Ausstellungsbesprechungen

Landschaft als Weltsicht, Museum Wiesbaden, bis 3. Oktober 2011

Gezeigt wird im Museum Wiesbaden ein Konvolut von etwa zweihundert Werken aus fünf Jahrhunderten, das ein Privatsammler für eine Wanderausstellung unter dem Titel »Landschaft als Weltsicht« zur Verfügung gestellt hat. In der Landschaftskunst »bündeln sich«, so das Museum in einer Annonce, »kollektive und individuelle Perspektiven und offenbaren sich gesellschaftliche Modellvorstellungen ebenso wie private Wünsche, Ängste und Sehnsüchte«. Franz Siepe hat sich das genauer angesehen.

Man wird diese These kaum kühn nennen wollen, doch formuliert der Wiesbadener Präsentationsmodus den Gedanken der Reflexion kultureller Befindlichkeiten im Medium der Landschaftsbilder auf eine besondere Weise, indem er dem naturentfremdeten Gegenwartsbewusstsein retrospektive Prägekraft zukommen lässt: Die Einsicht, dass die Moderne Naturschönes nicht mehr zum unmittelbaren Genuss hernehmen kann, grundiert Konzeption und Hängung so, dass die dem Thema Landschaft quasi automatisch assoziierte Vorstellung von Schönheit sich nur gebrochen und in der Dauerbegleitung des Gefühls konstitutiven Bedrohtseins einstellt. Selbst wenn einst, so der Tenor, Landschaftsschönes in Gemälden unversehrt aufgeschienen sein mag, verbieten die Deformationen des Heute jedes naive Wohlgefallen am Gestern.

Zwar bedient die erste von zwei Etappen des Rundgangs insofern konventionelle Erwartungen, als zunächst zehn Niederländer des 17. Jahrhunderts (z. B. Jan van Goyen, Joos de Momper und Jacob Isaacksz. van Ruisdael) versammelt sind; auch der zweite Raum mit französischen und deutschen Werken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (so Camille Corot und Gustave Courbet oder Lovis Corinth, Max Liebermann und Max Slevogt) liegt gewissermaßen noch auf kanonischer Linie. Aber schon der folgende Raum ist mit der düstren Überschrift »Die Ahnung von Endlichkeit« versehen, enthält lauter Schnee- bzw. Winterlandschaften und stimmt auf Kälte, Melancholie und Todesnähe ein. Von symptomatischer Winzigkeit ist das benachbarte Kabinett »Der Traum von der Idylle«, u. a mit zwei staunenswerten Fjord-Ansichten des Norwegers Georg Anton Rasmussen aus dem späten 19. Jahrhundert.

Wer bis dahin vielleicht noch einigermaßen sorglos durch die Räumlichkeiten flaniert ist, wird spätestens im fünften Saal (»Endzeit und Hoffnung – die gefährdete Landschaft«) stocken. Hier, am Scheitelpunkt des Erdgeschoss-Rundgangs, befindet sich der Besucher nämlich in einem thematischen Brennpunkt der Ausstellung.

Merkwürdig ist: Wenngleich das Konzept die Zerstörungskraft des menschlichen Eingriffs ins Naturgefüge demonstrieren will und obschon die Wunden, die Krieg, Industrialisierung und Urbanisierung den Städten und Landschaften geschlagen haben, sichtbar klaffen – auch diese finstre Weltsicht gehorcht dem Gesetz der Ästhetisierung qua Musealisierung: Das Entsetzliche, etwa eine Luftaufnahme des zerbombten Mainz, entfaltet, gerahmt und hier exponiert, optischen Reiz. Und Fotografien von Rudolf Holtappel, der in den 1950/60ern das Ruhrgebiet porträtierte, bezeugen zwar die monströse Gewalt der Schwerindustrie, sind aber, um es schlicht zu sagen, schön, weil ein Künstler die Kamera positionierte und für Abzüge in fantastischer Luzidität sorgte.

Bildende Künstler (re)produzierten die in der Ausstellung immer wieder beschworene »Stimmung der Gefährdung«, indem sie anheimelnde Romantisierungen um jeden Preis mieden. Extreme Reduktion, forcierte Abstraktion und zuweilen aggressive Destruktion (Arnulf Rainer überpinselte auch Landschaften!) propagieren eine Weltsicht ohne Naturevidenzen. Sehr lange steht man vor der weißen Leinwand des Chinesen Qiu Shihua von 2006, bis man meint, Flüsse, Hügel oder Wälder zu erahnen. Zugegeben aber: Verglichen mit dem von seinem Landsmann Meng Huang gemalten Emissions-Inferno »Smoke« (2001) kann diese reinweiße Monochromie schon so etwas wie Hoffnung auf Erlösung aus dem omnipräsenten Weltenunrat aufkeimen lassen.

Um ein kunsthistorisches Phänomen eigener Art handelt es sich bei den »chiffrierten Landschaften«, für die paradigmatisch Roy Lichtensteins »Ten Landscapes« stehen. Der Wiesbadener Kustos Peter Forster erklärt in seinem Katalogbeitrag die diffizile Dialektik von Verschlüsselung und Entschlüsselung, die diesen Objekten innewohne: Durch die Rätselhaftigkeit des Chiffrierungsprozesses werde der Landschaft »Geheimnis« und »Erhabenheit« zurückerstattet, was allerdings – wie etwa auch im Falle von Werken Joseph Beuys’ – den »unselbstständig denkenden Massenmenschen« verborgen bleibe und lediglich dem »Einzelnen, der sich auf Intuition und Kreativität verlässt«, zugänglich sei.

Da hat der Normalbesucher schon zu schlucken, zumal ja, wie Forster anmerkt, den Entstehungsumständen dieser hermetischen Landschaftskunst etwas Mirakulöses anhaftet: »Die Chiffrierung von Landschaftsdarstellungen beschränkt sich im Übrigen nicht auf einzelne Kunstregionen, sondern scheint als Zeiterscheinung grenzenlos zu sein. Es handelt sich weder um eine europäische noch um eine amerikanische Erscheinung, sondern sie findet sich seit den 1960er Jahren nahezu zeitgleich überall, gerade so, als gäbe es dazu eine unausgesprochene und nicht verabredete Übereinkunft«.

Jedenfalls bezweckte die Landschaftschiffrierung eine reflektierte Distanzierung von massenmedial trivialisierten Landschaftsbildern, die suggerieren, die verlorene Unschuld des Mensch-Natur-Verhältnisses sei durch schönen Schein wiederherzustellen. Und tatsächlich: Wenn man am Ende des ersten Rundgangs wieder einen Raum mit niederländischen Gemälden des 17. Jahrhunderts (»Der Sehnsucht folgend – von den Niederlanden in die Welt«) betritt, hat sich die Wahrnehmung verändert: Was zuvor vielleicht noch als »natürliche« Naturschönheit begegnete, stellt sich nun dar als Konstruktion einer – historisch bedingten – Weltsicht.

Der im zweiten Stock des Museums angesiedelte zweite Ausstellungsteil (»Die Landschaft im Jetzt«) lebt im Wesentlichen von durchwegs hochrangigen Fotografien internationaler Provenienz (z. B. von Walker Evans oder vom Ehepaar Bernd und Hilla Becher). Hervorgehoben sei die Fotoarbeit »Acker am Bahngleis« (101,7 x 147,1 cm) der Düsseldorfer Becher-Schülerin Simone Nieweg. Die Künstlerin zaubert Bedeutung aus Unbedeutendem herbei, verleiht dem Marginalen Würde und dem Kleinen Größe. Ein wunderbarer, den Augen geschenkter Trost: Schönheit als Glücksversprechen!

Den Schlusspunkt setzt eine mächtige Videoinstallation Ingeborg Lüschers. Sie thematisiert effektvoll die Vielfalt von Naturerscheinungen in ihrer Fragilität. Schließlich rumpeln unerträglich lärmende Panzer durchs Bild, und die kriegsentschlossene Stimme George W. Bushs tönt: »The game is over«.

Weitere Informationen

Die Ausstellung ist von November 2011 bis Januar 2012 auch in Chemnitz zu sehen.

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