KunstGeschichten

KunstGeschichte: Schatten

Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten. Wer trotzdem Kunst kritisiert, sollte mit allem rechnen. Lesen Sie in der neuen KunstGeschichte von Erich Wurth, welches Ende eine solche Auseinandersetzung zwischen zwei Eheleuten genommen hat.

Über den tragischen Tod des Lehrerehepaars Beranek wurde zwar in der Presse berichtet, diese Schilderungen sind aber alle falsch. Journalisten verfügen über eine lebhafte Fantasie, wenn Tatsachen nur schwer zu rekonstruieren sind. Tatsächlich waren es keine zwei Unfälle gewesen, die zum fast gleichzeitigen Ableben der beiden Ehepartner geführt hatten, sondern zwei Morde. Hier soll also das tragikomische Geheimnis, wie es dazu kam, gelüftet werden.

Selten kann man den Charakter eines Menschen mit so wenigen Worten zutreffend beschreiben, wie es bei Herrn Oberstudienrat Karl Beranek möglich war.
Er war nämlich ein erzkonservativer, nörglerischer Pedant.
Als Mittelschulprofessor an einem Gymnasium auf der Wieden[1] unterrichtete er Mathematik, Darstellende Geometrie und Physik, stand wenige Jahre vor seiner Pensionierung und seine Schüler hatten trotz ihrer frechen Sprüche einen Heidenrespekt vor ihm.

Karl Beranek besaß sechs dunkelgraue Anzüge, die einander so ähnlich waren, dass die meisten seiner Schüler darauf gewettet haben würden, er liefe tagein tagaus mit denselben Klamotten herum. Darüber hinaus verfügte er noch über einen schwarzen Zweireiher für besondere Anlässe und – für Ausflüge in den Wienerwald – eine jener Knickerbocker, die vor Jahrzehnten in Mode waren. Täglich benutzte er die Schnellbahn von seinem alten Einfamilienhaus in Liesing zum Südtirolerplatz und er besaß keinen Führerschein, weil er ein solches Dokument nicht für nötig erachtete.

Das Haus, das er mit seiner zweiten Frau Sissi bewohnte, hatte er von den Eltern übernommen und benutzte noch immer die Möbel, die ihm die Eltern hinterlassen hatten. Seine mit Fug und Recht als Pedanterie zu bezeichnende Ordnungsliebe ließ ihn kleinste Schäden an Haus und Einrichtung jeweils sofort beheben und sowohl der Bauzustand seines Heimes als auch der Zustand des Mobiliars waren als erstklassig zu bezeichnen.

Mit seiner Sissi war er jetzt seit sechs Jahren verheiratet. Seine erste Frau Christine hatte damals ihren Kampf gegen den Lungenkrebs verloren und Karl Beranek litt unter dem Verlust wie ein Hund. Sissi unterrichtete zu diesem Zeitpunkt am Gymnasium Bildnerische Erziehung und Biologie und ihr fiel Karls bejammernswerter seelischer Zustand auf. Da sie selbst ihren Mann an eine wesentlich Jüngere verloren hatte, war es nahe liegend gewesen, sich ein wenig um den Kollegen Karl Beranek zu kümmern und daraus hatte sich eine feste Beziehung entwickelt, die in der Hochzeit gipfelte.

Sissi Beranek war etwa fünf Jahre jünger als Karl, gab sich aber so jugendlich, dass sie von den Schülern des Gymnasiums den Spitznamen „Teenager“ erhalten hatte. Ein wenig seltsam wirken zerschlissene Jeans und Laufschuhe allemal, wenn eine beinahe Sechzigjährige in diesem Aufzug eine Klasse unterrichtet. Ihre gewagt kurzen Röcke gaben ebenfalls Anlass zu bissigen Kommentaren, obwohl sie sich noch in einer beachtlich frischen körperlichen Verfassung befand und wesentlich jünger aussah.

Sissi Beranek malte in ihrer Freizeit, vor allem Landschaften. Ihre Gemälde waren durchaus ansprechend, wenn es ihnen auch an einem eigenen Stil mangelte. Sissi war geradezu verliebt in Details und jeder Baum wurde bis in alle Einzelheiten von ihr ausgearbeitet. Ihre Gemälde sahen bisweilen beinahe wie Fotos aus, wenn es da nicht eine Kleinigkeit gegeben hätte, die Karl Beranek auf die Palme brachte.
„Meine liebe Elisabeth“, pflegte Karl zu sagen, „Deine Bilder sind absoluter Quatsch! Du hast keine Ahnung von Kegelschnitten! Diese Schatten sind einfach widernatürlich! Konstruiere doch deine Schatten nach den Regeln der Darstellenden Geometrie, dann stimmen sie auch. Aber sieh dir nur diesen Schatten da an: In diesem Fall muss das eine Ellipse sein, keine Parabel!“
„Meine Güte, Karl“, pflegte dann Sissi zu sagen, „das ist ein Kunstwerk und keine geometrische Prüfungsarbeit! Da kommt es auf den Eindruck an! In der Kunst sind Freiheiten erlaubt! Sei doch nicht so pingelig!“

Einmal, als Karl wieder seinen Vortrag über den Unterschied von Schatten bei Sonnenlicht und einer punktförmigen Beleuchtung hielt, hatte Sissi ihrem Karl ein halb fertiges Aquarell in die Hand gedrückt. „Okay“, hatte sie gesagt. „Jetzt konstruier’ da den Schatten, zeichne ihn mit Bleistift ein und ich mach das Bild dann fertig.“
Karl konstruierte mit Zirkel, Lineal und Zeichendreiecken und vergaß auch nicht die „Konturpunkte“ der Kegelschnitte, die von seinen Schülern scherzhaft „Kulturpunkte“ genannt wurden, da der Professor einmal im Unterricht gemeint hatte, wer Schattenwürfe ohne Konturpunkte konstruiere, hätte keine Kultur.
Sissi nahm das bearbeitet Blatt, malte die Schattenkonstruktion aus und kam zu der Erkenntnis, dass der korrekt konstruierte Schatten die Stimmung des Bildes sehr beeinträchtigte. Deshalb korrigierte sie die korrigierten Schatten nochmals ihrer eigenen Vorstellung gemäß und löste damit einen Tobsuchtsanfall ihres Gatten aus.

Professor Karl Beranek, dessen Wutanfälle im Schulbetrieb durch eine sehr rigorose Gesetzgebung eingeschränkt wurden, konnte nur im trauten Familienkreis den Frust abreagieren, den aufmüpfige Jugendliche in seiner Seele anzurichten pflegten. Und mitunter tat er das weidlich. Seiner pedantischen Gesinnung verursachten die falsch, beziehungsweise gar nicht konstruierten Schatten ein beinahe körperliches Unbehagen, das er nicht mehr zusätzlich zu den üblichen Demütigungen, die er im Schulbetrieb hinnehmen musste, verkraften konnte.

So kam es mit der Zeit, dass seine Liebe zu seiner zweiten Frau sich in Momenten, in denen er deren Gemälde sehen musste, zu einem negativen Gefühl umwandelte, das beinahe an Hass grenzte.
Noch war es kein Hass im eigentlichen Sinn und wenn gerade keines von Sissis Gemälden in seinem Blickfeld war, dominierte nach wie vor die Zuneigung zu seiner immer noch recht attraktiven Frau. Immer öfter drängte er daher seine Angetraute zu Spaziergängen im Wald, der vom Wohnort der beiden in Liesing relativ schnell zu erreichen ist. Das von seiner Frau in die Ehe mitgebrachte Auto schätzte er aus diesem Grund immer mehr, wurde er doch während der Waldspaziergänge nicht an die grauenhaften Schatten in den Gemälden seiner Gemahlin erinnert.

Sissi Beranek benutzte diese Ausflüge meist dazu, Material für den Biologieunterricht zu beschaffen. Sie war mittlerweile an ein anderes Gymnasium versetzt worden und Biologie war nunmehr ihr Hauptfach. Blüten, Zweige, Blätter sowie die Zapfen der für den südlichen Wienerwald so typischen Koniferen wanderte in den kleinen, immer mitgeführten Rucksack und manchmal skizzierte Sissi auch relevante Details aus Flora und Fauna in ihrem immer griffbereiten Notizbüchlein. Allerdings grundsätzlich ohne Schatten.

In seinen Bergschuhen und seiner altmodischen Knickerbockerhose, die durch rot karierte Kniestrümpfe ergänzt wurden, trottete Karl brav hinter seiner Angetrauten her und hatte im Gegensatz zu ihr den Blick meist zu Boden gerichtet. Denn im Wald interessierten den Mathematikprofessor in erster Linie Pilze, die er für sein Leben gern aß. Besonders die in manchen Jahren überall anzutreffenden Parasole hatten es ihm angetan. Gebacken wie ein Wiener Schnitzel mit Sauce Tartar stellten diese Blätterpilze für ihn eine Köstlichkeit ersten Ranges dar. Aber auch ein herzhaftes Pilzgulasch mit Semmelknödeln betrachtete Karl durchaus als eine fürstliche Mahlzeit.

Verlief eine solche „Waldpartie“ ertragreich, waren beide Ehepartner glücklich und Sissi begann auf der Heimfahrt hinter dem Steuer meist zu singen, was der unmusikalische Karl zwar nicht schön fand, aber gnädig tolerierte.
Eines Tages, im Spätsommer, kam es dann zu einem handfesten Krach im Wald.
Karl hatte im Wald bei Kaltenleutgeben eine ganze Gruppe von Parasolen entdeckt und war fleißig beschäftigt, die großen Schirme einzusammeln. Da bemerkte er, dass seine Frau das Skizzenbuch in der Hand hatte und einen einzelnen Pilz zeichnete. Sie wollte die Skizze zu Hause auf eine Overheadfolie übertragen und diese dann im Unterricht verwenden.
Dummerweise skizzierte sie auch den Schatten, den der beinahe waagrechte Schirm aufs Moos warf.

Karl explodierte.
„Das ist doch keine Ellipse, was du da zeichnest! Das ist ein hatschertes, verzogenes, annähernd kreisförmiges Etwas! Mach doch die Augen auf, du Ignorantin! Die Sonne steht da drüben im Südwesten. Von dort kommen die Lichtstrahlen. Parallel kommen die Lichtstrahlen, du dumme Nuss! Das bedeutet die klassische schräge Projektion, du Idiotin! Und die schräge Projektion eines Kreises muss eine Ellipse sein! Geht das nicht hinein in dein Miniaturhirn, du blöde Kuh?“
Sissi sah ihren Mann verständnislos an. „Du, das is a Skizzen für die zweite Klass’. Glaubst, die Kinder legen Wert auf mathematische Exaktheit?“
„Egal, du Kamel! Die schräge Projektion eines Kreises muss eine Ellipse sein!“
Jetzt wurde Sissi tatsächlich einmal wütend.
„Du Grieskörndlannagler! Du I – Tüpferl – Reiter! Schmier dir deine Parasol’ in die Haar! I back dir die net raus, wenn’st garstig zu mir bist!“
Sissi marschierte ohne ein weiteres Wort den Waldweg zurück zum Auto.
Brummend kam Karl ihr nach. „Is doch wahr… So eine Ignoranz…“, murmelte er.
Die Heimfahrt vollzog sich in frostiger Atmosphäre und die Ehepartner wechselten kein Wort. Und den ganzen Samstagabend blieb das so.

Am Sonntag unterzog Sissi die gesammelten Parasole einer Prüfung. Sie waren noch in Ordnung. Seufzend wusch sie die Pilze, panierte sie ein und rührte auch noch die dazu gehörige Sauce Tartar an.
Als es doch noch gebackene Parasole gab, entschuldigte sich Karl bei seiner Angetrauten. Das führte zu einer, nach Sissis Meinung bereits längst fälligen, Debatte über Karls Pedanterie im Allgemeinen und seine so überaus strikt konservative Gesinnung.

„Kannst dir net einmal ein’ anderen Anzug kaufen?“, warf Sissi ihm vor. „Dieses ewige grau! Deine Schüler müssen ja schon Depressionen haben!“
„Deprimiert bin i, net die Gfraster in der Klass“, beklagte sich Karl. „Die Rangen sind nur frech wie a Wald voll Affen. Und das Grau dämpft a bisserl die Aggressionen.“
Eine gute Stunde lang diskutierten die beiden Ehepartner und Sissi bemühte sich redlich, ihren Karl zu etwas mehr Toleranz zu überreden.
„Net einmal ein Mobiltelefon haben wir“, warf Sissi ihrem Mann vor. „Jeder hat das heutzutag!“
„Und keiner braucht’s“, konterte Karl. „Wenn i tatsächlich einmal später aus der Schul’ komm, wirst es schon bemerken. Brauch i net vorher anrufen. Was hättest denn davon?“
„Na, im Notfall wär so was schon gut!“
„Blödsinn. Im Notfall gibt’s Telefonhütteln!“
„Sei doch net immer gegen alles Neue! Nimm’s doch a bisserl lockerer!“, bat Sissi mehrmals. „Und lass mir meine Freiheit in der Malerei! Schau dir die Expressionisten an! Wenn die mit Zirkel und Winkelmesser g’malt hätten, was wär da draus g’worden?“
„Das sind keine Bilder“, beharrte Karl. „Das is nur Sch…, was die g’macht haben! Überall gibt’s Regeln, nur in der so genannten Kunst sollen die net gelten?“

Was als klärende Aussprache begonnen hatte, endete schließlich in einer Serie gegenseitiger Schuldzuweisungen und am Ende bleib bei beiden ein Gefühl, dem Ehepartner mangle es am nötigen Verständnis für den anderen.
Nachts weinte Sissi ein bisschen. Aber Karl bemerkte es gar nicht, er schnarchte neben seiner verstörten Frau.

Drei Tage lang war nach diesem Sonntag das Verhältnis der beiden nicht das Beste. Und dann kam die Vernissage der Sissi.
Eine Lehrerkollegin hatte ihr eine kleine Ausstellung in der Bankfiliale ihres Ehemanns verschafft. Nichts Großartiges, nur etwa dreißig von Sissi Beraneks Bildern wurden an den einfarbigen Wänden zwischen Geldausgabeautomaten, Zählmaschine, Einzahlungsautomat, Kontoauszugdrucker und den beiden Bankschaltern präsentiert. Aber die Bank stellte zur Eröffnung ein paar belegte Brötchen zur Verfügung und sogar ein Bezirksmandatar hatte sein Kommen angekündigt.

Natürlich konnte Professor Karl Beranek sich diesem Ereignis nicht entziehen und er warf sich deshalb in seinen schwarzen Anzug und band seine einzige silberne Krawatte um.
Karl fühlte sich überhaupt nicht wohl. Ein Haufen Leute, die er nicht kannte, der Bezirksmandatar tat sich wichtig, ein etwas höheres Tier des Bankinstitutes hielt eine Rede, die herzergreifend von der Bereitschaft des Instituts kündete, auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten die Kunst möglichst unterstützen zu wollen. Die Worte „sofern es nichts kostet“ wurden nicht ausgesprochen, aber alle wussten, wie die Ansprache aufzufassen war. Schon allein die Anzahl der zur Verfügung gestellten Sandwichs sprach eine deutliche Sprache.
Dann wurde Sissi gebeten, ihre Bilder zu kommentieren.
Diese beschränkte sich hauptsächlich darauf, zu erklären, was denn da abgebildet wäre.
„Das is die Franzensburg in Laxenburg“, sagte sie und „Das da das Schloss Vösendorf. Und ein Erdbeerfeld bei Maria Lanzendorf…“ So ging das eine Weile und die Betrachter machten anerkennende Bemerkungen.

Auf einmal kam aus dem Hintergrund der bissige Kommentar: „Und die Schatten muss man sich halt wegdenken.“
„Karl, bitte halt dich z’rück“, bat Sissi.
„Warum denn? Stimmt was net damit?“, fragte der Bankfritze, der vorhin die Rede gehalten hatte.
„Weil die ein geometrischer Blödsinn sind!“ Karl konnte oder wollte sich nicht zurückhalten.
„Was hat denn Geometrie mit Kunst zu tun?“, wurde er gefragt.
Da begann Professor Karl Beranek zu unterrichten. Die Geometrie sei eine Wissenschaft, mit deren Hilfe man die Natur, aber auch technische Objekte naturgetreu und klaren, eindeutigen Regeln entsprechend abbilden könne. Seine Frau Sissi verzichte aber auf die Methoden der Darstellenden Geometrie, die für eine optisch wahrheitsgemäße Wiedergabe doch unbedingt erforderlich seien.
Man widersprach ihm. Kunst habe nicht die Aufgabe, alles wahrheitsgemäß abzubilden. Kunst müsse Freiheit für Stimmungen und Gefühle lassen. Und Gefühle könne man doch wohl kaum mit Zirkel und Lineal erfassen!
Sissi schämte sich in Grund und Boden für ihren Mann. Sie hatte so gehofft, dass er die Schnauze halten würde. Aber sein pedantischer Charakter ließ das offenbar nicht zu.

Es entstand ein veritables Streitgespräch zwischen Karl und dem Bankmenschen. Als dann auch noch der Bezirksmandatar auf Sissis Seite eingriff, war es zu viel für Karl. Wütend verließ er die Vernissage und nahm sich ein Taxi nach Hause.

Auch Sissi Beranek kam drei Stunden später mit dem Taxi. Sie hatte ihr Auto bei der Bankfiliale stehen gelassen, da inzwischen der Alkoholspiegel in ihrem Blut die null Komma fünf Promille deutlich überstieg. Nach Beendigung der kleinen Feier in der Bank hatte sie noch mit ihrer Arbeitskollegin in einem nahen Lokal gesessen, hatte sich ihren Frust über ihren intoleranten Mann von der Seele geredet und etliche Gläser Welschriesling konsumiert.

Karl schlief bereits, als Sissi heimkam. Und am nächsten Morgen, einem Freitag, schlief Sissi lang, da sie erst spät Unterricht hatte. Da sah sie den Karl also auch nicht.
Sie nahm ein Taxi zur Bank, holte ihren Wagen ab, absolvierte ihren Dienst im Gymnasium und fuhr anschließend, am frühen Nachmittag, auf den Tulbinger Kogel im nördlichen Wienerwald, wo sie den Blick nach Norden ins Tullner Feld malte. Die Malutensilien hatte sie immer im Auto.
Dem Karl sagte sie nichts. Der konservative Fortschrittsgegner weigerte sich ja, ein Mobiltelefon anzuschaffen. Also sollte er eben warten.

Drei Stunden malte Sissi. Schatten inklusive. Und immer, wenn sie an den Schattierungen arbeitete, ärgerte sie sich über ihren Mann. Und mehr und mehr kam sie zu der Erkenntnis, dass sich das Verhältnis zwischen ihrem Karl und ihr grundlegend gewandelt hatte.
Als sie die Malsachen wieder ins Auto packte, sah sie eine Gruppe von Pilzen am Waldrand. Und trotz des Ärgers über ihren Mann nahm sie die schönsten Exemplare davon mit.

Karl hatte sich tatsächlich bereits Sorgen gemacht.
Nachdem er grußlos von der Vernissage am Donnerstag geflüchtet war und seine Frau seither nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, fühlte er sich verpflichtet, doch so etwas wie eine Entschuldigung vorzubringen. Aber Sissi fühlte, dass das nur eine Formsache war. Karl hatte offenbar nicht vor, sich zu ändern.
Trotzdem verlief der Abend einigermaßen zufriedenstellend. Immerhin gab es keinen Streit.

Als sie zu Bett gingen, äußerte Sissi den Wunsch, am nächsten Tag nachmittags nach Mödling hinüber zu fahren. Nach dem Essen, zu dem es Pilzgulasch geben würde.
„Was willst in Mödling?“, fragte Karl.
„Malen. Ich will zum schwarzen Turm rauf und von dort den Blick in die Klause malen.“
„Wenn i net zuschauen muss“, meinte Karl. „Deine Schatten halt i einfach net aus.“
„Dann schau halt weg“, sagte Sissi und damit war die Sache abgemacht.

Samstag zu Mittag stellte Karl fest, dass die Semmelknödel zum Schwammerlgulasch einfach köstlich waren, trotzdem aß Sissi nicht mit. Sie wolle abnehmen, sagte sie. Die Pilze selbst schmeckten etwas schärfer als sonst. Zu viel Pfeffer, stellte Karl fest. „Net nur die Schatten kannst net malen“, warf er Sissi vor, „Würzen kannst auch nimmer so wie früher!“
„Entschuldige, Karl. Können wir losfahren?“

Zwanzig Minuten später parkte Sissi den Wagen beim Mödlinger Kobenzl und dann stiegen sie zum schwarzen Turm hinauf. Ganz in der Nähe des alten Gemäuers fand Sissi eine Stelle direkt an der Felswand mit einem guten Blick aufs Tal des Mödlingbaches. Der Verkehrslärm drang von unten herauf und Sissi stellte Staffelei und Hocker auf.
Karl legte sich ins Gras und benutzte einen kleinen Kalkfelsen als Kopfpolster.

Eine halbe Stunde lang malte Sissi konzentriert. Dann meldete sich Karl. „Du, mir is gar net gut vom Magen.“
„Bleib liegen und versuch, a bisserl zu schlafen“, riet Sissi und malte weiter. Dann sagte sie: „Der Hügel, wo die Ruine Mödling drauf steht, wirft heute ein’ eigenartigen Schatten.“
„Lass mich mit Schatten in Ruh“, bat Karl. „Mir is schlecht vom Magen!“
„Das hängt mit den Schatten z’samm’. Die sind schuld dran“, meinte Sissi.
„Was hat das mit mein’ Magen z’ tun?“
„Du kannst Schatten net akzeptieren, die net durchkonstruiert sind. Und i kann deine pedantische Intoleranz net akzeptieren.“
„Was hat das mit mein’ Magen z’tun?“, wiederholte Karl erstaunt.
„Na ja, wenn du jetzt a Handy hättest, könntest noch den Notarzt rufen“, sagte Sissi. „Aber das is dir ja zu modern. Das kannst ja net tolerieren. Und meine Schatten auch net! Jetzt schauen wir halt einmal, ob du wenigstens a Knollenblätterpilzgulasch tolerieren kannst.“
So, wie Sissi ihn bei diesen Worten ansah, hatte Karl seine Frau noch nie gesehen. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie die Wahrheit sagte. Also deshalb hatte das Pilzgulasch anders geschmeckt als sonst.

Mühsam rappelte sich Karl hoch. Sein Magen verkrampfte sich mittlerweile und er bemerkte, dass sein Blutdruck verrückt spielte – und Sissi saß auf ihrem Hocker und sah Karl so seltsam an, mit einer Mischung aus Mitleid und Triumph. Da fiel sein Blick auf den Schatten auf Sissis Gemälde. Das gesamte Tal der Klausen war auf dem Bild in Schatten getaucht und dieser Schatten hatte eine völlig unmögliche Gestalt! Wut stieg in Karl hoch.
Er bewegte sich auf Sissi zu und fragte sich, ob er noch die Kraft haben würde, das Miststück den Felsen hinunter zu schmeißen. Und Sissi grinste ihn so höhnisch an!

Als er sie am Schopf packte, blitzte Angst in ihren Augen auf. Die ungeheure Wut in ihm verlieh Karl Kräfte, die er sich nie zugetraut hätte, und im nächsten Moment hatte er Sissi über die Kante des Abgrunds gestoßen.
Sissi kollerte etwa fünfzig Höhenmeter über die beinahe senkrechten Felsen. Ihr Kopf schlug mehrmals an die Felswand und an einem schlanken Baum auf einem Felsvorsprung brach ihre Wirbelsäule.
Karl taumelte den Weg zum schwarzen Turm entlang, fühlte aber, dass er es nicht mehr schaffen würde. Auf halben Weg zwischen Turm und Parkplatz kippte er um.

Sissi und Karl starben im Krankenhaus Mödling etwa zur selben Zeit. Sissis Absturz war beobachtet und Karl von einem Spaziergänger gefunden worden, aber die Ärzte konnten natürlich nichts mehr tun.

Die Angelegenheit wurde in der Presse natürlich völlig falsch dargestellt. Man wusste selbstverständlich nichts über die Problematik, die künstlerisch gestaltete Schatten für einen pedantischen Geometrielehrer darstellen können und ging davon aus, dass es zwei Unfälle waren. Unachtsamkeit im Umgang mit Pilzen und ein eventueller Fehltritt am Rand des Steilhangs zum Tal der Mödling. Dass einer der Mörder des anderen war, blieb unerkannt. Und dass Schatten die Auslöser waren, ebenfalls.

Anmerkungen:
[1] Wiens vierter Bezirk

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