Kataloge, Rezensionen

Kunstsammlung NRW (Hg.): Fresh Widow. Fensterbilder seit Matisse und Duchamp, Hatje Cantz 2012

Bis in die Moderne prägte Albertis Vergleich zwischen dem Bild und einem geöffneten Fenster Generationen von Malern. Dann wurde das auf sein Rahmengeviert reduzierte Fenster als Motiv und Symbol eingesetzt, um die Freiheit der Malerei von ihrer abbildenden Funktion zu erproben. Walter Kayser hat sich mit der Entwicklung des Fensterbildes anhand verschiedener Positionen auseinander gesetzt.

Das Fenster als Bildmotiv der Malerei ist eine Erfindung des Bürgertums. Denn es setzt eine Markierung zwischen der Sphäre des Heimeligen, Individuellen und der feindlichen Welt draußen, zwischen innen und außen, Privatheit und Öffentlichkeit.

Das ist nicht neu. Auch nicht, dass das Fenster, nicht von ungefähr zeitgleich mit der linearen Zentralperspektive, zum Inbegriff dessen wurde, was ein Bild darstellt. Mit der Annahme, das rechtwinklige Viereck an der Wand »sei ein offen stehendes Fenster, durch das ich betrachte, was hier gemalt werden soll«, erhob 1435 Leon Battista Alberti in seinem Traktat »Della Pittura« das Fenster zum Paradigma des Tafelbildes schlechthin. Illusionismus und die Vermessung der Welt auch in der dritten Dimension wetteiferten seitdem miteinander.

Illusionismus bedeutet aber zugleich auch die kritische Reflexion über das, was Visualität und Räumlichkeit eigentlich sei, — erst recht in den Zeiten der Moderne. Das Imaginierte jenseits des „Ausgangspunkts“ Fenster, jene kaum erschließbare jenseitige Imaginationswelt, wird mit romantischer Bedeutung aufgeladen, sei es bei Vermeers »Briefleserin« oder bei der hinreißend frischen Zeichnung, die Tischbein 1787 von seinem Mitbewohner am Fenster der gemeinsamen Wohnung am Corso in Rom zeichnete. Es ist von daher auch sicherlich kein Zufall, dass das älteste Foto der Geschichte, der auf 1826 datierte Blick auf eine Hinterhof- und Dächerlandschaft in Chalon-sur-Saône von Joseph Nicéphore Nièpce, ein Atelierfenster als Rahmung wählt.

Immer bildete das Fenster so etwas wie einen Schnittpunkt zwischen den Augen des Betrachters und der Welt draußen, ein Modell in zwei Richtungen. Mit dem Verlust der Abbildfunktion und der wachsenden Autonomie der Malerei entwickelt sich nun zeitgleich auch das Moment der Verweigerung des Ausblicks. Schon am Beginn des 19. Jahrhunderts zeugen die Atelierbilder eines Caspar David Friedrich oder seines Freundes Carl Gustav Carus davon. Statt Durchblicke zu gewähren, verlangen solche Blockaden des Ausblicks eher neue Einblicke der Betrachtung.

Der Titel des hier zur Diskussion stehenden Ausstellungskatalogs deutet auf spielerisch-witzige Weise die Umwandlung des Tafelbildes und damit die Umwertung des Fensters als Leitmetapher an: »Fresh Widow«, also die „frische Witwe“, nannte Marcel Duchamp 1920 sein Modell eines „french Window“. Die verlorenen „n“ stehen für all das, was der Leitmetapher Fenster abhanden gekommen ist: der durch Rahmung gelenkte Blick in die Ferne, das Spiel von Transparenz und Spiegelung, das Spannungsverhältnis von Licht und Schatten, von Bildraum und Flächigkeit ist fragwürdig geworden.

Marcel Duchamps heute nur noch in einem Nachbau von 1964 erhaltenes Objekt aus dem Israel Museum in Jerusalem hat nämlich das Fenster aus jedem Bauzusammenhang herausgerissen und in ein Miniaturformat verfremdet. An die Stelle der Glasscheiben in den Sprossenquadraten hat Duchamp schwarze Lederflächen eingespannt, welche den Ausblick verweigern und den Betrachter auf sich und sein eingefleischtes Wahrnehmungsmuster zurückverweisen.

Zählt man das Vorwort mit, so sind es gleich drei Basisessays, die im Katalog eine theoretische Grundlage legen, indem sie sich in einer phänomenologischen, kulturgeschichtlichen und in einer ästhetischen Reflexion dem Thema nähern. Neben Maria Müller-Schareck, die für die wissenschaftliche Kuratorarbeit der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf firmiert, konnte hier auch Rolf Selbmann gewonnen werden, der erst vor zwei Jahren »Eine Kulturgeschichte des Fensters von der Antike bis zur Moderne« als neues Referenzwerk veröffentlichte. Ansonsten greift die Ausstellung wieder einen Faden auf, der 1976 mit einer Publikation J. Adolf Schmoll gen. Eisenwerths und mit einer Schau innerhalb der damaligen Ruhrfestspiele Recklinghausen fallen gelassen wurde. Auch die jetzige Düsseldorfer Ausstellung legt eindeutig den Schwerpunkt auf die Kunst der letzten Jahrzehnte.

Natürlich kommt man nicht an der klassischen Moderne vorbei: Robert Delaunay, Henri Matisse, René Magritte und der Bottroper Bauhäusler Josef Albers schlagen jeder auf seine unverwechselbare Weise unterschiedliche Richtungen ein: Doch ihre Wege treffen sich in einem Ziel: sie verweigern den gewohnten Blick auf die Welt, um einer neuen, autonomeren Bildwirklichkeit Raum zu schaffen.

Henri Matisse benutzt das Motiv der Laibung nicht nur als Repoussoir für dahinter liegende Farbexplosionen ; mehr noch, in einigen Fensterbilder entpuppt er sich »als Ahnherr jener jungen Maler der 1950er- und 1960er-Jahre, die auf reine Farbe und auf große Flächen setzten, wie ein Farbfeldmaler oder sogar ein Minimalist avant la lettre«, so Peter Kropmanns auf S.79. Robert Delaunays Beitrag zu diesem Thema war vielleicht noch bedeutender, indem er um 1912 eine Serie von Fensterbildern schuf, die sich von der zersplitterten kubistischen Kontur restlos lösen, den begrenzten Gegenstand gänzlich aufbrechen und in simultane, prismatische Farbbewegungen übersetzen. Gerade für Macke und Klee wurde diese Werkgruppe kurz darauf wegweisend.

Vergleichsweise spät und vordergründig dagegen der Angriff auf Albertis Dictum durch den belgischen Surrealisten René Magritte. Häufig benutzt er dabei die Idee des Bildes im Bild. Von der Popularität seiner Fensterbilder zeugen die Wände etlicher Studentenbuden, sie sind nicht von ungefähr kommerzielle Erfolge der Plakat-Industrie. Denn die Irritation des Illusionismus ist auf Anhieb verständlich, wenn anstelle der gemalten Welt draußen eine zerbrochene Fensterscheibe gezeigt wird, auf deren herabgefallenen Scherben die Fragmente eben dieser vorgegaukelten Aussicht erscheinen. Auf diese Weise wird nach einem Wort Michel Foucaults »das Gemälde zu seinem eigenen Modell«.

Auf die Altväter folgen zwölf neuere Künstler, die das Fenster zu ungewöhnlichen Sehweisen mithilfe des Fensters weit aufgestoßen haben. Ihnen sind jeweils knappe monografische Kapitel gewidmet. Natürlich befinden sich unter ihnen so illustre Namen wie Christo oder Gerhard Richter, die längst auch wieder zu Klassikern geworden sind. Aber es sind auch für Nichtspezialisten wunderbare Entdeckungen zu machen. Ellsworth Kelly, Eva Hesse, Robert Motherwell, Isa Genzken, Brice Marden, Günther Förg, Toba Khedoori, Jeff Wall, Sabine Hornig, Olafur Eliasson und Jochem Hendricks haben zumindest phasenweise seit etwa 1950 das Fenster in den Mittelpunkt ihres Schaffens gerückt. Sei es, dass sie die klar reduzierte Form des Fensterkreuzes inspirierte (Ellsworth Kelly, Günther Förg), sei es, dass das gerahmte Viereck sozusagen zu Selbstporträts des Tafelbildes den Anstoß gab (Eva Hesse). Sabine Hornig korrespondiert in ihren beeindruckenden Schaufensterfotografien der letzten Jahre auf faszinierende Weise mit den verhängten Fensterarbeiten Christos, die dieser in den 60ern »Store Fronts« und »Show Windows« nannte. Sie sagt dazu, indem sie wieder etliche Punkte berührt, die die Faszination dieses Themas ausmachen: »Bei den Fotoarbeiten der Schaufenster bringt die Spiegelung die Ebene hinter dem Betrachter nach vorne und verstellt den Fluchtpunkt im Bild. Diese visuelle Barrikade ist wie ein virtueller Vorgang – sie ähnelt dem, was einem beim Prozess des Erinnerns im Weg sein kann oder aber etwas wieder eröffnet: Nämlich dann, wenn der Vorhang wieder durchlässig wird«.

Wunderbar sind auch die Zeichnungen der gebürtigen Australierin Toba Khedooris. Fensteröffnungen bilden Raster, oder sie treten uns als vereinzeltes Geviert, das auf riesigen Papierbahnen gezeichnet und von einer Wachsschicht wie von einer Glasscheibe versiegelt wird, so gegenüber, als würde es uns anschauen. Das wirkt, als hätte die Wahlamerikanerin die Definition des Fensters im Grimmschen Wörterbuch nachgeschlagen, wo es als „Auge des Hauses“ bezeichnet wird.

Alle Texte dieses Buches sind in Doppelspalten gesetzt, so dass sich auch im Schriftbild eine Art Sprossengliederung mit Fensterlaibung ergibt. Kleinere Abbildungen sind mit leichter Verschattung wie in Passepartouts eingelassen. Die fast zur Gänze beige eingefärbten Seiten lassen weiße Rahmenbalken stehen, in denen auch die Überschriften wie Ausblicke erscheinen.Die Buchgestaltung ist also konsequent, aber Geschmackssache, denn das einheitliche Layout geht etwas auf Kosten der Lesbarkeit. – Insgesamt ein einsichts- und aussichtsreiches intellektuelles Vergnügen!

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