Ausstellungsbesprechungen

Les Visionnaires. Visionäre Grafikkunst der Gegenwart aus Frankreich, Panorama Museum Bad Frankenhausen, bis 9. September 2012

Das Panorama Museum in Bad Frankenhausen hat dem Surrealismus und fantastischen Realismus sowie ihren Spielarten einen festen Platz eingeräumt. Bereits letztes Jahr glänzte das Museum mit einer Schau zu 15 spanischen Künstlern und ihren magischen Werken. Dieses Jahr steht Frankreich im Fokus der Aufmerksamkeit. Rowena Fuß war vor Ort.

Scheinbar angehalten in Zeit und Raum schwebt eine Figur in Étienne Lodéhos Stich »Die große Reise« (1983) zum Licht am Ende eines Bohrtunnels, dessen dunkle Wände aus allerlei Kreaturen — Insekten wie Menschen — sowie Kugeln und Stangen bestehen. En detail ist der Strudel aus Leibern und Formen wiedergegeben und repräsentiert das breite Spektrum des Lebens.

Lodého ist Teil einer Kunstströmung, die sich in Frankreich innerhalb der 60er Jahre entwickelte, in den 70er und frühen 80er Jahren zur Blüte gelangte und bis heute modifiziert fortwirkt. Doch obwohl die Ursprünge der so genannten visionären Kunst im Nachkriegssurrealismus liegen, unterscheidet sie sich in ihrem Anliegen, ihrem Anspruch und ihrer Umsetzung von diesem. Die visionäre Kunst ist vergleichbar einem inneren Prinzip der Ordnung. Sie ist auf eine Sinnfindung orientiert, lässt lang verborgene Innenansichten aufscheinen, die nicht nur einem Spiel der Fantasie entsprungen sind, sondern erfahren oder gar erlitten wurden. Kurzum: Jeder der für die Ausstellung ausgewählten Meister, insgesamt 14, vergegenständlicht im Tolkienschen Sinne seine ganz eigene Sinneswelt.

Als Reminiszenz an das Zwergenreich aus dem Herr der Ringe-Epos erscheinen die Blätter mit Felsschluchten oder Bergfesten Gérard Trignacs. »Die Narrenschlucht« (1986) etwa liegt in fast vollkommener Dunkelheit da, leer und trostlos ist der Blick in die Bergschlucht, der von einer zweistöckigen Brücke gebündelt wird. Die vorgelagerten schmalen Stege, die sich an den Felswänden entlangwinden oder sich schräg über den Abgrund spannen, lassen zudem an Piranesis Carceri denken.

Es ist nicht verwunderlich, wenn man beim Entlangschlendern von einem Gefühl der Bedrückung erfasst wird. Nicht umsonst hängt gleich am Eingang zur Schau Jean-Pierre Vellys »Maskerade für ein gezwungenes Lachen« (1967). Es ist eine traumhafte Berglandschaft, in der über ihr stehende Wolken Gesichter formen und einige zerrissene Banner traurig im Wind wehen. Oder wenige Schritte daneben das »Labyrinth der Namen« (1982) von François Houtin: Ein verwunschener Renaissancegarten, der in seiner leicht verwilderten Form darauf aufmerksam macht, dass Ordnung und Pracht lange vergangen sind.

Das Thema Zeitlichkeit spielt bei allen präsentierten Künstlern eine große Rolle — ob in den leeren Architekturen, die sich bei Gérard Trignacs »Unordnung« (2011) eng aneinander drängen, den gepeinigten, vom Schicksal zerrissenen, dem Tod verfallenen Kreaturen von Dado oder den anthromorphen, organischen Figuren von Didier Mazuru, die den Atem der pittura metafisica de Chiricos verströmen.

Mazurus drei Grazien von 1988 sind beispielsweise gesichtslose Gliederpuppen, die sich in ihre stereometrischen Bestandteile auflösen: ihre langsam auseinander driftenden Köpfe, Brüste, Oberschenkel oder Hinterbacken erschaffen dabei einen Stimmungsmix aus Isolation, Befremdung, Unerklärlichkeit und Rätselhaftigkeit.

Eine weitere fantastische Vision und den sprichwörtlichen »Schlüssel der Träume« bietet Jean-Pierre Velly. Die dargestellte Szene zeigt eine Frau in reifem Alter mit abwesendem Blick, die hoch im Himmel auf einer dort hängenden verwitterten Holzbank sitzt und jeden Moment ins Leere zu stürzen droht, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Das hier präsentierte Welt- und Menschenbild bleibt nicht von kritischen oder kuriosen Transformationen verschont. Es ist der Bild gewordene Ausdruck einer fundamentalen Verunsicherung, Einsamkeit und Entfremdung, der Angst und des Zweifels. Es reflektiert eine dunkle, feindliche, unfassbare Realität, der sich der Mensch ausgeliefert sieht.

Wohl am eindrücklichsten verdeutlicht dies auch »Die Sintflut« (1981) von Erik Desmaziéres. Es zeigt eine unwirkliche Landschaft mit dem Turm zu Babel, Palmen und dem Einhorn anstelle der sonst üblichen Sphinx, mit Menschen, die ungerührt am Rande von Dämmen stehen und zum Horizont blicken, wo sich in der Mitte des Bildes ein Vulkanausbruch anzeigt. Sinnfällig wird der Gedanke an die Sintflut, wenn man sich die Katastrophe vom Ausbruch des indonesischen Vulkans Krakatau von 1883 vor Augen führt. Dessen Flutwelle war selbst 17.000 Kilometer entfernt in der Bucht von Biskaya vor Frankreich noch messbar.

Schließlich sind auch noch die Dornenarchitekturen von Jean-Michel Mathieux-Marie zu erwähnen: Ineinander verdreht und untereinander verzahnt bilden sie bizarre, gruselige Kathedralen, Hochhäuser und Ruinen. Ein Rundgang durch die mehr als düsteren Grafiken wird so zu einer Entdeckungstour durch das Reich der Imagination. Geboten wird die ganze Spannweite an Möglichkeiten und Bedeutungen. Die visionäre Kunst weiß ihre Geheimnisse zu wahren und öffnet dem Betrachter genügend Raum für Interpretation, Widerspiegelung und Offenbarung.

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