Rezensionen

Kunsthaus Zürich / Schirn Kunsthalle Frankfurt: Niki de Saint Phalle

Das Kunsthaus Zürich und die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmen sich einer großangelegten Retrospektive zu Niki de Saint Phalle (1930–2002). Der Katalog zur Ausstellung vermittelt eine gut gemachte Darstellung über Leben und Werk einer der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, deren Arbeiten auch ein halbes Jahrhundert später nichts an Frische und Aktualität verloren haben. Ulrike Schuster hat sich für Portal Kunstgeschichte alle Positionen angesehen.

Cover © Hatje Cantz Verlag
Cover © Hatje Cantz Verlag

Eine zierliche junge Frau mit lammfrommer Unschuldsmine nimmt das Gewehr zur Hand – und beschießt die eigenen Kunstwerke! Die Shooting Paintings machten Niki de Saint Phalle Anfang der 1960er Jahre schlagartig einem breiteren Publikum bekannt. Die Presse und die Kunstwelt hatten ihr weibliches enfant terrible bekommen, was in diesen Jahren ein absolutes Novum darstellte. Die Künstlerin selbst sah zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine bewegte und unkonventionelle Vita zurück.

Catherine Marie–Agnés de Saint Phalle wurde 1930 als Sprössin einer adeligen Familie in Paris geboren. Von ihrer Mutter Jeanne Jacqueline, einer gebürtigen Amerikanerin, erhielt sie den Kosename Niki. Der Vater, ein Börsenmakler, verlor in der Großen Depression sein Vermögen und die Familie übersiedelte in die Vereinigten Staaten. Von außen betrachtet mag es nach einer wohlbehüteten Kindheit ausgesehen haben, doch es gab darin ein dunkles und traumatisierendes Kapitel: als Elfjährige wurde das Kind von seinem Vater missbraucht, die daraus resultierenden Traumata hat Saint Phalle immer wieder in ihrer Kunst reflektiert. Die Heranwachsende besuchte die Klosterschule des New Yorker Herz–Jesu Konvents, doch früh schon rebellierte sie gegen bürgerliche Konventionen. Sie arbeitete als Model für Agenturen und Modemagazine, schaffte es sogar auf die Titelseite der Vogue.

Little Nana, © Hatje Cantz
Little Nana, © Hatje Cantz

1952 führte sie ihr Weg zurück nach Paris, wo sie zu malen begann und ihre ersten Assemblagen entstanden. Auf ihre erste Ehe mit dem amerikanischen Autor und Musiker Harry Mathews folgte 1956 die Begegnung mit dem Schweizer Bildhauer und Experimentalkünstler Jean Tinguely. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Beziehung und eine intensive Arbeitsgemeinschaft, die über 35 Jahre, bis zum Tode Tinguelys im Jahr 1991 währte. Doch Niki de Saint Phalle war nicht der Typus einer Künstler–Ehefrau, die bescheiden im Schatten ihres berühmten Mannes verbleibt. Innerhalb nur weniger Jahre erarbeitet sie ein selbstständiges, unverkennbares Oeuvre. Weltberühmt wurde sie durch ihre Nanas, jene überdimensionalen und knallbunten Frauenfiguren mit den betont üppigen und runden Formen, massig und zugleich scheinbar schwerelos, die eine Vielzahl von zeitgenössischen Museumslandschaften sowie den öffentlichen Raum bevölkern. Ihre gewaltigste Nana schuf sie im Jahr 1966, zusammen mit Jean Tinguely, für das Moderna Museet in Stockholm: Hon (übersetzt: Sie) war eine begehbare »Kathedrale« mit den stattlichen Ausmaßen von 27 Metern Länge, 9 Metern Breite und 6,5 Metern Höhe. Den Eingang bildete die Vulva, worauf sich in ihrem Inneren auf drei Stockwerken dem Publikum ein vielfältiges Unterhaltungsprogramm bot: von einer Milchbar, die in der rechten Brusthälfte untergebracht war, bis zur Aussichtsterrasse über dem hochgewölbten Bauch. Hon, notierte Saint Phalle auf einer Skizze, »ist die schönste und größte Frau der Welt«. Sie repräsentierte die »große pagane Göttin«, stand für das Recht auf lustvollen weiblichen Sex, der nichts mit Pornographie zu tun hat.

I am the Nana Dream House, © Hatje Cantz
I am the Nana Dream House, © Hatje Cantz

Doch das Werk der Künstlerin ist weitaus umfangreicher und vielschichtiger. Der Versuch, dieser Vieldimensionalität und dem umfangreichen Oeuvre gerecht zu werden, steht im Zentrum der vorliegenden Katalogpublikation, unter dem Vorbehalt, wie die Herausgeber betonen, dass ein solches Unterfangen fast unmöglich sei. Niki de Saint Phalle war Malerin und Grafikerin, sie schuf Assemblagen und Skulpturen, initiierte Kunstaktionen, beschäftigte sich mit Theater, Film und Architektur. In allen genannten Bereichen war sie Autodidaktin und hatte auf vielerlei Ebenen gegen Vorurteile und Vorbehalte zu kämpfen. Aus heutiger Sicht überrascht es, wie viele hochbrisante Themen sie bereits vorweggenommen hat. Als eine der ersten Künstlerinnen, die sich in einer männlich besetzten Kunstwelt durchsetzte, brachte sie die feministische Perspektive ein, rotzfrech, bunt und vital. Ihre Frauenbildnisse vermittelten das, was man heutzutage body positivity nennt. Mit einer spielerisch anmutenden Leichtigkeit, scheinbar unbekümmert, ließ Saint Phalle die gesellschaftlichen Zwänge und Konventionen hinter sich. Sie zeigte sich überraschend und exzentrisch, zuweilen düster und brutal, doch immer prägten Witz und Humor ihre Arbeiten mit.

Zu entdecken gilt es zudem Niki de Saint Phalle – die Landschaftsartistin. Über 20 Jahre lang arbeitete sie an der Gestaltung des Tarot Gardens bei Garavicchio in Italien, der ein Gesamtkunstwerk wurde aus Natur, Mensch und Skulptur. Inspiriert von Vorbildern aus dem aus dem Manierismus und Antoni Gaudí, schuf sie über 22 Figuren, die eigentlich Hybride sind zwischen Skulptur, Architektur und geformter Landschaft. Diese verkörpern die Figuren des Tarot–Spiels und stehen in symbolischen Bezügen zu Mythologie, Religion und fremden Kulturen. Ihre aufwendigen und durchaus kostspieligen Großprojekte finanzierte die Künstlerin übrigens selbst. Dafür legte sie graphische Editionen auf, vertrieb aufblasbare Nanas und kreierte ein eigenes Parfum. Zur technischen Umsetzung ihrer Ideen hatte sie stets ein Team von Expert:innen und freiwilligen Helfer:innen um sich. Auch dort, wo es um die praktischen, organisatorischen Belange ging, handelte sie zielorientiert und entschlossen.

L'accouchement-rose, © Hatje Cantz
L'accouchement-rose, © Hatje Cantz

Der Katalog, er eignet sich zum Kennenlernen der Künstlerin ebenso wie zur Vertiefung, orientiert sich an den biographischen Wegstationen. Kunsthistoriker:innen und Wegbegleiter:innen kommen dabei ebenso zu Wort wie zeitgenössische Künstler:innen, die sich in eigenen Projekten von Saint Phalle inspiriert fühlten. Die Texte nähern sich dem Phänomen Niki de Saint Phalle aus verschiedenen Perspektiven. Das Schlusswort sei der Künstlerin selbst überlassen. In ihrer Autobiographie schrieb sie, über sich selbst: »I WOULD SHOW EVERYTHING. My heart, my emotions. Green, blue, red, yellow, all colors. I would show fear, anger, laughter, tenderness in my work. In my life I found it more difficult.«

Katalog:
Titel: Niki de Saint Phalle
Autor:innen: Kunsthaus Zürich/Schirn Kunsthalle Frankfurt (Hg.), Text(e) von Christoph Becker, Bice Curiger, Katharina Dohm, Cathérine Hug, Sandra Gianfreda, Nicolas Party, Mickry 3
Verlag: Hatje Cantz, Berlin 2022
240 S., 195 Abb.
EUR 44,00


Ausstellung:

Kunsthaus Zürich: 2. September 2022 – 8. Jänner 2023

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