Ausstellungsbesprechungen

Manfred Heller – Eisenplastik, Dom zu Lübeck, bis 28. September 2014

Eisen ist ein brutaler Werkstoff. Erst unter großer Hitze und Krafteinwirkung kann man ihn bearbeiten. Der Straubinger Bildhauer Manfred Heller nutzt ihn für expressive Plastiken, die zurzeit im Ostchor des Lübecker Doms zu sehen sind. In ihrer Nacktheit bringen sie den inneren Seelenzustand an die Oberfläche und forden vom Betrachter eine Stellungahme ein. Stefan Diebitz setzt sie in Beziehung zum restlichen Ensemble des Doms.

Der Ostchor des Lübecker Doms ist ein Ort, den man sich kaum beeindruckender vorstellen kann, denn dieser Chor ist unverhältnismäßig groß, eigentlich eine zweite Kirche neben dem eigentlichen Gotteshaus, mit sehr hohen Gewölben, entsprechend hohen gotischen Fenstern und deshalb vom Licht durchflutet. Dazu sind alle seine Wände kalkweiß gestrichen – wie sonst die gesamte teils noch romanische, teils gotische Kirche auch. Es gibt keinerlei dekorative oder religiöse Wandmalereien. Allein einige teils steinerne, teils metallische Särge mit den Gebeinen von Bischöfen und Hauptpastoren finden sich im Chor aufgestellt, die sich trotz ihrer Mächtigkeit in dem übergroßen Raum verlieren.

Ebenso weiß wie der Chor sind die wuchtigen Pfeiler des Hauptschiffes und dessen Gewölbe, so dass sich besonders die barocken Seitenkapellen mit ihrem schwarzweißen Totenköpfen und den goldenen Buchstaben auf dem schwarzen Grund ihrer Schrifttafeln deutlich davon abheben. So besitzt diese sehr große, vor allem auch außergewöhnlich langgestreckte Backsteinkirche eine ganz eigene Atmosphäre. Besucher aus dem Süden Deutschlands mögen den Lübecker Dom daher als sehr norddeutsch empfunden.

Für schmiedeeiserne, also schwarze Objekte muss der Ostchor ein idealer Ort sein, zumal die von Manfred Heller gewählten Sujets sich thematisch an den Chor und seine Atmosphäre von feierlicher Morbidität anpassen. Heller versteht sich nicht als christlicher Künstler, aber er schuf eindrucksvolle Abbilder des Leidens und der Qual, und besonders eine Kreuzigung schafft eine Verbindung zu diesem Ort. Es ist schon mutig, in unmittelbarer Nähe zum gewaltigen, die ganze Kirche beherrschenden Triumphkreuz des Bernt Notke, das als eines der ersten Kunstwerke des gesamten Ostseeraumes gilt, seine eigene Kreuzigung auszustellen. Aber Heller durfte das, denn es gelang dem Künstler, ein ganz eigenes Bild für die Schmerzen des leidenden Menschen zu finden.

Alle schmiedeeisernen Körper sind fragmentarisch und auch damit Ausdruck der Vanitas – die Oberfläche des Leibes oder des Kopfes ist durchbrochen, oder es fehlen Teile der Gliedmaßen. Und überall zeigt das Metall die Spuren seiner Bearbeitung durch den Hammer – auch das stärkt die Ausdruckskraft der verschiedenen Objekte. Die Köpfe sehen aus wie Totenschädel, und auch sonst kann man sagen, dass der Künstler barocke Motive in die Formensprache unserer Zeit übertragen hat. In dieser Ausstellung wird das besonders in der Ablage eines liegenden Corpus vor einem barocken Epitaph (»Analog«) deutlich.

Was das Schmieden anbetrifft, so ist Heller Autodidakt. Am Anfang stand die Faszination durch den Werkstoff, aber warum ihn das Eisen in den Bann schlug, weiß er selbst nicht genau zu sagen. In jedem Fall musste er sich entscheiden, wie er die Intensität des Ausdrucks steigern konnte, und hatte sich zwischen Guss und Schmieden zu entscheiden. Den Guss schloss er auch deshalb aus, weil er zu teuer war, aber wohl nicht allein deshalb. »Viel lieber ist mir die direkte Bearbeitung des Eisens mit Hammer und Muskelkraft.« Und eben diese Bearbeitung hat er sich selbst autodidaktisch beigebracht. »Ich habe geschaut, wie ich´s hinbekomme. In Kurzform: eine Feldschmiede gekauft, Feuer gemacht, das Eisen zum Glühen gebracht und dann mit dem Hammer draufgehauen, solange bis es meinen Vorstellungen entsprochen hat.«

Hellers Arbeiten sind glänzend schwarz, und zweifellos ist es auch die weiße Farbe aller Wände sowie der unter die Gewölbe des Chores gespannten weißen Tücher, die ihnen zu ihrer intensiven Wirkung verhilft. In einer anderen, in einer mittelalterlich ausgemalten oder gar prunkvoll barocken Kirche wären sie weniger passend und würden vielleicht sogar untergehen. Insofern muss man dankbar sein für die puristische Farbgebung der Wände. Aber sonst bin ich mir nicht sicher, ob die Kirche nicht eigentlich ausgemalt sein sollte.

Hier liegt der Vergleich mit der ebenso eindrucksvollen und fast ebenso alten Marienkirche nahe, zumal beide Kirchen ein ähnliches Schicksal eint, weil beide während des Weltkrieges von Bomben zerstört wurden und ausbrannten. Wenn man die Fotos ihrer Ruinen sieht, muss man es für ein Wunder halten, dass man diese Orte heute überhaupt wieder betreten kann. In St. Marien ließ man die im Feuersturm aus den Türmen nach unten gestürzten mächtigen Glocken als Mahnmal in den zerschmetterten Steinplatten stecken, und im Dom kann man sich gleich nach dem Eintritt in einer Multi-Media-Show über die Zerstörungen wie über die Aufbaumaßnahmen orientieren.

Die Marienkirche ist farbig, und man mag sich gar nicht vorstellen, wie sie weiß gekalkt aussähe. Über ihre Pfeiler und Wände spannen sich Naturstein imitierende Linien, die Konturen des kunstvoll gemauerten Backsteins sind mit ornamentalen Mustern betont, und es finden sich auch noch einige originale Malereien. Von der Orgelempore aus kann man sehen, dass die Schlusssteine der Gewölbe in 37 Meter Höhe mit den Wappen großer Ostseestädte geschmückt sind. Wenn am Nachmittag durch die sehr hohen Fenster Licht in schrägen Balken in das Hauptschiff fällt, ist der Eindruck überwältigend, und es sind vor allem die wunderbaren warmen Farben der Wände, die den Raum verzaubern.

Der Dom dagegen wirkt nicht nur protestantisch-kühl, sondern geradezu abweisend-streng. Den zahlreichen barocken Kunstwerken kann dieses Übermaß an Weiß allerdings nichts anhaben, ganz im Gegenteil, denn sie selbst sind ja auch in diesen Farben gehalten. Und auch den Plastiken Hellers tut diese Umgebung gut. Die weiße Farbe auf dem Backstein wirkt nicht allein puristisch, sondern verstärkt den geradezu archaischen Eindruck dieser Architektur, weil man unter ihr schon fast den nackten Stein sehen kann. Die Wirkung von Hellers Arbeiten ist sehr ähnlich, denn alle Objekte zeigen noch die Spuren seiner Arbeit und sollen das ja auch tun.

Das nackte Weiß dieser Kirche ist also zweifellos nicht einfach nur schlecht, sondern lässt sich sehr wohl rechtfertigen. Trotzdem sollte es eine Überlegung wert sein, ob man den Dom nicht wieder farbig gestaltet. Die Folge aber wäre eine ganz andere Kirche, und so will eine solche Entscheidung sorgfältig bedacht sein.

Die Frage nach der Legitimität der Farbe ist nur die erste; die zweite Frage lautet: Sollte man eine solche Kirche mittelalterlich ausmalen, oder soll man neuzeitliche Motive entwickeln? Soll man museal denken oder selbst gestalten? Denkmalschutz oder selbstbewusster Ausdruck der eigenen Zeit? Im Verlauf der achthundert Jahre, in denen diese Kirche schon steht, hat fast jedes Jahrhundert den Mut besessen, seine eigenen ästhetischen, sozialen und religiösen Vorstellungen mehr oder minder naiv durchzusetzen – manchmal zu Lasten des Gesamteindrucks, aber oft auch in einer sehr gelungenen Weise. Alle diese Versuche zusammen, ja erst sie ergeben ein Gesamtkunstwerk, einen wirklichen Spiegel der Zeiten. Keine dieser alten Kirchen ist noch im Original erhalten, sondern sie alle enthalten eine lange und widersprüchliche Bau- und Kulturgeschichte. Die barocken Grabmäler sind ja nur ein Beispiel. Und auch heute wird moderne Kunst inmitten des Mittelalters präsentiert, zum Beispiel im Westwerk des Doms, in dem sich ein farbiges Fenster mit abstrakten, im Grunde rein dekorativen Mustern findet, eingesetzt in den Jahren nach dem Krieg.

In der Marienkirche finden sich in einer dunklen Ecke Arbeiten Günther Ueckers, insgesamt vierzehn Kreuze, die ein wahres Golgata darstellen, aber in dem Dämmerlicht nicht recht zur Wirkung kommen. Motivisch und thematisch allerdings gehören sie an diesen Ort. Von Manfred Hellers Arbeiten kann man Ähnliches sagen, denn auch seine Plastiken nehmen die Motive christlicher Kunst auf, ohne sie einfach nur fortzuführen oder zu imitieren. Ihre Aufstellung ist glücklicher als die der Kreuze von Günther Uecker, so dass eigentlich alle Arbeiten den Betrachter tief beeindrucken können. Es ist wohl der Zusammenklang von Ältestem und Neuem, von mittelalterlicher Architektur und moderner Kunst, der den Besucher in seinen Bann schlägt.

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