Kataloge

Latacz, Joachim; Greub, Thierry und Blome, Peter: Homer. Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst, Hirmer Verlag, München 2008.

In einer Zeit, in der die Begegnung der Kulturen immer wieder nicht nur zu Austausch und grenzenlosem Handel führt, sondern auch zur Bedrohung der eigenen Identität und antimodernistischen Reflexen, ist es gut, sich zu vergewissern, woher man kommt.

Die griechische Mythologie stellt dabei ein riesiges Panorama von Geschichten bereit, in denen sich menschliche Grundgegebenheiten spiegeln und wieder erkennen können. Was treibt Menschen zu Krieg und Selbstzerstörung? Wozu sind sie in außergewöhnlichen Lagen fähig? Wie ist das, wenn unstillbare Rachegelüste zum Hauptbeweggrund werden, an dem man eine erlittene Demütigung abzuarbeiten versucht? Wie, wenn Väter ihre Söhne beweinen müssen (wie Priamos die geschändete Leiche des Hektor)? Was bedeuten Werte wie »Ehre«, ein westlicher Freiheitsbegriff, ein sich von »Barbarei« abgrenzendes Selbstverständnis? 

»Von Anbeginn haben alle nach Homer gelernt«, schrieb der griechische Philosoph Xenophanes bereits gegen 500 v. Chr., und der Tragödienschreiber Aischylos, bekanntlich einer der größten seines Metiers, soll sein Werk bescheiden als das Wenige bezeichnet haben, was an »Scheibchen und Brosamen von der reich gedeckten Tafel des Dichters Homer« herunterfiel.

 

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Um es paradox zu formulieren: Die Person des »blinden Sängers« ist fast ungreifbar, seine Persönlichkeit aber keineswegs. Er ist nach 2700 Jahren der »nächste Fremde« (Uvo Hölscher) und zugleich der »pater vatum« geblieben. Denn Homer markiert das Ende oraler Überlieferung und den Anfang und zugleich Höhepunkt einer abendländischen Kultur, die erstmals im Zeichen der Textualität steht. Wie der hier vorliegende Katalog bezeugt, hat unter allen antiken Persönlichkeiten vermutlich keine so sehr das Selbstverständnis der westlichen Zivilisation geprägt wie der vor etwa 2700 Jahren lebende Homer. »Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst« heißt denn auch folgerichtig die Ausstellung, die seit dem 16. März in Basel zu sehen ist. Nach der großen und von ca. 1 Millionen Besucher gesehenen Troia-Ausstellung von 2001/2002, die um die Nachfolgegrabungen des Tübinger Archäologen Korfmann ging, kreist diese nun um den Mann und das Werk, das als »Ausgangspunkt, die Quelle und absolute Bezugsgröße« zu gelten hat, wie Anton Bierl in seinem Aufsatz über die »Rezeption der Homerischen Dichtung in der griechischen Literatur« (208) schreibt.

Bis in unsere Tage ist im Lichte der Wissenschaft so gut wie nichts unumstritten geblieben: Dass er ein blinder Sänger (einer der sagenhaften Aoíden) gewesen sei oder doch ein »Irrwisch« (Wolfgang Schadewaldt), dessen Name ein Übername sei, abgeleitet aus dem griechischen homáros (= die Versammlung); dass er in Smyrna geboren wurde, im Einflussbereich jener »ostionischen Renaissance« des späten 8. Jahrhunderts, die gekennzeichnet war durch Bevölkerungswachstum, Eintritt in den Fernhandel, Übernahme der genialen phönizischen Konsonantenschrift; durch die Gründung neuer Kolonien, das Städteband der ionischen Dodekapoleis und den Bau des ersten 1000-Fuß-Tempels auf Samos zu Ehren der Göttermutter Hera. Sogar wo diese Völkerschlacht um das sagenumwobene Troia eigentlich genau liegt, – wurde nun in Zweifel gezogen.

 

 

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Ohne dass die Ausstellungsmacher darauf noch hätten eingehen können, durchkreuzt seit dem letzten Weihnachten der Schriftsteller Raoul Schrott als Hecht im Karpfenteich der altehrwürdigen Gräzisten und Archäologen mit der These, das sagenumwobene Ilias sei nicht an den Dardanellen, sondern in Kilikien zu suchen. Frontal greift er damit nicht nur den inzwischen verstorbenen Tübinger Archäologen Manfred Korfmann und dessen im Jahr 2002 entfachten Trojanischen Forscherkrieg an, sondern auch den spiritus rector der jetzigen Ausstellung. Man kann den emeritierten Basler Gräzisten Joachim Latacz nämlich mit Fug und Recht als den Nestor der Homer-Forschung bezeichnen. Für ihn sind Raoul Schrotts jüngste Thesen mittlerweile »blühende Phantasien«, »Blendwerkphänomene«, die es »nicht einmal zu ignorieren« gelte. Der bei Hirmer erschienene Katalog ist mit seinen 31 Beiträgen von 26 namhaften Forschern aufschlussreicher als ein Gang durch die Ausstellung in Basel. In gleich fünf Beiträgen zum Katalog fasst Latacz selbst zusammen, was als die Summe seines Lebenswerks bezeichnet werden kann. Er macht dies auf beeindruckende Weise, weil er sich stilistisch zunächst ohne jegliche Voraussetzung auf das Niveau der meisten Zeitgenossen herablassen kann. Mit anderen Worten: er weiß, dass für die allermeisten der jüngeren Generation der Name Homer am ehesten mit dem Comicfigur-Alten der beliebten TV-Vorabendserie »Die Simpsons« verknüpft wird. Wenn ihnen die Irrfahrten des »Tricksters« Odysseus noch eher etwas sagt als die ältere, 16000 Verse lange »Ilias«, so nicht deshalb, weil sie weniger sperrig wäre, sondern weil jedem schon einmal die Redewendung »eine wahre Odyssee hinter sich haben« begegnet ist. Dann aber gibt Latacz eine so klare wie kenntnisreiche Einführung in die Grundzüge seines Metiers. Anschaulich informiert er über die Grundlagen der abendländischen »Textualität, also die Regulation gesellschaftlicher Beziehungen aller Art durch schriftliche Fixierung von Texten« (16). Er zeigt, dass bereits Homer noch heute aktuelle Grundfragen thematisiert hat, – etwa das Verhältnis von leistungsgerechtem Ansehen (Achill) und der Würde der unverdienten höheren Abkunft (Agamemnon). Aufschlussreich auch die Ausführungen zu der artistischen Erzählkunst selbst, die darin besteht, den bloßen chronologischen Handlungsstrang aufzubrechen und in sorgsam konstruierten Spannungsbögen von ausgefeilten Hineinspiegelungen und Einschaltungen, Vor- und Rückblenden, Raffungen und Dehnungen das Faktische nicht nur wiederzugeben, sondern in deutenden Bezügen zu kommentieren. »Einem, der nie gelebt hat, gilt sie [diese Ausstellung] nicht. Sie gilt einem Unsterblichen«, fasst er sein Credo zusammen.

 

 

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Der Katalog gliedert sich in fünf große Abschnitte. Sämtliche Exponate werden im Bild reproduziert. Zunächst geht es um die Person des Dichters, seinen Lebensraum, die Architektur seiner Zeit und die Kolonisationsbewegung des 8. Jahrhunderts vor Christus. Danach wird die Vorgeschichte der Dichtungen abgesteckt (2), bevor die zentralen Versepen (3) und die Geschichte ihrer Überlieferung (4) vorgestellt werden. Den Abschluss bildet dann das Kapitel mit den im Untertitel »Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst« angekündigten Rezeptionsfragen. Eine flüchtige Vergewisserung genügt, um zu ermessen, wie ungemein reichhaltig die Bildthemen vom »Urteil des Paris« bis hin zur »Flucht des Aeneas« aus der brennenden Stadt, von der Blendung des Polyphem bis hin zur Rückkehr in seine Heimat Ithaka im Verlauf vieler Jahrhunderte verarbeitet wurden. Der Anspruch der Basler Ausstellung, von den bronzezeitlichen Zeugnissen über die ersten Vasenbilder bis zu mittelalterlichen Handschriften, über Flaxman, Füssli, Böcklin und Slevogt bis hin zu Sigmar Polkes 1982 entstandene Serie zum »Traum des Menelaos« einen Bogen zu schlagen, mag deshalb manchem vermessen erscheinen. Was man allerdings aus wichtigsten Museen hier zusammentragen konnte, ist mehr als beeindruckend. Das beginnt mit Leihgaben aus dem Archäologischen Nationalmuseum in Athen wie dem frühen Kriegerkopf aus Mykene (14. Jh. v. Chr. /Kat. Nr. 59), der noch einen Helm mit Eberhauern zeigt, wie ihn der Dichter in der Ilias beschrieb. Die Qualität großartiger Vasenmalerei mit Ereignisdarstellungen der homerischen Epen aus dem Louvre, aus Rom, London, Berlin oder München ist schier überwältigend. Dennoch bleibt insbesondere die Konfrontation mit moderner Kunst (worunter hier alle Kunst nach der Renaissance zu verstehen ist) eher zufällig. Antikes und neuzeitliche Darstellungen sind in den Ausstellungsräumen bunt durcheinander gehängt und haben lediglich illustratorische Funktion. Die je besondere Art der Rezeption wird nicht reflektiert. Dankenswert immerhin, dass die Homerischen Hexameter (in der Übersetzung von Latacz) in den Vitrinen und auf einem Extrablatt angegeben sind und so ersichtlich wird, worauf sich die Exponate beziehen lassen.

 

Das Aufgebot von Bildern kann und muss unvollständig erscheinen angesichts des Bilderreichtums der inspirierenden Dichtungen. Man möchte die Worte des Phäakenkönigs Alkinoos ummünzen und auf Homer beziehen, was dieser von der Erzählkunst des Odysseus sagen lässt: »Aber in deinen Worten ist Anmut und edle Gesinnung;/ Gleich dem weisesten Sänger, erzähltest du die Geschichte/ Von des argeiischen Heers und deinen traurigen Leiden.«

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