KunstGeschichten

KunstGeschichte: Der Turm zu Babel

Wer hatte nicht einmal den Wunsch, ein berühmtes, museales Ausstellungsstück in den heimischen Hallen zu präsentieren? In Erich Wurths neuer KunstGeschichte handelt es sich bei dem ersehnten Kunstwerk ausgerechnet um Brueghels »Turm zu Babel«. Ein Sinnbild des Scheiterns. Wird es einem der beiden engagierten Räuber trotzdem gelingen das Gemälde zu stehlen?

Signore Paolo Casanova war im weitesten Sinn zum Umfeld von Signore Silvio Berlusconi zu rechnen. Er besaß ein Bauunternehmen in Milano und zählte außerdem zu den ganz Großen in der norditalienischen Immobilienbranche.
Ganz so viele Millionen wie Signore Berlusconi hatte er zwar nicht, sein Vermögen stand aber dem seines guten Bekannten um nicht viel nach. Erst jetzt hatte er sich ein riesiges Grundstück im Piemont unter den Nagel gerissen und plante dort eine Reihe von Appartementblocks, gleich außerhalb von Torino. Das würde ein ausgezeichnetes Geschäft werden!

Privat bevorzugte Paolo, jetzt nach seiner dritten Scheidung, ein kleines, einfaches Häuschen in der Nähe von San Remo, wo er seine Geliebten zu empfangen und unterzubringen pflegte. Das Häuschen war ja wirklich nur etwas sehr Bescheidenes, keine 600 Quadratmeter Wohnfläche, mit Doppelgarage für seinen Ferrari und seinen Rolls Royce, einem Bootshaus für seine beiden kleinen Yachten und einem Wintergarten, der seine Gemäldesammlung enthielt.

Wenn er eine seiner „neuen“ jungen Damen durch diese kleine Galerie führte, pflegte er gehörig anzugeben. Er hatte sich etwa vor seiner großen Yacht, die in Monte Carlo lag, malen lassen und pries das Werk in den höchsten Tönen an. Der angesagteste Künstler Roms hatte es angefertigt und Paolo gestand auch immer den Preis, den er dem Maler zugesteckt hatte. In der Privatwirtschaft muss man ja doch auch ein wenig Mäzenatentum zeigen!

Seine Leidenschaft galt aber nicht der modernen Malerei. Die alten Meister waren ihm lieber! Und vor allem ein Gemälde hatte es ihm angetan. Weil es so gut zu ihm passte:
Er hieß Casanova, also so etwas wie „Neuhauser“, war Baulöwe und Eigentümer von etlichen Wohnblocks, da hätte er noch gerne das passende Gemälde dazu gehabt: Den Turm zu Babel, von Breughel, dem Älteren, aus dem Jahr 1563. Und zwar die Wiener Version.

Paolo hatte noch nichts davon gehört, dass das Gemälde Sinnbild eines Scheiterns ist. Der Urenkel Noahs und erste Gewaltherrscher auf Erden Nimrod — zu sehen in der linken Bildecke, wo er Huldigungen der Steinmetzen entgegen nimmt — ließ sich nach islamischer Überlieferung als Gott verehren. Um Allah aus dem Himmel zu stürzen, baute er einen außerordentlich hohen Turm, aber das Vorhaben scheiterte. Denn Gott strafte die am Bau beteiligten Menschen mit Vielsprachigkeit, so dass sie sich nicht mehr verständigen und den Turm vollenden konnten. Zugleich ist die Geschichte als Warnung an die menschliche Hybris zu verstehen, Gott erreichen zu wollen.

Für Paolo war das Bauwerk jedoch nichts anderes als der Ausdruck einer gewissen Allmacht des Bauunternehmers. Wenn ein Baumeister etwas Großartiges schaffen wollte, dann konnte er das auch! So wie er selbst natürlich!

Er betrachtete den noch halb offenen Bau sozusagen als Paradestück der Verherrlichung des großen Baumeisters. Die Innenstruktur war teilweise sichtbar und das halb fertige Bauwerk schien den Eindruck zu machen, als wäre es für die Ewigkeit errichtet. Der Turm war in den Augen von Paolo Casanova ein monumentaler Bau, der ihm als Bauunternehmer sehr gut anstand!
Das Gemälde wollte er also unbedingt haben! Daran änderte sich durch sein mangelndes Kunstverständnis überhaupt nichts!

Er hatte auch schon mit Frau Direktor Sabine Haag vom Kunsthistorischen Museum in Wien telefoniert und ihr ein Angebot für das Gemälde gemacht. Ja, er hatte die Dame sogar zu sich eingeladen! In sein Haus bei San Remo! Obwohl die Dame ja nicht in die Kategorie jener Damen fiel, die er sonst gern um sich scharte! Ja, sie war in gewisser Weise sehr attraktiv, aber mit der kleinen Dodo aus dem Nachtklub, die er hin und wieder kommen ließ, war sie natürlich in keiner Weise zu vergleichen!
Na, die Frau Direktor wusste wahrscheinlich gar nicht, was ihr da entgangen war. Immerhin hatte er außer dem Wochenende mit dem unvergleichlichen Paolo eine namhafte Summe geboten! Aber die Frau Direktor hatte nur darüber gelacht.
Allerdings, den Turm zu Babel wollte er trotzdem haben! Es gab ja noch andere Mittel und Wege, das Bild zu kriegen. Er dachte da vor allem an den Marcello.


Dieser Marcello Bocek war der Sohn der Heidi, die statt ihres tschechischen Namens Bocek den „Künstlernamen“ Mastrojani trug, während sie sich in Mailand aufhielt. Sie war da der Star des „Trocadero“ gewesen, solange sie mit ihrem Aussehen punkten konnte. Und sie war einige Male bei Paolo in San Remo gewesen, wenn seine damalige Frau sich in Mailand aufhielt. Paolo hatte nur die besten Erinnerungen an diese kleinen Orgien.

Nun, mittlerweile war Heidi älter geworden und hatte das Kapital, das sie sich in Mailand erwirtschaftet hatte, in einem Bordell in Wien angelegt, das ganz ausgezeichnet lief. Und ihr Sohn Marcello organisierte den Laden.
„Onkel Paolo, wenn du einmal was aus Wien brauchst, sag's mir. Ich kann dir alles beschaffen“, hatte Marcello seinerzeit versprochen.
Dabei hatte Marcello in erster Linie an spezielle Frauen gedacht, von der Araberin bis zur Chinesin, von der weißhäutigen Russin bis zu den ganz dunklen Afrikanerinnen.
Jetzt sollte er halt den Turm zu Babel besorgen. Paolo war bereit, sehr gut dafür zu bezahlen.
Andererseits war Marcello auch gern bereit, die Sache zu übernehmen. Ein Gemälde aus dem Kunsthistorischen Museum heraus zu holen, konnte doch so schwer nicht sein!

Marcello stellte sich alles ganz einfach vor. Mit fünf oder sechs Mann hinein spazieren, das Gemälde nehmen, dazu ein paar Touristen als Geiseln und dann ab die Post. Verfolgt würden sie kaum werden, die Aufseher im Museum waren immerhin Beamte. Und einen Wiener Beamten bringt so leicht nichts aus der Fassung.

Allerdings hatte Marcello einen Konkurrenten und wusste nichts davon.
Da gab es einen gewissen Kurt Steinschlager, der sich auf Juwelen spezialisiert hatte und in loser Verbindung mit einigen Paten der Camorra stand. So ein internationaler Verband von Kriminellen hatte seine Vorteile. Und sei es nur der Informationsvorsprung betreffend die Verfügbarkeit ausgesuchter Schmuckstücke.

Paolo bekam den Hinweis auf den Kurt anlässlich einer Besprechung mit einem Neapolitaner namens Giuseppe Rossi, der im Müllgeschäft tätig war und der in San Remo ebenfalls eine kleine Absteige projektierte. Rossi hatte den Herrn Steinschlager als verlässlichen Partner kennen gelernt und empfahl ihn eindringlich.
Na, und da Paolo hinter dem Geschäft mit der „kleinen Absteige“ des Neapolitaners her war, gab er eben dem Steinschlager ebenfalls den Auftrag, den Turm zu Babel zu beschaffen.
Wer zuerst liefern konnte, sollte das Geschäft machen. Aber davon, dass noch ein Anderer denselben Auftrag erhalten hatte, sagte er den beiden nichts.

Für beide Beauftragten, sowohl Bocek als auch Steinschlager, war es natürlich wichtig zu wissen, wo sich der Gegenstand der Begierde Casanovas denn genau befand. Und so unternahmen die beiden präsumptiven Räuber des Gemäldes jeweils einen Lokalaugenschein.
Sowohl Marcello als auch Kurt waren nie vorher im Kunsthistorischen Museum gewesen. Umso mehr beeindruckte die historische Architektur von Hasenauer und Semper den Kurt, dem ja wegen seiner Beschäftigung mit Schmuckstücken ein gewisser Sinn für Edles und Schönes zu Eigen war. Dem Marcello entlockte die prunkvolle Eingangshalle allerdings nur ein mattes Lächeln. Was diese alten Knacker da für Mühen in Kauf nahmen, um einen Eingangsbereich möglichst schwülstig zu gestalten!

Beide fanden sie den Turm zu Babel im Hauptgeschoß, also dem ersten Stockwerk und beide sahen keine großen Probleme, um an das Gemälde heranzukommen. Kurt plante, mit einer Leiter in der Nische zwischen Hauptfront und dem vorspringenden Ende des Seitentraktes am Getreidemarkt an ein Fenster zu gelangen, dieses mittels Diamantschneider zu öffnen und sich das Gemälde zu holen. Zwei Mann mussten dazu genügen. Allerdings brauchte man noch Helfer für den Abtransport.
Marcello hielt an seinem Plan eines offenen Überfalls fest. Vier oder fünf Mann konnten die Sache mit Leichtigkeit durchziehen. Dazu noch einen, der das Fluchtfahrzeug fuhr.
Dass die beiden zum Diebstahl beauftragten voneinander erfuhren, war auf eine Nachlässigkeit des Paolo Casanova zurückzuführen.

Marcello war seinerzeit in Italien aufgewachsen und sprach deshalb gut Italienisch. Und Marcello rief seinen „Onkel Paolo“ gerade zu dem Zeitpunkt an, als Giuseppe Rossi wieder einmal bei Paolo vorgesprochen hatte, um eine Planänderung an seinem „Häuschen“ zu besprechen.
Paolo unterhielt sich ganz zwanglos mit seinem Lieferanten des Gemäldes und Signore Rossi bekam natürlich mit, worum es da ging.


Noch am selben Tag erfuhr Kurt Steinschlager von dem zweiten Ansatz zur Beschaffung des Gemäldes. Und zwar in allen Einzelheiten. Denn Signore Rossi hatte aus Paolo natürlich herausgeholt, um wen es sich bei dem Konkurrenten des Kurt handelte.
Noch am selben Abend führte Kurt einen Besuch im „Lusthaus Handelskai“ durch, dem Bordell der Heidi Bocek. Dort wurde er von Tamara bedient, einer kleinen, schwarzhaarigen Ungarin mit beachtlicher Oberweite. Und diese verschaffte (veranlasst durch ein großzügiges Trinkgeld) dem Kurt auch ein Gespräch mit Marcello.

Marcello trug ein violettes Hemd mit gelber Krawatte, sowie einen knallroten Anzug und hatte außerdem eine Kanone in einem Schulterhalfter dabei. Er war recht freundlich, allerdings nur, bis Kurt ihm geraten hatte, seine dreckigen Finger vom Kunsthistorischen Museum fernzuhalten.
Marcello, der sich gerade vorhin die Pfoten gewaschen hatte, goutierte es gar nicht, dass man seine Pranken als dreckig bezeichnete und verlangte seinerseits, dass Kurt sich nicht um Dinge kümmere, die ihn genau genommen einen Dreck angingen. Er benutze das Kaliber .44 Magnum und da rinne der Saft eines durchsiebten Kadavers relativ rasch aus. Da brauche er dann den Notarzt nicht mehr zu bemühen.
Kurt ließ sich nicht einschüchtern. Von einem Osterhasen mit rotem Anzug ließe er sich keine Vorschriften machen, sondern verschaffe einem „eine schöne Leich', mit Musik und Grabrede“. Und einen seriösen schwarzen Anzug für die Aufbahrung stelle er auch gern zur Verfügung.
Die beiden Herren gaben noch einige solcher Freundlichkeiten von sich, aber sie wurden nicht tätlich. Dazu waren sie beide zu sehr Profis.
Man einigte sich hierauf, dass jeder der beiden es tunlichst verabsäumen sollte, dem jeweils anderen in der Nähe des KHM vor die Pupille zu laufen, wolle er ein Blutbad mit sich selber als Protagonisten vermeiden.
Darauf machte Kurt den Abgang, nicht ohne dem Marcello zu seiner kleinen Ungarin zu gratulieren, die einen erstklassigen Service geboten hatte.

Kaum war Kurt aus dem Büro des Marcello, galoppierte dieser zu seinen „Buckeln[1]“ und sandte einen davon dem Kurt nach. Es kam Marcello drauf an, zu wissen, wer ihm da in die Quere gekommen war. Der „g'schupfte[2] Harry“ brachte auch brauchbare Informationen zurück: Name, Wohnort und Stammlokal des Kurt Steinschlager.
Darauf begann das große Nachdenken: Wie konnte man der Schmutzkonkurrenz am besten den Garaus machen? Kurt dachte kurz sogar an die Möglichkeit, das „Lusthaus Handelskai“ abzufackeln. Aber um die Tamara wäre es schade gewesen.

So machte also Marcello den ersten Versuch, seinen Widersacher auszuschalten.
Der Kurt Steinschlager hatte ein kleines, relativ modernes Appartement im Zehnten Bezirk, nahe der Inzersdorfer Straße. Diese kleine Wohnung lag im 6. Stockwerk und verfügte über einen kleinen Balkon mit einem Metallgeländer. Und Harry erzählte, dieses Geländer wäre relativ leicht zu lockern. Man brauche nur die Metallsteher der Konstruktion anzusägen. Dann würde der Kurt Steinschlager seinem Namen alle Ehre machen, wenn er wie ein Stein im Innenhof auf den Beton schlüge, sobald er sich über das Geländer beugte.

Darauf stellte der Marcello dem Harry eine Metallsäge sowie einen raffinierten Nachschlüssel zur Verfügung und beauftragte ihn, den Abgang des Kurt vorzubereiten. Er solle nur gut aufpassen von wegen der Fingerabdrücke:
Harry schnappte sich seinen Kollegen Benjamin und machte sich nach Favoriten auf die Socken.
Erst gab es eine kleine Aufregung, weil die türkische Nachbarin des Kurt Steinschlager ihre beiden Kinder, sehr freche acht- und zehnjährige Fratzen vor ihrer Wohnung auf dem Gang spielen ließ. Es dauerte fast eine Stunde, bis die beiden Rangen endlich weg waren und Harry mit seinem Kumpan in die Wohnung eindringen konnte.

Die Metallstäbe des Balkongeländers waren aber bald fast vollständig durchgesägt. Nur die junge Türkin auf dem Nachbarbalkon schaute neugierig.
Harry rief ihr ein kurzes „Reparieren“ hinüber.
„Ah, kaputt! Reparieren“, sagte die Türkin und verschwand in ihrer Wohnung.
Als Benjamin und Harry zurückkehrten, berichtete der „g'schupfte“ Harry lachend: „Der wird glauben, er is vom Turm zu Babel abeg'saust, der schiache Wappler!“

Als Kurt Steinschlager abends nach Hause kam, wurde er schon von Frau Özdemir erwartet: „Du machen Achtung auf Balkon“, sagte sie. „Zwei Männer haben repariert, aber ich glaube, du machen Fallen hinunter!“
Was beweist, dass die Frau Özdemir mitdenken konnte.
Kurt ging auf den Balkon und sah nach. Als er die durchgesägten Metallteile sah, kriegte er einen völlig sinnlosen Anfall von akuter Höhenangst und flüchtete ins Wohnzimmer.


Tags darauf kam Kurts Kumpan, der „Schweißer-Willi“ und flickte die durchgesägten Metallteile, wobei er sich freute, diesmal nicht ein Scherengitter oder einen Bären[3] aufschweißen zu müssen, sondern tatsächlich etwas reparieren zu dürfen.
Und dann bereitete Kurt seine Reaktion auf den Mordversuch vor: Marcello sollte in die Donau geschmissen werden.

Zugute kam ihm dabei, dass das „Lusthaus Handelskai“ sich gar nicht direkt am Handelskai befand, sondern an der Verknotung der Fahrbahnen vom Handelskai zur Nordbrücke. Das Bordell lag an der Luntzgasse im Zwanzigsten Bezirk, und von da liegen zur Donau nur mehr die Gleise der Schnellbahn und der Donauländebahn im Weg.
Es kam nur darauf an, den Marcello nächtlicherweise aus seinem Bau zu locken. Der Schweißer-Willi war gern bereit, den Kurt zu unterstützen.

So verfasste der Kurt also ein Schreiben an den Marcello, gezeichnet mit „Madame Helene“ und lud ihn ein, eben diese Madame im Intercont Hotel zu besuchen. Kommenden Mittwoch um 1 Uhr. Sie, Madame Helene, werde dem Marcello ihren Service angedeihen lassen und dann hoffe sie, im „Lusthaus“ eine feste Anstellung zu erhalten. Denn ihr Service wäre einzigartig.
Und dann legten sich der Schweißer-Willi und Kurt zu dem genannten Termin vor dem Lusthaus Handelskai auf die Lauer.

Marcello kam tatsächlich um halb eins aus dem Gebäude. Im knallroten Anzug und alleine. Als er seinen in der Nähe geparkten Alfa Romeo aufsperren wollte, wurde Marcello geschnappt.
Mit einem Totschläger eine Sanfte über die Rübe und dann wurde dem schlappen Marcello die Flossen zusammengebunden. Hände und Füße jeweils mit einer Damenstrumpfhose, damit er wenigstens eine Kleinigkeit von der fingierten Einladung habe. Außerdem sind diese Dinger recht solide, wenn man sie zerreißen will.
Und dann trugen Willi und Kurt den weggetretenen Chef des „Lusthauses“ über die Schienen hinüber zur Donau und schmissen ihn in die doch recht kühlen Fluten. „Ein' Pass braucht er bis zur serbischen Grenz' net. Es lebe die EU“, sagte Kurt, als sie zu seinem Auto zurückgingen.

Marcello war die erste Zeit nach seinem unfreiwilligen Eintauchen in den Strom etwas in Bedrängnis. Sogar etwas sehr in Bedrängnis. Er war natürlich aufgewacht, als er ins Wasser tauchte, aber seine Beweglichkeit war leicht reduziert. Marcello war ein guter Schwimmer, aber nicht mit auf den Rücken gebundenen Pranken. Verzweifelt riss er an den Fesseln, aber sie hielten.
Nach drei Minuten war Marcello halb ersoffen. Nur mit Mühe kriegte er hin und wieder Luft und die Strömung trieb ihn gemächlich in Richtung Kraftwerk Freudenau.
Wenn er den Kopf übers Wasser bekam, brüllte er um Hilfe. Aber um diese Tageszeit hält sich der Verkehr auf der Donau in Grenzen.

Trotzdem muss ihn irgendjemand gehört haben. Denn beim Notruf 144 ging ein Telefonat ein, dass in der Donau Hilferufe zu hören wären. Etwa in Höhe der Nordbahn Brücke.
Darauf sandte man die Strompolizei dort hin und dem Wachtmeister Kleinschmidt gelang es, einen in einem roten Anzug steckenden Burschen aus dem Fluss zu fischen, der an Händen und Füßen mit stabilen Damenstrumpfhosen gefesselt war. Als man das Wasser aus ihm heraus gedrückt hatte, gab er an, nicht zu wissen, wer ihn zur Wasserleiche hatte machen wollen. Es wäre bestimmt ein sehr übel wollender Konkurrent gewesen. Und übrigens stünde es der Polizei viel besser an, das „Lusthaus Handelskai“ zu überwachen, als hier in stockdunkler Nacht auf der Donau spazieren zu fahren.

Damit endeten allerdings die gegenseitigen Mordanschläge von Kurt und Marcello. Kurt wähnte den Marcello bereits irgendwo entlang der Schüttinsel, also zwischen Bratislava und Estergom und Marcello war sicher, der Kurt habe mittlerweile auf dem Pflaster seines Innenhofes einen umfangreichen, pittoresken Fettfleck hinterlassen.
Zwei Wochen später ging es los.

Das erste Unternehmen startete Kurt. Er hatte sich einen Kombi ausgeborgt und eine ausziehbare Leiter angeschafft. An einem Montag um halb vier Uhr früh wartete der Kombi abgedunkelt auf dem Gehsteig des Getreidemarktes. Das Fenster, das Kurt ausgesucht hatte, befand sich an der Fassade zum Maria-Theresien-Platz hin, der um diese Tageszeit völlig verlassen war. Von der auch jetzt noch befahrenen Straße Getreidemarkt deckte ihn der Gebäudetrakt, der quer zu dem Hauptgebäude an den Getreidemarkt grenzt – und von der Ringstraße her war die Leiter kaum zu sehen, weil die Einbahn im Uhrzeigersinn um die Innenstadt verläuft und kaum ein Fahrer nach links hinten über die Schulter geblickt hätte.


Und hätte tatsächlich jemand die Leiter erblickt – nun, es musste eben schnell gehen! Die Polizei brauchte eine gewisse Zeit, um hierher zu kommen. Da musste Kurt bereits wieder draußen sein!
Um halb vier ging es los. Willi hielt die Leiter und Kurt stieg daran hoch. Als er beim Fenster anlangte, sah er, dass das Glas lange nicht mehr geputzt worden war.
Das Glas des äußeren Fensters war unwahrscheinlich dick. Oder schützte der Dreck auf der Scheibe das Glas vor dem Diamanten? Kurt drehte jedenfalls das Werkzeug, das auf einer Art Zirkel mit Saugknopf im Zentrum saß, wie ein Verrückter. Es dauerte lang, bis der Teil der Scheibe, den Kurt bearbeitet hatte, schließlich heraus brach.

Dahinter war eine zweite Glasscheibe.
Kurt begann noch einmal. Die zweite Scheibe war ebenso dick wie die erste. Ihm rann der Schweiß ins Gesicht und er keuchte wie eine alte Dampflok. Außerdem konnte er die innere Scheibe kaum sehen. Die Helligkeit der Straßenbeleuchtung reichte nicht.
Da bekam Kurt unerwartete Unterstützung. Helles Licht umflutete ihn plötzlich und er konnte sehen, dass der Diamant bereits eine deutliche Spur auf dem Glas hinterlassen hatte.
„Kommen S' bitte runter, Sie, Herr?“, sagte eine Stimme unter ihm.
Kurt hatte gar nicht bemerkt, dass ein Polizeiauto unter ihm stand. Offenbar hatte es leise die Gruppe der Föhren umfahren, die sich zwischen dem Museum und dem breiten Gehweg auf dem Maria-Theresien-Platz ausbreitet. Jedenfalls hatte ihn der Scheinwerfer hinter der Windschutzscheibe des Funkwagens erfasst.

Verdammt! Gab es also doch eine Alarmanlage an den alten Fenstern des Gebäudes! Damit hatte Kurt gar nicht gerechnet. Herrschte doch im Volksmund die Auffassung, dass das Gebäude nicht so gut gesichert war. Sonst hätte seinerzeit im Jahr 2003 der Robert Mang die Saliera des Benvenuto Cellini nicht so leicht in die Finger gekriegt! Da hatte sich also was geändert.
Kurt seufzte und stieg herab. Hoffentlich war der Schweißer-Willi mittlerweile „in'n Butter g'gangen“[4].
Die zwei Polizisten nahmen Kurt fest. Dringender Tatverdacht des Einbruchsdiebstahles. Aber der Willi war tatsächlich verschwunden.

Also konnte der Kurt den Turm zu Babel nicht besorgen. Blieb noch Marcello.
Dieser startete seinen Überfall auf das KHM eine gute Woche später.
Zu seiner Ehre sei vermerkt, dass Marcello sich mit Harry und noch zwei Anderen ganz brav an der Kassa anstellte. Marcello wollte, dass die Aufregung erst begann, wenn er den Turm zu Babel in der Hand hatte. Vorher sollte man möglichst nicht auffallen.

Erst suchte die Gruppe den Turm zu Babel auf, dann verschwanden sie in der nächsten Herrentoilette und legten ihre Gesichtsmasken an. Mit gezogenen Pistolen rannten sie dann in den Saal mit dem Breughel und Marcello nahm das Gemälde von der Wand.
Die Alarmanlage, die das Bild sichert, schlug an und die Aufseher rannten zum Tatort.
Sobald sie den Saal betreten hatten, griff sich der „g'schupfte“ Harry zwei ihm nahe stehenden Besucher und fuchtelte denen mit seiner „Puffen[5]“ vor der Nase herum. „Bleibt's ruhig, es Spinatwachter, ihr wollt's ja keine hinichen Japaner!“, rief er.

Es waren aber gar keine Japaner. Harry hatte sich ein taiwanesisches Ehepaar ausgesucht. Und dabei eine ziemlich schlechte Wahl getroffen:
Der Mann war ein Computerexperte aus Luodong, südlich von Taipei, und seine Frau war eine Sportlehrerin, deren Spezialität die taiwanesischen Kampfsportarten waren.
Frau und Herr Hai-Lu waren auch völlig überrascht, als mit einer Taschenkanone vor ihren Schlitzaugen herumgefuchtelt wurde. Und Marcello verlieh der Aussage des Harry noch Nachdruck, indem er seine Magnum losgehen ließ. An die Decke allerdings, wo die Magnumkugel ein eindrucksvolles Loch hinterließ. Das anwesende Publikum kreischte auf und begann, zum Ausgang zu drängen.


Zwei der weiteren Gehilfen nahmen dem Harry die Geiseln ab und Harry zielte nun auf das Sicherheitspersonal. „Schleicht's euch, sonst rauchts!“, verlangte Harry.
Die Securityleute machten etwas Platz.
„Wenn wer uns nachkommt, gibt’s zwa Leichen“, warnte Marcello und dann machte sich die Truppe mit ihren beiden Geiseln auf den Weg zur Treppe und hinunter ins Vestibül.
Einer der Securitymänner sprach leise in ein Handfunkgerät. Dann tönte eine Stimme aus dem Lautsprecher: „Auf keinen Fall provozieren! Erst müssen die Geiseln frei sein!“
Marcello übernahm wieder Frau Hai-Lu, deren Arm er auf ihren Rücken drehte, grinste und gab ihr einen Stoß vorwärts in Richtung auf das im Erdgeschoß liegende Kaffeehaus.
Inzwischen hatten die übrigen Aufseher das Vestibül freigemacht. Von den sonst so zahlreichen Gästen war niemand mehr anwesend. Nur das Sicherheitspersonal.

Marcello und Harry traten als erste mit ihren Geiseln ins Freie. Polizisten standen in einigem Abstand um den Eingangsbereich und Marcello konnte einen Hubschrauber hören, der über dem Museum kreiste.
Die hatten also ganz flott gearbeitet, die Behörden! Der Hubschrauber musste aus der Kaserne Meidling gekommen sein. Marcello war ein bisschen stolz darauf, dass er so eine Aufregung bewirkt hatte.
Den Hubschrauber abzuschütteln war nicht schwer. Mit dem Fluchtwagen in eine Tiefgarage und mit einem Ersatzwagen weiter. Da kam übrigens schon der Johnny mit dem siebensitzigen Hyundai über die Gehwege des Maria-Theresien-Platzes angefahren. Das gab zusätzlich eine Strafe wegen Befahrens von Wegen für Fußgänger.
Na ja, erst musste die Schmier den Marcello einmal haben!

Johnny parkte den Hyundai direkt vor dem Haupteingang. „Die Schlitzaugen kriegts Ihr erst a bisserl später“, rief Marcello. „Die brauch'ma no a viertel Stund'.“ Dann schob er seine weibliche Geisel gegen die hintere Tür des Wagens.
Die Taiwanesin stellte sich beim Einsteigen sehr ungeschickt an. Sie beugte den Oberkörper vor, als ob sie auf allen Vieren auf die Rückbank des Wagens kriechen wollte. Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Rückbank - und gleichzeitig trat sie dem Marcello mit aller Kraft ihre Füße gegen die Pistole und ins Gesicht.

Damit hatte Marcello nicht gerechnet. Der Tritt gegen seine Nase betäubte ihn beinahe und da seine Pistole ebenfalls getroffen war, fiel sie ihm beinahe aus der Hand. Fast hätte er auch noch abgedrückt! Die Frau war ein ganz schönes Risiko eingegangen!
Ihr Mann hatte sich im selben Moment zu Harry umgedreht und ihm einen Handkantenschlag gegen den Hals gegeben. Harry ging zu Boden, während sich die anderen Burschen aus Marcellos Gruppe auf ihn stürzten. Marcello bemühte sich, die taiwanesische Wildkatze in die Finger zu kriegen. Aber diese hatte die wenigen Sekunden von Marcellos halber Betäubung dazu genutzt, aus dem Wagen wieder herauszukommen.

Jetzt stand sie dem Marcello kampfbereit gegenüber. Ihre dunklen Schlitzaugen sahen so drohend und siegesbewusst drein, dass dem Marcello das Herz in die Hose rutschte. Plötzlich fiel ein Schuss, irgendeiner aus Marcellos Gruppe hatte aus Nervosität den Finger krumm gemacht. Aber dann kam auf einmal Bewegung in die Menge von Polizisten und Securityleuten.
Eine knappe Minute später hatte man der Marcello-Bande die Armbänder[6] angelegt und die Polizisten klopften Herr und Frau Hai-Lu kameradschaftlich auf die Schultern. Besonders Frau Hai-Lu bekam eine ganze Menge Komplimente, die sie zwar nicht verstand, die ihr aber sehr gut taten. Sie revanchierte sich mit einem kleinen Vortrag über die Unfähigkeit der westlichen weißen Teufel, es mit einer ausgebildete Kung Fu-Kämpferin aufnehmen zu können. Die Polizisten genossen ihr melodisches Geschnatter und spendeten viel Beifall.

Tags drauf titelte eine Zeitung: „Taiwanesin nimmt gefährliche Räuberbande fest!“ und ließ kein gutes Haar an der Wiener Polizei.
Na, immerhin ist die ja Kummer gewöhnt.
Umso mehr Kummer bekam allerdings Signore Paolo Casanova. Zwar hielt Marcello bei den Verhören dicht und Signore Casanova geriet nicht einmal in Verdacht, aber seinen alten Meister bekam er nicht.
Er hat sein Vorhaben aber immer noch nicht aufgegeben. Da es mit der Wiener Version nicht geklappt hatte, hoffte Signore Casanova jetzt auf die Version, die in Rotterdam hängt. Aber auch einem gewissen Monsieur Dupont aus Paris hat er den Auftrag gegeben, ihm den Turm zu Babel von Lucas van Valckenborch aus dem Jahr 1594 zu besorgen.
Allerdings hängt der im Louvre – und ist wohl noch besser gesichert als der Turm zu Babel im Wiener Kunsthistorischen Museum!

Anmerkungen
[1] Leibwächter, Mitarbeiter
[2] geschupft = etwas extravagant
[3] Rotwelsch: Tresor
[4] Butter ist in Wien männlich. In'n Butter geh'n = sich entfernen, flüchten
[5] Pistole
[6] Handschellen

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns