Sprungturm, sodass sie stattdessen einen Durchgang ihrer Schwimmkür absolvierte. Sie wärmte sich mit einigen Turnübungen auf der Liegewiese auf und hüpfte dann ins Sportbecken.
Marcello saß derweil auf dem Rasen und malte seine Jessica beim Aufwärmen. Es wurden sehr ansprechende Bilder!
„Wenn das mit den Ventilen klappt, kriegt der Campanelli eins“, sagte Marcello, als Jessica ins Becken sprang.
„Ist gut“, meinte die nur, holte tief Luft, tauchte ab und blieb zwei Minuten unter Wasser. Marcello ergänzte seine Aquarelle, die noch nicht ganz ausgestaltet waren.
Als Jessica wieder auftauchte, beschloss er: „Jetzt müsste der Itaker seine Ventile schon eingebaut haben. Schauen wir hin zu ihm?“
Sie verließen das Strandbad und fuhren zur Rennstrecke.

Jessicas VW Cabrio stand vor der Box und war ganz offensichtlich fertig. Campanelli kam ihnen entgegen und erklärte: „Jetzt braucht er zwar wesentlich mehr Sprit, dafür geht er aber gut seine 240 Sachen! Probieren Sie ihn doch mal aus!“
Das ließ sich Jessica nicht zweimal sagen. Sofort saß sie hinter dem Lenkrad – und dann rauchten die Reifen!
Der Österreich-Ring ist im Gegensatz zu anderen Rennstrecken gekennzeichnet durch einige Steigungen und Gefällestrecken. Die stärkste Steigung beträgt etwa 10 Prozent und da braucht man einen niedrigeren Gang. Der Käfer wurde von Jessica im dritten Gang auf fast 5000 Umdrehungen hochgejagt, erreichte aber nur etwa Tempo 190. Nur auf der Start- und Zielgeraden waren die versprochenen 240 km/h möglich. Trotzdem war sie hoch zufrieden, denn die Runde bewältigte sie in zwei Minuten und 35 Sekunden. Das stand einem Formel 1 Boliden nicht allzu viel nach! In den beiden Linkskurven im Mittelteil hätte sie das Cabrio beinahe „aufs Kreuz gelegt“, als sie bei zweihundert gerade einmal ein kleines bisschen vom Gas gegangen war, aber außer einem heftigen Schleudern waren da keine schwerwiegenden Probleme dabei. Jessica war mit ihrer erzielten Zeit recht zufrieden und versuchte, den Italiener dazu zu überreden, ihr das Auto von Sebastian Vettel zu borgen. Campanelli weigerte sich aber standhaft: Für einen normalen Autofahrer wären diese Rennwagen kaum beherrschbar.

Die Sonne war mittlerweile untergegangen und Marcello drängte langsam darauf, ein Nachtquartier zu suchen. Es war zwar am Red-Bull-Ring noch keine Saison, aber trotzdem war es langsam an der Zeit, die Übernachtung zu organisieren. Ihr Gastgeber empfahl einen kleinen Gasthof an der Triester Straße zwischen Knittelfeld und Zeltweg. Je nach Windrichtung hatte man dort zwar unter den am Flugplatz Hinterstoisser landenden Eurofightern zu leiden, aber im Allgemeinen war auf dem Fliegerhorst nicht viel Betrieb. Sie fuhren mit Marcellos Triumph, Jessicas VW blieb in der Boxenstraße stehen. Die gesamte Strecke überlegte Marcello, wie er erreichen konnte, dass sie beide in einem gemeinsamen Zimmer übernachteten. Bisher war Jessica einem Abenteuer immer strikt aus dem Weg gegangen, aber bei dieser Gelegenheit könnte sie doch mal eine Ausnahme machen. Der Gasthof machte einen ganz ordentlichen Eindruck: Im Garten gab es sogar ein kleines Schwimmbecken. Und Campanelli hatte verraten, dass man hier ganz anständig essen konnte. Als Marcello nach einem Zimmer fragte, gab Jessica keinerlei Kommentar ab, also war sie ganz offenbar mit einem gemeinsamen Zimmer einverstanden.

Als sie beide im Zimmer allein waren, sagte Jessica plötzlich: „Danke, Marcello.“
„Wofür?“
„Dass du nicht zwei Einzelzimmer genommen hast.“
„Das wäre nicht ganz passend gewesen, oder?“, grinste Marcello.
„Nicht wirklich“, grinste sie zurück.

Nun nahm Jessica erst einmal eine schöne ausgiebige Dusche. Marcello nahm sich seine Blätter mit den Aquarellen vor. Teilweise hatte er nur die wesentlichen Elemente skizziert und da war noch vieles nachzutragen. Jessica pritschelte im Bad ganz schön herum und Marcello genug Zeit, die fehlenden Elemente hinzuzufügen. Dabei fiel ihm auf, dass er hauptsächlich sie gemalt hatte, aber kaum etwas von der Rennstrecke. Campanellis Box hatte er skizziert und den Boliden von Sebastian Vettel, aber es gab insgesamt vierzehn Bilder mit Jessica. Auch im Strandbad hatte er sie gemalt, wie sie auf der Liegewiese Aufwärmübungen für ihr Training zum Synchronschwimmen gemacht hatte. Marcello war sich im Klaren darüber, dass ihn die Sportlichkeit seiner Freundin ungemein beeindruckt hatte! Endlich kam Jessica aus dem Bad. Sie hatte sich einen sehr knappen, gelben Bikini angezogen und begann sofort, auf dem Teppichboden Gymnastik zu machen.
„Vor dem Abendessen noch ein kleines Training“, kommentierte sie das.
Marcello begann sein fünfzehntes Aquarell mit Jessica. Ihre Turnübungen waren auch ein zu verlockender Anblick. Ihr Abendessen verzögerte sich dann noch um eine gute Stunde…

Zum Abendessen gab es Hühnerspieße und eine Flasche südweststeirischen Schilcher. Und währenddessen berieten sie sich wie es weiter gehen sollte.
Jessica beklagte sich, dass Marcello hauptsächlich sie gemalt hätte und fast nichts von der Rennstrecke.
Und der erklärte wiederum, dass Jessica nunmehr sein Hauptmotiv sein werde! Er pfeife auf die Strecke und alle Rennen der Welt, Jessica wäre doch ungleich lohnender!
Sie wollten noch den nächsten Tag hier im Gasthof verbringen und abends dann Jessicas VW vom Red-Bull-Ring abholen. Bis dahin sollte sie ihm für ein paar Bilder Modell stehen, denn die Aquarelle bringe er leicht in einer Galerie unter. Für solche Bilder wäre garantiert ein Markt vorhanden.
„Und die Rennstrecke? Keine Aquarelle davon?“, fragte Jessica.
„Ach, dumm Im-Kreis-Fahren! Ungeeignet für Aquarelle! Da bist doch du ganz was anderes!“, meinte Marcello – und sie fühlte sich geschmeichelt.
Es wurde dann tatsächlich ein schöner, angenehmer Tag im Gasthof. Die beiden verbrachten ihn im Garten und am Schwimmbecken und Marcello malte wie besessen Jessica in ihrem gelben Bikini, die Gymnastik machte. Die Ausbeute belief sich auf insgesamt zweiunddreißig Aquarelle. Zwei davonstellten die Rennstrecke und die Boxenstraße dar, der Rest zeigte Jessica.

Die Clubzeitung des ÖAMTC verzichtete schließlich auf die Darstellungen des Red-Bull-Ringes – immerhin hatte Marcello ja auch keinen Bericht davon geliefert. Aber die Motive mit der Jessica wurden von einer Galerie im ersten Bezirk übernommen und erzielten beim Verkauf ganz beachtliche Preise! Marcello hat mittlerweile sein Motiv gewechselt. Nicht mehr Rennautos malt er – sondern seine Jessica.

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