Rezensionen, Zeitschriften

Kunstjahr 2011. Die Zeitschrift, die Bilanz zieht, hrsg. v. Gabriele Lindinger, Karlheinz Schmid u.a., Lindinger & Schmid 2011

Alljährlich fasst die Zeitschrift »Kunstjahr« gen Jahrsende zwölf Monate Kunstgeschehen in einem Band zusammen. Das Heft lässt 2011 revue passieren und hebt dabei Interessantes, Belangloses, Monumentales oder einfach nur Kurioses hervor. Bringen Sie sich auf den neuesten Stand und holen Sie das Verpasste nach! Günter Baumann fasst für Sie zusammen.

Um ein komplettes Kunstjahr zwischen zwei Buchdeckeln abzuhandeln, wären viele Hände, noch mehr Augen und schier unendliche Bahnen Papier nötig, es sei denn, man geht mit einem beherzten Mut zur Lücke, einer Portion Selbstbewusstsein bzw. Entscheidungsfreude und einem Cover ans Werk, das eben dieses eine, nun ablaufende Jahr auf den Punkt bringt. Die Zeitschrift »Kunstjahr«, die dem Untertitel nach »Bilanz zieht« und obendrein mit einem Umfang von 320 Seiten und Maßen von 33,8 x 24 cm eher einem opulenten Jahrbuch als einer Zeitschrift gleicht, zeigt in ihrer »Nummer elf« ein Porträt des chinesischen Künstler Ai Weiwei: ein in Rot getränktes, aber über jede staatliche Bevormundung und Missachtung von Menschenrechten triumphierend lächelndes Bildnis. Ausgerechnet China prägte dem Kunstjahr einen Stempel auf, trotz oder wohl wegen seiner verhöhnenden Haltung gegenüber persönlicher Freiheit und dem Unwillen, seine menschenverachtenden Politik aufzugeben. Doch kann der mächtig voranschreitende Staat in Ostasien die Imagesteigerung des langjährigen China-Booms für sich nutzen und sich in Sachen Kunst als erstaunlich marktorientiert profilieren.

Erst jüngst erinnerten Intellektuelle anlässlich der diesjährigen Verleihung der Nobelpreise an den inhaftierten Friedensnobelpreisträger des Jahres 2010. Mit der Veröffentlichung des brisanten Buches »Für ein Lied und hundert Lieder« machte Liao Yiwu drastisch bewusst, wie barbarisch der chinesische Machtapparat die Würde des Menschen kleinzumachen versteht. Ai Weiwei genießt international wenigstens ein so hohes Ansehen, dass der Staat ihn nur mit einfältigsten Methoden mundtot machen konnte. So zeigt sich, dass dank der Medien und einer zumindest ansatzweise kritischen Öffentlichkeit im Land des Drachen Hoffnung dafür besteht, dass irgendwann einmal auch dort die Freiheit mehr als ein Wort sein wird. Zeichen setzten im Westen einzelne Museen, die in großen Transparenten auf das Schicksal des Künstlers aufmerksam machten. Auch fanden auf der Biennale Taschen mit dem Aufdruck »Free Ai Weiwei« reißenden Absatz, wie die aktuelle Ausgabe des »Kunstjahrs« berichtet. Schade, dass es hierzulande immer noch Wirtschaftskonzerne gibt, die lieber ihre Auslandsbilanzen als Kunstzeitschriften lesen, oder dass selbst Kulturschaffende die Bedeutung Ai Weiweis kleinreden, um eine der überflüssigsten Ausstellungen des Jahres – die »Kunst der Aufklärung« im Pekinger Nationalmuseum – zu rechtfertigen. Im »Kunstjahr« wird sie zu Recht als »Politfarce« entlarvt. Andrerseits macht ein durchaus amüsant zu lesender Artikel von Alfred Nemeczek zur nächsten Documenta 2013 indirekt klar, wie wichtig der chinesische Künstler ist: In Abwägung der anstehenden Documenta 13 und der ersten Documenta 1955 geht es um die memorierbaren und erinnerungswürdigen Beiträger: Damals zur »Ur-documenta« waren es für den Autor wohl um die 150 Namen, mit den offiziell bekannten 16 Personen der dreizehnten Auflage tut sich erst eine verhaltene Vorfreude kund. Zwischen dem Solidaritätsaufruf für Ai Weiwei und der unfreiwilligen Aufklärungssatire in Peking kommt einem als erster Name der Documenta 12 kein anderer als ebendieser in den Sinn.

So sehr hier ein Leitmotiv für die Zeitschrift anzuklingen scheint, hebt die renommierte Autorenschar, darunter Dorothee Baer-Bogenschütz, Klaus Honnef, der Mitherausgeber Karlheinz Schmid u.a.m., zur Eventcollage an, die das Creativbüro Jürgen Mayer in bewährter Manier als teils farbige, teils schwarzweiße Bild-/Textstrecken aufgelockert und aus einem Sammelsurium von Ausstellungen und Ereignissen ein munter durchwachsenes Potpourri der high and low culture komponiert hat. Spotlights, Ausblicke, Marktnews einerseits, Ärgernisse andrerseits machen keinen Hehl daraus, dass das Team mit einer Meinung nicht hinterm Berg hält. Man muss daher nicht jedem Urteil folgen – etwas nervig ist die gebetsmühlenartige Seufzerei über Großveranstaltungen wie die Biennale, weil sie wieder einmal nicht den ultimativ wichtigsten Rundumschlag geliefert hätten – und man wird sicher eine Menge an Ereignissen vermissen, doch insgesamt ist es ein Vergnügen, nach vorn und zurück zu blättern, hier sich festzubeißen, dort flüchtig über manches hinwegzugehen.

Diese Wundertüte voller Kunst ist so zweckfrei und so faszinierend wie jeder Rückblick, der Facetten des Weltgeschehens auf Häppchengröße reduzieren muss. Ein nicht zu unterschätzender Höhepunkt solcher Rückblicke sind die chronologischen Revuen: Verwundert reibt man sich etwa die Augen auf der Suche nach dem Tod des postum gefeierten Biennale-Künstlers Christof Schlingensief, nur um sich gewahr zu werden, dass er bereits vor dem Beginn des aktuell erfassten und im November beginnenden Kunstjahrs verstarb, nämlich im August 2010. Gedacht wird dagegen anderer Toter: Martin Noel (November 2010, gerade mal knapp über 50!), der unvergessliche Kunsthistoriker und Rodin-Kenner mit dem geheimnisvollen Namen Josef Adolf Schmoll genannt Eisenwerth (Dezember 2010), Dennis Oppenheim (Januar 2011), Bernhardt Luginbühl (Februar), der Schrift-Guru Kurt Weidemann (März), Brigitte Matschinsky-Denninghoff (April), der Tausendsassa Gunter Sachs (Mai), Bernhard Heisig als Institution der DDR-Kunst (Juni), mit Cy Twombly einer der wichtigsten Künstler seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Juli), mit Roman Opalka einer der stillsten derselben Jahrzehnte (August), Bernhard Blume (September) – um nur einige Personen stellvertretend zu nennen.

Das »Kunstjahr 2011« enthält sachkundige Beiträge nicht nur zum Ausstellungsbetrieb und zur Architektur, sondern blickt auch auf die Nachbardisziplinen Comics, Design, Mode, Tanz und Tattoo. In jeder Hinsicht ragt es im Bücherregal heraus, es sei denn, man reiht es in die vergangenen Jahrgänge ein – auf jeden Fall erhält man einen abwechslungsreichen, spannenden Blick auf ein Jahr, dass auch eines klar werden lässt: Das nächste hat bereits begonnen.

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