KunstGeschichten

KunstGeschichte: Quaximose

Ist es Kunst? Ist es keine Kunst? Allzu leichtgläubig und unkritisch sollte man keinem neuen Künstler gegenüberstehen. Dies lehrt die neue KunstGeschichte unseres Wiener Autoren.

Viele Freunde hatte er nicht, der Marvin Kaiser.
Das lag vor allem daran, dass es in Marvins Augen nicht viele Menschen gab, die es wert waren, mit dem großartigen Marvin Kaiser näher bekannt zu sein. Es gab ja so viele Rindviecher auf dieser Welt! Eigentlich nur Rindviecher, außer ihm selbst natürlich.

Marvins Selbstwertgefühl war grenzenlos. Möglicherweise lag es daran, dass er das Kind einer nicht sehr energischen, allein erziehenden Mutter war, die mit Marvin etwas überfordert schien. Sein Vater allerdings tat für seinen Sohn sein Möglichstes und förderte ihn nach Kräften.

Marvins Vater war Manager eines privaten Fernsehsenders und setzte alles daran, dass seine Vaterschaft nicht publik wurde (weshalb auch sein Name hier nicht genannt werden soll). Marvin und dessen Mutter Regina Kaiser erhielten großzügige Summen und wenn Marvin außerdem etwas haben wollte, brauchte er nur den Papa anzurufen. Solange Marvin die Schnauze hielt, was den Papa betraf, konnte er immer auf seinen Vater zählen. Und Marvin hielt natürlich die Schnauze. Er war ja nicht blöd!

Marvin war jetzt dreiundzwanzig Jahre alt und wieder einmal auf Arbeitssuche. Die Reifeprüfung hatte er zwar (ganz knapp allerdings) geschafft, weil der Papa tatkräftig mitgeholfen hatte, aber darüber hinaus weigerte sich Marvin, eine höhere Ausbildung über sich ergehen zu lassen. Wozu schließlich? Er war ohnehin der Beste!

Zuletzt war er in einer Bank angestellt gewesen, verhielt sich den Kunden gegenüber allerdings derart anmaßend und unfreundlich, dass der Filialleiter ihn einfach rausgeschmissen hatte. Ohne Rücksicht auf Marvin – und sogar auf dessen Vater!

Daraufhin überlegte Marvin, seinen Vater zu bitten, ihn als Nachrichtensprecher bei seinem Sender anzustellen. Schließlich war er ja immerhin schön! Stoppelbart und modische Sonnenbrille unterstrichen seine etwas kantigen Gesichtszüge. Und männliche Attraktivität ist ja gerade bei einem Fernsehsender kein Nachteil.

Marvins Vater verneinte dies allerdings. Er würde sicher nicht seinen eigenen Job aufs Spiel setzen, weil der Herr Sohn einen Posten haben wolle. Da müsse er dann möglicherweise seine finanziellen Zuwendungen einstellen, und davon habe weder Marvin etwas, noch dessen Mutter.
Marvin verstand das zwar, allerdings hatte er bereits intensiv mit dem Gedanken gespielt, auf der Straße erkannt zu werden und sozusagen eine Art von Berühmtheit darzustellen. Und weil ihm der Gedanke zugesagt hatte, beschloss Marvin, tatsächlich berühmt zu werden.
Das konnte ja nicht so schwer sein. Der Papa wird’s schon richten!

Nach reiflicher Überlegung entschied er sich für eine Karriere als Künstler, wobei er sich allerdings nicht auf eine spezielle Art von Kunst festlegen wollte. Ihm schwebte eher eine Art Universalgenie vor (das er ja zweifellos ohnehin war). Deshalb wollte er zunächst einmal mehrere Sparten probieren: Malerei, Bildhauerei und Objektkunst. Das Weitere würde sich dann schon ergeben.

Aber wie wurde man am schnellsten berühmt? Nun, Marvin war nicht dumm. Erst las er einmal eine ganze Menge von den Klatschblättern seiner Mutter und kam dahinter, dass diese in erster Linie von Schauspielern beiderlei Geschlechts berichteten. Immerhin war Marvin so ehrlich, auch sich selbst gegenüber zuzugeben, dass Schauspielerei nichts für ihn war. Er hätte mit seinem blasierten, überheblichen Gesichtsausdruck höchstens sich selbst spielen können. Und ohne es zuzugeben, war ihm bewusst, dass das etwas zu wenig war.
Nein. Mit Bildern und Objekten ging das sicher ebenso gut.
Dann kam Marvin dahinter, dass es vielleicht seiner Karriere zuträglich sein könne, homosexuell zu sein.
Nun, damit konnte er leider auch nicht dienen. Das eigene Geschlecht stieß ihn ab, dem weiblichen hingegen konnte er nicht widerstehen. Na, es musste auch so gehen.

Sein Vater, mit Marvins Plänen konfrontiert, hatte nichts dagegen. Er werde schon dafür sorgen, dass Marvin Ausstellungsfläche erhalte. Und berichten werde sein Sender auch über den neuen, aufstrebenden Künstler, sobald sich Gelegenheit dazu ergab.

Marvin machte sich an die Arbeit.
Das erste Werk war ein Zeichenkarton, den Marvin mit Buchstaben bedeckte. Er besaß noch immer seine Schriftschablone vom Unterricht in Darstellender Geometrie – und diese benutzte er, um mit farbiger Tusche Schriftzeichen auf den Untergrund zu pinseln. Rein zufällig. Es war schließlich egal, was da stand. Etwa: „xt8säyßek“
Nach einer Stunde war sein erstes bedeutendes Kunstwerk vollendet und Marvin war sehr stolz auf sich.
Es folgten mehrere „Schüttbilder“. Das war einfach. Farbtiegel auf und – wosch – über die Leinwand. Natürlich mehrere Farben. Die Bilder sahen zwar nicht so hübsch aus wie die farbigen Buchstaben, ließen aber dafür mehr Raum zur Interpretation der tiefsinnigen Werke.
Einen Höhepunkt in seinem Schaffen stellte sein erstes Werk der Objektkunst dar, eine Mausefalle, die einen Tischtennisball „erlegt“ hatte. Titel des Objekts: „Hinterlist“.

Marvin war nicht besonders fleißig. Nach vier Wochen hatte er etwa zwanzig Werke geschafft, darunter einen Ball aus abgelegten Kleidungsstücken seiner Mutter, den er mit Hilfe von ganz normalem Tapetenkleister geformt hatte und aus dem ein BH neckisch heraus ragte.

Sein Vater verschaffte ihm anlässlich einer Ausstellung eines spanischen Surrealisten Fläche in einem kleinen Raum des MUMOK, des Museums für Moderne Kunst im Museumsquartier. Allerdings war es nur so etwas wie ein „Beiprogramm“ und Marvin verdiente nichts dabei. Aber sein Vater beruhigte ihn. Das werde schon noch kommen! Man müsse eben bescheiden anfangen.
Aber um seinem Sohn jede nur mögliche Unterstützung zu gewähren gelang es Marvins Vater, eine ihm bekannte Journalistin zu veranlassen, eine kurze Kritik von Marvins Miniaturausstellung ihrem Redakteur unterzujubeln. Die nicht sehr bedeutende Zeitungsdame, eine gewisse Louise, hatte sich Hoffnungen gemacht, Marvins Vater werde sich ihretwegen scheiden lassen. Da das aber bisher immer noch unterblieben war, fiel Louises Kritik zwar positiv aus, aber mit einer kleinen Bosheit, mit der die Journalistin versuchte, den jungen Künstler etwas lächerlich zu machen. An dem Burschen lag ihrem Geliebten ja anscheinend sehr viel – na, sollte er sich einmal von seiner Alten scheiden lassen, dann könne sie ja mehr für ihn tun.

In der Zeitung stand wortwörtlich: „Den jungen Künstler Marvin Kaiser zeichnet eine erfrischende, freche Intelligenz aus und offenbar ist ihm die Quaximose der Metawelt seiner Objekte besonders wichtig.“ Was die „Quaximose“ sein sollte, darüber machte sich Louise keine Gedanken. Das Wort klang hübsch.

Marvin griff die Quaximose natürlich sofort auf und schuf das interaktive Werk „Quaximose der Vergänglichkeit“. Es handelte sich dabei um einen sehr übel riechenden, verschimmelten Käse unter einer gläsernen Käseglocke. Dem Betrachter stand dabei frei, die Käseglocke abzunehmen und sich an dem Duft des Kunstwerkes zu erfreuen. Gemeinsam mit einigen Bildern, die entstanden, indem Marvin mit in Farbe getauchten, bloßen Füßen über die Leinwand marschiert war, stellte er seine neuesten Werke in einem kleinen Saal am Schlachthofgelände Sankt Marx aus, das der Spitzhacke bisher entgangen war.
Dort wurde er gefragt, was denn „Quaximose“ genau wäre.

„Etwas Allgemeinwissen und eine gewisse Intelligenz gehören schon dazu!“, wich Marvin aus. „Wenn man das Niveau nicht hat, geht man besser nicht in Ausstellungen!“ Das hatte allerdings weit reichende Folgen: Da kein Zeitungsschreiber in den Verdacht kommen wollte, ungebildet oder unintelligent zu sein, wurde die Quaximose künftig nicht mehr hinterfragt.

Der nächste Schritt Marvins war dessen Einstieg in die Bildhauerei. Nein, nicht Stein bearbeitete er, das war ihm zu schweißtreibend, sondern Karton.
Der „quaximodale Turm“ bestand aus fünf übereinander gestapelten leeren Schuhkartons, gekrönt von einem „Papierstanitzel“, das aus einer Titelseite der Bild-Zeitung gedreht worden war. Dieses Werk fand nach Papas Intervention Aufstellung in der Filiale einer Sparkasse ganz draußen im zweiundzwanzigsten Bezirk, an der Stadtgrenze, sozusagen schon „in der Taiga“.

(Leider wurde dieses Kunstwerk bald danach von einem dreijährigen Mädchen zerstört. Das Kind hatte aus seinem Buggy gegriffen und die Kartons umgestoßen, während sich die Mama einen Kontoauszug besorgte. Nachdem aber die Mutter den Turm sofort wieder aufbaute, blieb das Malheur unentdeckt.)

Marvin war aber immer noch nicht zufrieden. Da hatte er wie ein Wilder gearbeitet und insgesamt etwa drei Arbeitsstunden investiert und noch keinerlei Einkommen aus seiner Tätigkeit! Papa sollte endlich was tun!
Seinen Vater rief er deshalb an und warf ihm einiges vor. Da hatte er einen leiblichen Vater, dem das beste Instrument zur Beeinflussung der Massen zur Verfügung stünde und der Papa nütze seinen Fernsehsender nicht dazu, seinem Sohn Bekanntheit zu verschaffen.
Der Papa rechtfertigte sich mit der Tatsache, dass Marvin ja kaum etwas geleistet habe! Er solle sich gefälligst auf den Hosenboden setzen und irgendwas produzieren! Bilder zum Beispiel. Was er male, wäre ja schnurzpiepegal, nackte Ärsche zum Beispiel.

Das war dem Marvin dann doch etwas zu einfallslos. Er begann nachzudenken. Und dann produzierte er Kunstwerke am laufenden Band:
Zunächst eine Collage, indem er Klosettpapier in kühnen Schleifen auf eine Leinwand klebte. Dann folgte ein ebenfalls geklebter Turm von leeren „Red Bull“-Dosen, die alle mehr oder weniger zerknautscht waren (er hatte vor, das Werk dem Herrn Mateschitz anzubieten). Als nächstes bearbeitete er eines von Mamas Küchenmessern mit einem schweren Hammer, so dass die Klinge aussah, als wäre sie unter eine Straßenwalze gekommen.

Zurückkommend auf sein Erstlingswerk, das mit den farbigen Buchstaben, verlagerte er sich auf sinnige Sprüche, die er auf Zeichenkarton malte. Er begann mit „Wenn der Knecht zum Waldrand hetzt, war das Plumpsklo schon besetzt.“ Weil dieser Spruch allerdings keine Eigenkreation war, verzichtete er auf die Präsentation dieses Werkes und nach anstrengendem Nachdenken entstanden tatsächlich beachtliche Neuschöpfungen:
„Es duftet in Italien mitunter nach Fäkalien.“ „Bunte Seidentaschentücher sind etwas für Trottelviecher.“ „Die Oma wäre sehr dafür: Rattengift in Opas Bier.“ „Es ist bestimmt nicht allzu schön, wenn in der Hose Winde wehn.“
Insgesamt stellte Marvin etwa dreißig Werke fertig. Dann machte er eine Pause. Schließlich musste ein junger Mann seines Alters auch einmal Spaß haben.

In einer der momentan angesagten Diskotheken lernte er die Olga Kiesewetter kennen. Die war zwar wesentlich älter als Marvin, aber immerhin hatte sie sich bereits einen gewissen Namen als Leichtathletin gemacht. Und da die Olga auf den Marvin voll abfuhr (beziehungsweise auf dessen Versicherung, er wäre im Begriff, ein bedeutender und prominenter Künstler zu werden) wurde daraus so etwas wie eine engere Beziehung. Die Olga sah sehr gut aus, obwohl ihre Beine etwas zu muskulös waren, was natürlich von ihrem Training als Läuferin herrührte. Und die Olga hatte eine uneheliche Tochter von fünf Jahren.
Marvin war von seiner neuen Freundin sehr angetan. Eine Beziehung zu einer älteren Frau, die noch dazu eine Tochter hatte, konnte nur gut für ihn sein, würde doch die Klatschpresse damit Stoff erhalten. Mittlerweile war Marvin beinahe etwas süchtig nach Ruhm geworden und drängte seinen Vater beinahe täglich, ihm doch wieder einmal eine Ausstellung zu ermöglichen.
Aber Papa winkte ab. Marvin habe vorher noch mehr Kunstwerke zu produzieren! Unter fünfzig Objekten wäre eine Ausstellung nicht effektiv.
Zähneknirschend fügte sich Marvin, obwohl das für ihn Arbeit bedeutete. Na schön, wenn schon Arbeit, dann sollte ihm die Olga dabei helfen.

Olga Kiesewetter war nur zu gerne bereit dazu. Sie war jetzt beinahe dreißig und es wurde langsam Zeit, sich aus dem aktiven Leistungssport zurück zu ziehen. Auch sie hatte es sehr genossen, manchmal im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, obwohl ihre sportlichen Erfolge nicht allzu häufig waren. In den letzten Jahren hatte sie überhaupt keinen Sieg mehr vorzuweisen und da kam ihr eine neuerliche Chance, eventuell im Fernsehen erwähnt zu werden, natürlich sehr gelegen. Und sei es auch nur als Freundin eines Prominenten. (Manche Menschen können eben nicht auf eine gewisse Popularität verzichten.)

Marvin erteilte der Olga zunächst einmal Unterricht in der Produktion von Kunstwerken und dabei klärte er sie über seine spezielle Definition von Kunst auf:
Kunst wäre das, was er, Marvin, als solche bezeichnete. Und wenn's irgendwem nicht passte, solle dieser ihm den Buckel runterrutschen. Und im unteren Teil mit der Zunge bremsen.
Und um seiner Olga gleich ein anschauliches Beispiel zu geben, schmiss er eine ihrer Kaffeetassen auf den Boden und klebte die Splitter wieder zusammen. Aber nicht so, wie sie ursprünglich angeordnet waren, sondern irgendwie anders herum. Das Ergebnis war ein zusammengeklebtes Chaos von Splittern.
„Was ist das?“, fragte er Olga und hielt ihr die verklebten Scherben vor die Nase.
„Was Schönes für den Mistkübel“, riet Olga.
„Falsch!“
„Na, ein Haufen Scherben. War einmal eine Kaffeetasse.“
„Und jetzt ist das die Quaximose einer Tasse! Ein Kunstwerk!“
Olga schaute verständnislos.
Sie waren in Olgas kleiner Wohnung und Olgas Tochter Vanessa spielte auf dem Boden des kleinen Wohnzimmers mit ihren Puppen.

„Mami, was is a Quaxi... Hat das was mit ein' Frosch zu tun?“, fragte die Kleine.
„Das verstehst du net“, beeilte sich Marvin zu sagen.
„Warum versteh ich's net, Mami?“
„Quaximose is was, das hat mit Kunst zu tun“, erklärte die Mama. „Ich versteh's auch net.“
„Verstehen auch nur die, die sich mit Kunst auskennen“, pflichtete Marvin bei.

Minuten später, Marvin und Olga saßen vor dem Fernseher und sahen eine Seifenoper, da ertönte in der Küche das Geräusch zerbrechenden Geschirrs. Olga sauste hinaus und sah, dass ihre Vanessa in künstlerischer Aktion begriffen war. Ein Suppenteller hatte dran glauben müssen.
„Was machst denn da, Vanessa?“ Olga war ziemlich aufgebracht.
„Quaxidingsbums“, meinte die Kleine ganz selbstverständlich.
Marvin im Wohnzimmer lachte schallend und Olga schimpfte ihre Tochter gehörig aus. „Lass den G'schrapp in Ruh“, verlangte Marvin. „Die hat's kapiert, die klane Fee! Aber den Kleber kriegt's net, da pickt sie sich die Finger z'samm.“
Olga ermahnte ihre Tochter, das Geschirr in Ruhe zu lassen, Vanessa versprach es, kriegte noch einen liebevollen Klaps auf den Hintern und zog sich dann mit ihren Puppen auf den Wohnzimmerteppich zurück.

Nachdem die Seifenoper mit dem üblichen „Fortsetzung folgt“ geendet hatte, unterhielten sich Marvin und Olga noch länger über Kunst und insbesondere über Marvins Kunst. Marvin erzählte erstmals ganz offen, dass er keine Ahnung habe, was der Ausdruck „Quaximose“ bedeute. Irgendeine Zeitungsschmiererin habe ihn benutzt, aber in keinem Lexikon wäre er zu finden. Wahrscheinlich wäre es ein frei erfundenes Wort ohne Bedeutung. Immerhin aber klinge der Ausdruck ganz gut, deshalb habe er, Marvin, ihn übernommen.
Außerdem gab Marvin zu, dass er gar keine Ambitionen habe, tatsächlich künstlerisch tätig sein zu wollen. Die moderne Kunst habe ein Stadium erreicht, in dem es gar nicht mehr so einfach wäre, zwischen Kunst und Humbug zu unterscheiden. Wenn jetzt jemand behauptete, die zusammen geklebten Scherben wären Kunst, so würde kaum jemand widersprechen, um nicht in den Verdacht zu kommen, von Kunst nichts zu verstehen.

Mit einem entsprechenden Auftreten wäre es daher heutzutage leicht, die Allgemeinheit hinters Licht zu führen. Man müsse nur dafür sorgen, populär zu werden. War man das einmal, könne man den frechsten Unsinn als bedeutende Kunst verkaufen. Und er, Marvin Kaiser, wäre im Begriff, sich die nötige Popularität zu verschaffen.

„Onkel Marvin, bist du verwandt mit dem Kaiser, der unsichtbare Kleider gekriegt hat?“, fragte Vanessa ganz unschuldig, indem sie von ihren Puppen aufsah. Sie hatte genau zugehört und den Namen Marvin Kaiser aufgeschnappt.
Marvin verstand nur Bahnhof.
„Ich les' ihr grad Hans Christian Andersen vor“, erklärte Olga. „Des Kaisers neue Kleider.“
„Nein, Vanessa“, antwortete Marvin, wobei er fast reines Hochdeutsch sprach. „Ich heiß' nur Kaiser, ich bin keiner. Bei uns gibt’s keine Kaiser mehr.“
„Aha.“ Vanessa schien damit zufrieden zu sein.
„So Vanessa, Zeit zum schlafen gehen“, mahnte Olga.
„Ich will aber nochmal ein Quaxi machen“, maulte die Kleine.
„Du wirst überhaupt nie mehr ein Quaxi machen“, sagte Olga entschieden. „Da ist mir das Geschirr viel wichtiger als deine Kunstfantasien.“
Und dann musste Vanessa tatsächlich ins Bett. Marvin blieb im Wohnzimmer und überlegte, was er zu weiteren Kunstwerken umgestalten könnte.

Und während Olga im Kinderzimmer der Vanessa das Ende des Märchens „Des Kaisers neue Kleider“ vorlas, entdeckte Marvin im Wohnzimmer eine alte Zeitung. Die Tube mit Klebstoff lag ja noch auf dem Tisch, einen Block mit Zeichenkarton hatte Marvin bei sich (das hatte er sich angewöhnt – ein Künstler braucht ja immerhin ständig sein Werkzeug griffbereit). Also begann er, die Zeitung in kleine Teile zu zerreißen und diese völlig wirr auf den Karton zu kleben. Es handelte sich um eine Ausgabe der „Kronen Zeitung“, was Marvin zufrieden zur Kenntnis nahm. Sollte der „Krone“ doch auch einmal die Ehre widerfahren, von einem Kaiser bearbeitet zu werden. Er und die Krone waren einander ja immerhin würdig!

Als die kleine Vanessa schließlich eingeschlafen war, hatte Marvin das neue Kunstwerk fertig gestellt und widmete sich nach getaner Arbeit der Olga. Das war ja schließlich wichtiger, als alle Kunst zusammen.
Zwei Wochen später hatte Marvin eine schöne Anzahl von Gemälden und Objekten vorbereitet. Höhepunkt der Objekte war ein altes, künstliches Gebiss, das Marvin umgestaltet hatte. Ein batteriebetriebener kleiner Motor und eine Lichtschranke bewirkten, dass die beiden Zahnreihen sich schlossen, wenn man einen Finger zwischen die Zähne hielt. Es war also ein sozusagen bissiges Gebiss.
Marvins Vater hatte einen passenden Saal aufgetrieben und zwar draußen in Schwechat. In Niederösterreich war es einfacher, die Verwaltung dazu zu überreden, einem jungen, aufstrebenden Künstler eine Chance zu geben. Als Marvins Vater auch noch die Kosten für eine professionell gemachte Werbekampagne übernahm, sagte der Bürgermeister natürlich nicht nein und ließ die Plakate auf Gemeindekosten affichieren. Und ein Fernsehsender würde auch zur Vernissage kommen, versprach Marvins Vater. (Wie er das wohl hingekriegt hatte?)

Marvin, Olga und Vanessa trafen am Tag der Vernissage, einem Samstag, bereits um 16 Uhr in der Halle in Schwechat ein, obwohl die Veranstaltung erst um 19 Uhr beginnen sollte. Marvin hatte Sorge, dass der Sand nicht rechtzeitig angeliefert werden könnte.

Ja, tatsächlich hatte er bei einem Baustoffhändler in der Nähe einen Kubikmeter Sand bestellt. Solchen, mit dem man für gewöhnlich in Parkanlagen die Sandkisten der Kinder füllt. Und dieser Kubikmeter sollte mitten in der Halle aufgeschüttet werden. Titel des Kunstwerkes „Quaximose der Architektur“.
Der LKW-Fahrer, der den Sand zustellte, fluchte nicht schlecht, als er feststellte, dass das ganze Zeug in Säcken über eine Treppe in den ersten Stock getragen werden musste.
„Du deppert, Kollega?“, fragte der Zusteller. „Wo Radlader? Sand gehören auf Baustelle nix in Kulturhalle! Du tragen selber! Lauf in Supermarkt und hol dir paar Plastiksackel. Ich Sand nix greifen an!“

Erst nachdem Marvin dem Fahrer, der beinahe renitent geworden wäre, dreißig Euro in die Hand gedrückt hatte, bewegte sich dieser die paar Gassen bis auf den Hauptplatz, wo er ein paar Türken auftrieb, die gegen ein geringes Trinkgeld den Sand in einigen Leinensäcken in die Halle schafften. Weiß der Himmel, wo der Fahrer die Säcke aufgetrieben hatte, aber jedenfalls war da vorher entweder Koks oder Kohle drin gewesen. Jedenfalls war der fast weiße Sand dann oben in der Halle nicht mehr weiß.
Marvin kommentierte das verunreinigte Kunstwerk mit dem lakonischen Satz: „Is ja eh wurscht. Kunst is des trotzdem.“
„Das is aber Sand“, stellte die kleine Vanessa sachlich fest.
„Klar is das Sand“, erklärte Marvin. „Aber wenn ich sag, dass das Kunst is, dann is es auch Kunst.“
Vanessa zuckte die Schultern und schwieg.

Dann erschien Marvins Vater und mit ihm etliche Kartons voller belegter Brötchen. In Windeseile wurde ein ansprechendes Buffet aufgebaut. Der Sekt war schon am Vortag kühl gestellt worden.
Sogar ein Stellvertreter der Bezirkshauptmannschaft Wien – Umgebung traf dann noch ein, zwar spät, aber immerhin kam er. Marvins Papa hatte tatsächlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinem Sohn eine würdige Vernissage zu ermöglichen.
Es war schließlich Vanessa, die die Katastrophe auslöste.

Die Reden der politisch „Großkopferten“ waren gehalten, die Ausstellung offiziell eröffnet und Marvin stand, ein Kaviarbrötchen kauend neben dem Sandhaufen auf dem Parkett, als irgendjemand auf Marvin zu trat und fragte: „Herr Kaiser, was ist für Sie das essentielle Wesen der Quaximose?“ Es war ein älterer Herr, der zu einem dunklen Anzug ein Mascherl statt der üblichen Krawatte trug.
Marvin, etwas überrascht, dass plötzlich die blöde Quaximose wieder ins Spiel kam, versuchte, auszuweichen. „Sehen Sie sich die Skulptur an, dann werden Sie's erkennen.“

Da mischte sich Vanessa ins Gespräch, die an der Hand ihrer Mutter in der Nähe stand: „Das is ja gar keine Quaximose, das is Sand“, sagte sie. „Und was Quaximose is, weiß der Onkel Marvin selber auch nicht.“
„Du bist nicht gefragt worden, Vanessa“, sagte Olga streng.

Aber der ältere Herr lächelte Vanessa an und fragte sie sehr freundlich: „Wieso ist das dann Kunst?“
„Weil der Onkel Marvin sagt, dass das Kunst is“, lächelte Vanessa zurück. „Und keiner wird was dagegen haben, damit er nicht als Depp dasteht. Das is genau so wie bei den neuen Kleidern vom Kaiser, die nur für gescheite Leute sichtbar sind. Und dann is der Kaiser nackert gegangen.“
Der ältere Herr lachte schallend. Und dann drehte er sich um und gab Vanessas Worte an seine Begleiter weiter. Das Lachen griff um sich und es wurde getuschelt im Saal.

Olga war bemüht, ihre Tochter aus dem Ausstellungsraum hinaus zu bringen. Da aber im Saal und besonders rund um den Sandhaufen relativ viele Menschen standen, gelang ihr das nicht so rasch.
„Junge Dame“, rief da der ältere Herr von vorhin wieder. „Du glaubst, das alles da, alle Kunstwerke, sind so was wie des Kaisers neue Kleider?“
Vanessa nickte ganz ernsthaft. Und dann fügte sie hinzu: „Deshalb glaub ich ja, dass der Onkel Marvin mit dem Kaiser verwandt is, der die neuen Kleider gekriegt hat. Er sagt zwar, das stimmt nicht, aber ich glaub, es stimmt doch. Er heißt ja Marvin Kaiser!“
Dann hatte Olga die kleine Vanessa endlich draußen vor dem Saal und schimpfte sie gehörig aus.
Aber es war zu spät.
Sowohl der Herr mit dem Mascherl als auch dessen Begleiter fielen über Marvin Kaiser her. Er solle doch seine Kunstwerke für das Publikum interpretieren.

Marvin stotterte ein paar unzusammenhängende Floskeln. Er hatte es nie der Mühe wert gefunden, sich über seine Werke auch nur den kleinsten Gedanken zu machen. Er suchte nach irgendeinem Schmäh, den er abziehen konnte, aber ihm fiel nichts ein.
Als man begann, ihn auszulachen, ergriff er schließlich die Flucht.
Von einem Marvin Kaiser hat man in der Kunstszene nie wieder etwas gehört...

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