KunstGeschichten

KunstGeschichte: Der neue Kolo Moser

Eigentlich wollte Harald Brunner nur seinem Hobby, der Malerei nachgehen. Unabsichtlich erinnern seine Arbeiten an die Werke von Koloman Moser, der gerade eine Renaissance erlebt. Daraufhin stellt sich Brunner die Frage, soll er den Wünschen des momentanen Kunstinteresses folgen, oder sich zugunsten seiner Unabhängigkeit doch lieber neu erfinden. Mit leicht ironischem Unterton nimmt sich Erich Wurth dieser Zwickmühle an.

Harald Brunner saß auf der Terrasse und freute sich auf seinen dritten Kaffee heute Morgen.
Zum Frühstück im Speisesaal hatte er schon zwei Tassen getrunken, schwarz, ohne Zucker und von beträchtlicher Stärke. Jetzt das gleiche noch einmal und dazu die erste seiner Zigarren. Und Mineralwasser. Einen halben Liter.

Es waren noch drei Wochen bis zum Schulbeginn und Harald hatte vor, diese drei Wochen ausgiebig zu genießen. Neben seinen täglichen Bädern im Thermalwasser wollte er ausgedehnte Spaziergänge machen, die man fast schon Wanderungen hätte nennen können. Vier Wochen verbrachte er wieder hier in Baden. Das warme Schwefelwasser hatte bisher seinen schmerzenden Gelenken sehr gut getan und gemeinsam mit der Bewegung in frischer Luft würde auch dieser Aufenthalt wohl dazu führen, dass sich das nächste Schuljahr wieder überstehen ließ.

Harald Brunner war 46 Jahre alt, Mittelschulprofessor und so etwas wie die Seele des Gymnasiums, obwohl er seinen Beruf nicht liebte. Es gab zu viele Rangen unter seinen Schülern, die ihm mit der Zeit das Nervenkostüm kaputt machten. Und das Durchgreifen war heute nicht mehr so einfach! Was früher möglich war, hatte die Schulbehörde heute bereits verboten und wenn man sich nicht alles gefallen lassen wollte, brauchte man neue Ideen für Sanktionen. Sonst hätte ihm seine Klasse 7A wohl „die Wadeln vire g’richt’[1]“.
Er focht einen ständigen Kampf mit seiner Klasse aus, die ihm immer wieder Streiche spielte. Aber anstatt dass er diese kreative Rivalität mit seinen Schülern genoss, ärgerte er sich oft maßlos, dass er so verarscht wurde. Die Jugend hatte heute keinen Respekt mehr vor den Lehrern. Besonders dieser Robin Weingartner und dessen Freundin, die Vivian Schilcher machten dem Professor Brunner Probleme. Dabei waren das eigentlich recht liebe junge Menschen. Und in Mathe und Physik, „seinen“ Fächern, waren die beiden gar nicht schlecht!

Schluss! Nicht mehr an die Schule denken! Heute wollte Harald seine Staffelei in den Kurpark mitnehmen und endlich wieder einmal seinem Hobby frönen! Während des Schuljahres kam er ohnehin so selten dazu!
Die Zigarre schmeckte und jetzt kamen der Kaffee und das Wasser. Heute war die Welt einmal in Ordnung. Nur nicht an die Schule denken!
Harald goss die Hälfte des Mineralwassers in sich hinein. Die Mitglieder einer belgischen Reisegruppe tauchten vom Frühstück kommend auf, deren wallonisches Geschnatter der französisch Sprechenden erfüllte die gesamte Terrasse, dazwischen erklangen flämische Laute und die Stimmung der gesamten Gruppe war fröhlich und ausgelassen. Harald sprach recht gut Französisch und amüsiert hörte er die Vorwürfe einer Belgierin, die ihrem Mann die Konsumation zu vieler Eier beim Frühstücksbuffet vorhielt. Wo er doch so sehr auf seinen Cholesterinspiegel zu achten habe!
Harald trank den Rest seines Mokkas und dämpfte die Zigarre aus. Jetzt rasch die Staffelei geholt und ab in den Kurpark!

Vom Hotel waren es etwa zehn Minuten zu gehen. Harald wohnte immer im Hotel Splendid, wenn er sich in Baden aufhielt. Obwohl er von seiner Wohnung im zweiten Bezirk in Wien höchstens eine halbe bis dreiviertel Stunde zu fahren hatte, um nach Baden zu kommen. Und obwohl er seiner Klasse gegenüber bereits einmal, anlässlich eines Schulausfluges, zugegeben hatte, bereits in Penzing Heimweh nach der Leopoldstadt zu haben. Aber der Hotelaufenthalt gehörte nun einmal zu einer Kur. Und außerdem war die Küche im Splendid schon immer ganz hervorragend gewesen.
Im Kurpark war es schattig und angenehm kühl. Harald begann den Anstieg auf die nordwestlich von Baden gelegenen Hügel, an deren Hängen der Kurpark lag und folgte einem mit Kies bestreuten Weg, der in Serpentinen nach oben führte.

An der nächsten Biegung des Weges nach links befand sich eine Erweiterung der Kiesfläche nach außen hin – und auf dieser Fläche stand im Schatten einer sehr alten Linde ein roh gezimmerter Holztisch mit zwei Bänken. Auf der einen Bank saß ein etwa siebzigjähriger Mann mit weißem Vollbart und eleganten, braunen Brillen und klopfte in einen Laptop, den er vor sich auf dem Tisch stehen hatte. Ihm gegenüber saß eine etwa gleich alte Frau, die Kopfhörer trug und offenbar konzentriert irgendeinem Vortrag lauschte.
Das Gesicht der Frau konnte Harald nicht sehen, aber der alte Mann mit seinem Bart und den Brillen faszinierte ihn. Etwas Durchgeistigtes war in seinem Blick, der zwischen einem aufgeschlagenen, alten Buch und dem Bildschirm wechselte.
Harald trat langsam näher. Da bemerkte er, dass das Buch des alten Mannes kyrillische Buchstaben enthielt. Der alte Mann sah etwas irritiert auf.


„Entschuldigen Sie meine Neugier“, sagte Harald. „Dürfte ich von Ihnen eine Skizze machen? Ihr Gesicht sieht so interessant aus, wenn Sie da so arbeiten. Was machen Sie eigentlich da?“„Ich übersetze“, sagte der alte Herr. „Das wird a Neuübersetzung von Jewgenij Samjatins utopischem Roman ‚Wir’. Kennen Sie den?“
„Bedaure, leider nein“, sagte Harald.
„Die Geschichte von D-503 und I-330“, erklärte der Übersetzer. „Die Neuübersetzung is schon lang notwendig. Der Roman stammt von 1920 und die bisherigen Übersetzer haben zu viel Kommunismus rein ’bracht. Der hat damals Hochsaison g’habt. B’sonders in der Sowjetunion.“
„D-503?“, entfuhr es Harald.
„Die Personen haben keine Namen mehr, sondern nur noch Nummern. Die Männer beginnen mit einem Konsonanten und die Frauen mit einem Vokal. D-503 ist Ingenieur und I-330 Rebellin gegen den ‚Einzigen Staat’. Gibt natürlich Bröseln zwischen den beiden.“
„Interessant“, sagte Harald. „Darf ich Sie also malen?“
„Wenn i weiter machen kann, is mir das wurscht“, sagte der alte Mann. „Übrigens, ich heiß Willimsky. Das da is meine Frau Annemarie. Die hört sich grad Mahler an.“
„I werd’ Sie net stören“, versprach Harald und setzte sich ganz ans Ende der Bank, auf der die alte Dame saß. „Übrigens, i heiß Harald Brunner.“
Frau Willimsky lächelte Harald kurz an, als er Platz nahm, unterbrach aber ihr konzentriertes Zuhören nicht.

Harald packte seine Malutensilien aus. Interessiert sah ihm Frau Willimsky zu, behielt aber die Kopfhörer über ihren Ohren. Harald begann mit einem weichen Bleistift, die Konturen von Herrn Willimskys Gesicht auf den Zeichenkarton zu bringen.
Ganz leise hörte Harald die Musik aus Annemarie Willimskys Kopfhörern und vermeinte, den Marsch am Ende des ersten Satzes von Mahlers dritter Symphonie zu erkennen. Instinktiv sah er Frau Willimsky an und dachte: ‚Um Himmels Willen, die muss ich ja auch malen! Wie intensiv die zuhört!’
Aber vorerst konzentrierte er sich auf das Gesicht des Übersetzers. Es war ganz still in der Luft – höchstens Vögel waren zu hören
Noch hatte Harald seine Zeichnung nicht fertig, aber zwischendurch begann er bereits, die geröteten Wangen des Übersetzers zu kolorieren. Den rötlichen Farbton musste er treffen, er machte das Gesicht des Übersetzers so lebendig!

Herr Willimsky sah auf. „Sie haben aber a eigenartige Methode“, sagte er. „Die Zeichnung is no net fertig, aber die Farb’ haben S’ schon dazu ’tan.“
„Ja. Damit i den Ton net vergess’. Der is nämlich wichtig.“
„I sollt vielleicht a Blutdruckpulverl nehmen“, überlegte Herr Willimsky. „Wenn i so rot in der Visage bin.“
Jetzt reagierte Frau Willimsky: Sie nahm den Kopfhörer ab und sagte: „Hast in der Früh die Tabletten net g’nommen, Viktor?“
Viktor zuckte die Schultern. „I glaub schon.“
„Dass du nie aufpasst in der Früh“, warf ihm seine Frau vor. „Genau sechs Pulverln brauchst jeden Tag! Merk dir das doch endlich!“
„Ja, ja, nehm i halt jetzt eins. I werd’s schon überleben, is doch a Blödsinn, das Ganze!“
Viktor griff in seine Sakkotasche und zog eine Packung mit Tabletten hervor. Umständlich entnahm er der Packung eine ganz kleine rosafarbene Pille und schluckte sie. Annemarie setzte die Kopfhörer erneut auf.
„Mahler? Die Dritte?“, fragte Harald, bevor die Kopfhörer wieder dicht auf den Ohren saßen. Annemarie nickte. „Uralte Aufnahme“, sagte sie. „Chicago Symphony Orchester unter James Levine. Alt Marilyn Horne.“

Jetzt trat Ruhe ein, auf dem Tisch, unter der alten Linde. Viktor klopfte auf die Tastatur, Annemarie lauschte dem zweiten Satz und Harald malte. Die Vögel waren recht aktiv und flogen ein Kunstflugprogramm, das sie mit lautem Zwitschern offenbar kommentierten.

Das Porträt des Viktor Willimsky nahm Gestalt an. Der Übersetzer stand plötzlich auf, stellte sich hinter Harald und gab folgenden Kommentar ab: „Erinnert ein bisserl an Koloman Moser. Machen Sie das absichtlich? Der Kolo Moser hat wieder Saison, wie man hört!“
„Mit Jugendstil hab ich nie viel am Hut g’habt“, gestand Harald. „Sie meinen, weil das so was wie a Mischung aus Karikatur und Porträt is?“
„Nein. I hab auf die feine Linienführung ang’spielt. Und auf den Hintergrund. Ganz wie dem Moser seine Porträts!“
„Ihre Frau würd i auch noch ganz gern porträtieren“, gestand Harald.
Viktor setzte sich wieder zu seinem Laptop. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, sagte er.
Viktors Porträt war so gut wie fertig. Den Rest konnte Harald auch in seinem Hotelzimmer machen. Er Legte das Blatt zum Trocknen auf den Tisch und wechselte den Platz hinüber auf Viktors Bank.


Annemarie hatte die Augen geschlossen und ließ mittlerweile den vierten Satz auf sich wirken. Schon während der ersten Bleistiftstriche auf dem Karton fiel Harald auf, dass das einst eine sehr schöne Frau gewesen sein musste. Auch jetzt noch, trotz aller Falten, wirkte das Gesicht überaus anziehend. Völlig entspannt lauschte Annemarie der Stimme des Altgesangs und manchmal zuckte der Ansatz eines Lächelns über ihre Lippen. Mahlers Dritte ist ein relativ schwieriges Werk, aber diese Annemarie Willimsky genoss jeden einzelnen Takt davon.
Harald ertappte sich dabei, dass er überlegte, wie das bisherige Leben dieser schönen Alten verlaufen sein musste. Allzu viele bange oder tragische Zeiten konnte sie wohl nicht hinter sich haben, sonst wären ihre Gesichtszüge nicht so ebenmäßig gewesen. Im Gegensatz zu ihrem Mann war aber dieses Gesicht schwieriger zu gestalten. Es besaß zu viele unterschiedliche Spuren. Und jede einzelne war es wert, festgehalten zu werden.

Da schaltete Annemarie Willimsky das Tongerät plötzlich aus. „Die ersten vier Sätze reichen heute Vormittag“, kommentierte sie. „Ist doch nicht die leichteste Kost. Fünfter und sechster Satz dann morgen.“
„Die Dritte passt aber zu einem Vormittag im Kurpark von Baden“, meinte Harald. „Nur auf die Gesangsstimmen hätte Majestro Gustav verzichten können.“
„Finden Sie?“ Annemarie war offensichtlich überrascht.
Harald zuckte die Schultern. „In eine Symphonie gehört kein Gesang“, sagte er.
„In eine klassische“, sagte Annemarie. „Mahler ist aber Hochromantiker auf dem Übergang zur Moderne! Da darf man schon was Neues ausprobieren! Beethoven hat’s ja auch gemacht in seiner Neunten! Und Sie machen’s auch. Der Hintergrund auf dem Porträt! Nur grün, in Schattierungen.“
„Hat man schon im Jugendstil so gemacht“, wandte Harald ein.
Viktor schaltete sich ein. „Ich sag ja, ein neuer Koloman Moser!“
„Dann is es nur was Epigonenhaftes“, schwächte Harald ab.
„Aber vielleicht lukrativ“, sagte Viktor geheimnisvoll.

Harald hörte zu malen auf. „Wieso denn das?“
Erstaunt sah Viktor den Harald an: „Noch nix g’hört von der Galerie Glaser? Die haben momentan einen richtigen Run auf Koloman Moser! Die suchen alles, was irgendwie Ähnlichkeit mit dem alten Kolo Moser hat!“
„Kenn i gar net“, gestand Harald.
„Galerie Glaser in Fischamend“, sagte Viktor. „Ganz in der Näh’ von dem Fischrestaurant, das jetzt so modern is’. Bieten S’ doch die zwei Porträts denen an! Wenn’s die net nehmen, kauf ich s’ Ihnen ab!“
„Hören S’, Herr Willimsky, das is doch nur a Experiment! Und i mal nur aus Lust an der Freud. Das sind Schmierereien von ein’ Dilettanten! I tät mi genieren, wenn Sie mir was dafür zahlen täten!“
Da schaltete sich Annemarie ein: „Ein Maler, der die dritte Mahler kennt, is ka Dilettant. Der versteht was von Kunst!“

„Ich bitt’ Sie! I bin a Mathe-Lehrer am Gymnasium! Null Ahnung von Kunst“, beschwor Harald die Annemarie.
„Sie san a Lehrer? War i aa! Russisch an der Universität. Jetzt bin i schon emeritiert“, erklärte Viktor. „Na ja, schreib i halt Übersetzungen. Das kann i mit 84 aa no.“
„Vierundachtzig? Da sehen Sie aber viel jünger aus!“
„Danke. Mei’ Frau is auch nur zwei Jahr’ jünger als i!“
„Na, mehr als siebzig hätt’ i ihr net ’geben!“, gestand Harald und erntete ein freundliches Lächeln von Annemarie.
„Und? Macht der Job Spaß?“, wollte Viktor wissen.
„Die jungen Halbstarken machen mir Schwierigkeiten“, gestand Harald.
„Wo wohnen Sie denn da in Baden?“
„Im Splendid.“
„Wir wohnen im ‚Ambassador’. Könnten Sie heut mit uns am Abend essen? I lad’ Sie ein! Vielleicht kann i Ihnen ein paar Tipps geben.“
Harald zögerte etwas. Dann sagte er: „Müsste machbar sein. Danke vielmals!“
Kurz darauf verabschiedete sich Harald. Er hatte seine Physiotherapie im Thermalbad.

Während er im warmen, aber übel riechendem Wasser seine Übungen absolvierte, kamen ihm immer wieder Viktor und Annemarie in den Sinn. Über achtzig waren die beiden jetzt, strotzten aber immer noch vor Lebensfreude. Harald wollte unbedingt seine beiden Porträts noch am Nachmittag fertig machen – und am Abend den beiden präsentieren.

Das Abendessen im Ambassador führte zu einer echten Freundschaft zwischen den beiden lebenslustigen Alten und Harald. Und der emeritierte Universitätsprofessor versprach Harald, mit dem Herrn Glaser von der Galerie reden zu wollen. Das wäre ein ehemaliger Student von ihm, der ins Kunstgeschäft gewechselt hätte. Und außerdem bekam Harald den Hinweis, der jetzt neuerdings so begehrte Koloman Moser habe seinerzeit dem Schweizer Maler Ferdinand Hodler nachgeeifert. Harald möge sich doch mit Hodler beschäftigen und dessen Stil ein wenig in seine Gemälde einfließen lassen.
Alles in allem war es ein sehr fruchtbarer Abend und Harald und die Willimskys trafen einander noch einige Male im Kurpark, dann war Haralds Kuraufenthalt zu Ende.


Nach seiner Rückkehr nach Wien rief Harald dann im Internet „Hodler“ auf. Und da man heutzutage im Internet fast alles aufrufen kann, kriegte er einige eindrucksvolle Gemälde geliefert. Besonders faszinierte ihn der „Holzfäller“, das Gemälde eines kleinen, aber kernigen Naturburschen, der mit der Axt ein etwas mickriges Bäumchen umhieb. Dabei war dieser Holzfäller eher von der schmächtigen Art, aber der sehnige kleine Mann strahlte eine besondere Art von Kraft aus.
Harald nahm sich das Motiv vor. Anstelle der Axt handhabte sein Holzfäller eine Motorsäge und der Baum war auch von einem anderen, etwas größeren Kaliber.
Das Gemälde gemahnte in einer seltsamen Art ein wenig an die Arbeiten von Egger-Lienz, denn Harald hatte dem Waldarbeiter jene kantigen Konturen verliehen, die den Osttiroler Maler so unverwechselbar machen. Und auch die Motorsäge war eher ein Ungetüm aus einem Alptraum als ein nützliches Werkzeug.

Herr Paul Glaser von der Galerie war zwar sehr freundlich, als Harald kurz nach Schulbeginn in Schwechat erschien, sah sich aber den Waldarbeiter lange wortlos an.
Dann sagte er: „Herr Brunner, ich hab mir nach der Erzählung des Professor Willimsky eigentlich was anderes erwartet. Mehr in der Richtung Kolo Moser. Das da ist aber ein halber Albin Egger-Lienz. Ich nehm’s natürlich, schon dem Professor zu liebe. Aber ob’s ein Erfolg wird, kann ich wirklich noch nicht sagen.“
„Na ja, das ist eher ein weiter entwickelter Ferdinand Hodler“, erklärte Harald. „Und Hodler hat ja etwas von Egger-Lienz schon vorweg genommen. Aber schauen Sie sich die beiden Porträts an. Den Viktor und die Annemarie Willimsky.“
„Das ist schon was Anderes“, sagte Paul Glaser, als sie Harald ihm übergab. „Das bring i leicht an! Zumal sich der Viktor in letzter Zeit einen Namen gemacht hat als russisch Übersetzer. Was wollen S’ denn dafür?“
„Hab ka Ahnung, was das wert sein könnt…“
„Na, ich versuch, möglichst viel rauszuholen und Sie zahlen mir zehn Prozent Provision. Einverstanden?“
Harald war zwar nicht einverstanden, aber er vertraute Professor Willimsky und deshalb sagte er ja zu dieser unsicheren Vereinbarung.

Und es war gut so gewesen. Nicht einmal drei Tage dauerte es, da rief Paul Glaser an. Die beiden Porträts hätten zusammen zehntausend gebracht und neuntausend könne sich Harald abholen. Nur brauche er noch weitere Bilder! Wenn möglich weitere Porträts! Ob er nicht einige hübsche „Hasen“ kenne?
Nun, Hasen kannte Harald genug. Ob die allerdings hübsch genug waren?

Aber gleich am nächsten Tag fand er ein Motiv.
Er hatte erst später ins Gymnasium zu kommen. Und als er das Lehrerzimmer betrat, saßen da seine Schülerin Vivian Schilcher und die Deutschprofessorin Frau Magistra Beate Friedrich beisammen und wälzten Bücher und handschriftliche Blätter. Und die Professorin hatte eine neue Brille auf!
Es war ein interessanter Anblick: Die junge, frische Vivian und die strenge, aber korrekte Beate, die mit ihrer alten Hornbrille immer so unnahbar ausgesehen hatte, jetzt aber fast fröhlich wirkte. Sie sprach soeben auf die Vivian ein und die machte sich Notizen.

„Was treibt Ihr denn da?“, wollte Harald wissen.
„Ach, die Vivian macht ein Referat über Schillers Rolle bei der Zusammenarbeit mit Goethe in Weimar. Da geb’ ich ihr ein paar Tipps“, sagte Beate. Und ihre Augen blitzten so richtig fröhlich hinter der neuen, geschmackvollen und modischen Brille.
Da holte sich Harald einen Zeichenkarton und setzte sich den beiden gegenüber. „Darf ich Euch zeichnen?“, fragte er.
Mag. Friedrich lächelte ihn an. „Sicher. Aber warum? Außerdem sind wir bald fertig.“
„Macht nix“, sagte Harald. „Die Einzelheiten kann ich nachträglich machen.“
Die beiden Frauen konzentrierten sich wieder auf ihre Unterlagen, die 17-jährige und die 38-jährige – und sie nahmen gar keine Notiz von Harald, der sich beeilte, die beiden Gesichter auf seinen Zeichenkarton zu bringen.

Beide hatten so einen seltsamen Gesichtsausdruck. Zum Teil konzentriert und zum Teil in Gedanken versunken. Und immer intensiver fühlte Harald, dass auch Beate eine auf ihre Art schöne Frau war.
Aber die Besprechung dauerte doch länger und Harald hatte das Doppelporträt fast fertig, als Beate ihre Schülerin verabschiedete. Dann sah sie sich lange das Werk ihres Kollegen an.


„Das ist für die Galerie Glaser in Fischamend“, erklärte Harald. „Der Glaser will was in der Art von Kolo Moser.“
„Von dem kenn’ ich keine Porträts“, gestand Beate. „So viel ich weiß, war der Kolo Moser ein Kunsthandwerker. Hat bei der ‚Wiener Werkstätte’ mitg’macht. Und bei der Secession. Und außerdem kenn ich ihn als Möbeldesigner.“
„Porträts hat er auch g’macht. Hauptsächlich Selbstporträts und Bilder von Unbekannten“, erklärte Harald.
„Und auf den hast dich jetzt verlegt, Harald?“
„Na ja, es bringt finanziell was“, sagte Harald. „Die Galerie Glaser in Fischamend hat so was wie a Renaissance von dem Kerl bewirkt.“
Beate zuckte die Schultern. „Na ja, wenn’s was bringt.“ Aber Harald hatte den Eindruck, dass Beate nicht so ganz einverstanden war.
„Du haltest net viel davon“, sagte er.
„I halt’ net viel von Epigonen“, gestand Beate. „Kunst soll was Neues versuchen.“
„Bei Porträts?“, wunderte sich Harald. „Da war doch alles schon einmal da! Inklusive Surrealismus.“
„Das mein’ i net. Was Neues hab i g’sagt, etwas, das es noch net gibt!“
„Und wie soll i da drauf kommen?“, fragte Harald etwas gereizt.
„Weiß i net. Probieren vielleicht. I versteh nix von Malerei“, versetzte Beate. „Und jetzt muss i in die Klass'.“ Sie stand auf, sah Harald etwas spöttisch an und verzog sich zu ihren Schülern. Harald blieb etwas verunsichert zurück.

Die Stunde, die er danach zu halten hatte, war Mathematik und es ging um Grenzwerte von Differentialquotienten. Aber Harald konnte sich nicht konzentrieren und am Ende kam bei dem Beispiel, an dem er den Limes berechnete, ein völlig unmöglicher Wert heraus. Und dann konnte Harald noch dazu den Fehler nicht finden, den er zweifelsohne gemacht hatte.
„Leute, da is der Wurm drin“, gestand er schließlich. „Muss ich mir zu Haus anschauen. Wir machen nächste Stunde weiter.“
Die Vivian schaute ihn so eigenartig an. So ein bisschen spöttisch, aber auch ein gewisses Mitleid war in dem Blick. Am liebsten hätte Harald das Porträt der Vivian Schilcher sofort gemalt. Aber das ging natürlich nicht.

Um 14 Uhr war der Unterricht zu Ende. Harald packte seine Utensilien ein und stieg langsam die Treppe vom ersten Stock hinunter. In der Aula standen Vivian und Robin Weingartner und tuschelten miteinander.
„Na, heckt ihr was aus? Wieder was gegen mich?“, fragte Harald in aller Unschuld.
„Doch nicht gegen den neuen Kolo Moser“, sagte Vivian.
Das hatte sich ja ungeheuer schnell verbreitet! Das musste diese Friedrich gewesen sein, die Deutschprofessorin. Sonst wusste ja in der Schule niemand von Haralds neuer Tätigkeit!
„Die Frau Professor Friedrich verbreitet also Gerüchte“, stellte Harald fest.
„Da können Sie doch nix dagegen haben“, protestierte Robin. „Sie hat nur gesagt, dass Sie als neuer Koloman Moser bekannt werden. Und dass Sie ein guter Maler sind.“ Und Vivian ergänzte: „Kurven können Sie ja auch so gut zeichnen auf der Tafel!“ Und dann machte Robin die Sache komplett: „Nur beim Limes geht’s nicht so gut.“
„Ich war unkonzentriert“, gestand Harald. „Ich hab nachgedacht, wie man was Neues in die Porträtmalerei bringen könnte. Darüber hab ich mich heute mit der Frau Professor Friedrich unterhalten.“
„Lassen Sie was weg“, schlug Robin vor.
„Ja. Das Gesicht und die ganze Malerei“, spottete Harald.
„Na, sehen S'! Haben Sie ja schon was“, meinte Robin und verließ gemeinsam mit Vivian die Schule.

Harald wollte auch nach Hause. Aber als er das große Haupttor des Gymnasiums öffnete, verhielt er plötzlich. Dann rannte er beinahe ins Schulgebäude zurück und stürmte die Treppe hoch in den ersten Stock. Das Lehrerzimmer war offen.
Harald suchte die Zeichnung von Vivian und ihrer Lehrerin hervor, die er in seinen Schrank gelegt hatte. Er legte sie auf den nächsten Tisch und sah sie kritisch an. Dann griff er nach einem Radiergummi und entfernte alle Linien, die die Kopfformen der beiden Frauen andeuteten. Bald waren nur mehr die Gesichter auf dem Papier.

Jetzt holte sich Harald seine Farben und innerhalb der nächsten Stunde entstanden zwei ausdrucksvolle Porträts, die aus einem farbenfrohen Hintergrund den Betrachter ansahen. Aber es waren nur zwei Gesichter, die Kopfformen verschwammen mit dem Farbhintergrund. Man konnte nicht erkennen, wo ein Gesicht endete und der Hintergrund begann.
Die Augen waren die Hauptsache an dem Gemälde. Harald arbeitete sie besonders sorgfältig aus. Ebenso die Münder der beiden Porträtierten. Insgesamt ergaben sich zwei ausdrucksvolle Gesichter, die aber auf besondere Art unvollständig und trotzdem vollendet wirkten. Es war eine völlig neue Art der Darstellung zweier Menschen.

Ob sich diese neue Art der Porträtmalerei durchsetzen wird, ist noch ungewiss. Harald malt seither einige seiner Porträts so. Die Bilder einiger seiner Kollegen und Schüler sind schon so entstanden und das Ehepaar Willimsky ist ebenfalls auf diese Art dargestellt worden.
Aber nach wie vor bringen dem Harald Brunner seine in Anlehnung an Koloman Moser gemalten Werke einiges mehr ein!
Na, warten wir das ab…

Anmerkungen
[1] Die Waden von vorne gedreht = zur Schnecke gemacht

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