Mit elementaren Fragen beschäftigt sich der Philosoph Manfred Sommer in seinem neuen Buch, das vielleicht sein Hauptwerk sein soll und ganz gewiss ein Meisterwerk ist. Es geht um nicht weniger als die Entstehung der Kultur, und dabei kommt er auch auf rechte Form wie den rechten Ort eines Bildes zu sprechen. Stefan Diebitz hat das dicke Buch verschlungen.
Manfred Sommer ist Phänomenologe, ein Schüler Hans Blumenbergs und ein Fachmann für die Philosophie Edmund Husserls, aber er ist auch ein intimer Kenner der Gestaltpsychologie und setzt die anthropologischen Forschungen seines Lehrers fort. So fließen sehr unterschiedliche Interessen in dieser Abhandlung zusammen, die zwar sehr umfangreich ist, aber dank des Humors des Autors, seines flüssigen, lebhaften und anschaulichen Stils und endlich einer behutsamen, jederzeit nachvollziehbaren Argumentation überaus leicht lesbar.
Vielleicht ist das sehr allmähliche und schrittweise Vorgehen des Autors mit den vielen Zusammenfassungen und Vorblicken sogar manchmal etwas übertrieben pädagogisch, aber neben der Verständlichkeit besitzt es noch einen weiteren Vorteil, denn einerseits verliert man niemals den roten Faden, andererseits hat der Leser immer wieder Gelegenheit, parallel zum Gedankengang des Buches seine eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Wer unter einem philosophischen Werk ein abstraktes und deshalb schwieriges Buch erwartet, den wird die Lektüre deshalb also ganz gewiss bitter enttäuscht zurücklassen.
Sommers ursprünglich anthropologische, nicht etwa kunstphilosophische Ausgangsfrage lautet: »Wie hat sich aus kulturtechnischen Fertigkeiten, die im Neolithikum neu entstehen, die Bildfläche in ihrer Rechteckform herausentwickelt?« Die rechteckige Form findet der Autor also nicht zuerst und schon gar nicht allein in den Bildern, sondern zunächst in den drei wesentlichen Innovationen der Jungsteinzeit, dem Haus, dem Acker und dem gewebten Tuch. Alle drei stellen etwas dar, das es in der Natur nicht gibt, nämlich rechteckige Flächen – nach der hier vorgetragenen Theorie Ausgangspunkte der kulturellen Evolution des modernen Menschen, die schon bald in das Bild an der Wand münden soll. Sommer interessiert sich also weniger dafür, was das Bild darstellt, sondern wie und wo es das tut: an der Wand eines Hauses in einer rechteckigen Form. Er selbst fasst die Ergebnisse seiner Überlegungen zum Ende seines Buches hin knapp zusammen: »Denn die Geometrie hat im Feld ihre Grundlage und verdankt dem Haus ihre Ausgestaltung zu einer universalen Mathematik.«
Ganz am Anfang steht das Feld, und es ist extrem interessant, wie Sommer sich das Entstehen eines rechteckigen Ackers vorstellt. Warum ist er nicht rund? Vielleicht war er das ja zu Beginn seiner Entwicklung, vielleicht musste er sogar notwendig rund sein? Mit der Hilfe ganz einfacher Überlegungen wird die Genese des Ackers im Zusammenhang mit der Entwicklung des Pfluges und des Pflügens gesehen; und von dort aus kommt Sommer nicht allein auf die Form des Feldes, also auf die »agrikulturelle Rektangulierung« (die landwirtschaftliche Verrechtwinkligung – klingt das wirklich besser?), sondern stellt auch den Zusammenhang mit der Schrift her, denn zunächst schrieben die alten Griechen so, wie sie pflügten, nämlich »ochsenwendig«: von links nach rechts, und dann machten sie kehrt und pflügten oder schrieben von rechts nach links.
In diesem Zusammenhang spricht man deshalb vom »boustrophedon«, weil es »nämlich ein und dieselbe Gestalt ist, die entsteht, wenn der Ochse mit dem Pflug die Furchen zieht und der Schreiber mit dem Griffel seine Buchstaben aneinanderreiht.« In den Abschlusskapiteln kann Sommer zeigen, dass auch die Fahrt des Weberschiffchens bei der Herstellung von Tuchen diesem Schema folgt: von links nach rechts und wieder zurück. Die Gestaltpsychologie, eine der großen und vielversprechenden, leider halb oder ganz vergessenen Richtungen der Zwanziger Jahre, spricht von der »Transponierbarkeit der Gestalt«, und diese Transponierbarkeit verfolgt Sommer in alle Winkel unserer Kultur.
Ohne großartig darüber zu verhandeln, bedient sich der Autor der verschiedensten Methoden. Immer wieder greift er auf antike Mythen zurück oder zitiert aus archäologischen Darstellungen, aber er analysiert auch unser heutiges Verhalten – im Zusammenhang mit dem von ihm behaupteten Parallelismus von Pflügen und Schreiben zeigt er zum Beispiel, dass wir »mit unserem ganzen Leib« schreiben, keinesfalls allein mit der Hand: »So wird der Leib insgesamt ein Schreibinstrument.«
Aber vor allem ist Sommer Phänomenologe. Wenn er das Bild »auf reine Ikonik« reduziert, dann enthält er sich deshalb zunächst aller, also nicht etwa nur aller voreiligen, Deutungen und Mutmaßungen, um sich ganz auf das zu konzentrieren, was er sieht. Bei Höhlenmalereien kommt er zum Beispiel nicht mit einem Wort auf deren mögliche Funktion im Rahmen eines Jagdzaubers oder dergleichen zu sprechen, sondern er beschäftigt sich mit dem buckligen Untergrund im Unterschied zur späteren glatten Wandfläche. Eine derart naive Beschreibung kann dann als Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen dienen, mit deren Hilfe das allmähliche Entstehen so elementarer Formen wie dem Acker, dem Haus und dem Tuch erklärt werden kann.
Ganz nebenbei werden dem Leser auf diese Weise einige Grundbegriffe der Phänomenologie nahegebracht, zum Beispiel »Retention« oder, ganz wichtig, »Appräsentation«. »Wegen des orts- und leibgebundenen Blickwinkels, aus dem wir die Dinge sehen, ist unsere Wahrnehmung einseitig – aber stets unmerklich begleitet von dem Bewußtsein, daß es da noch mehr zu sehen gibt.« So imaginieren wir immer auch die Rückseite eines Hauses.
Sommer versucht das Geschehen einer Zeit zu rekonstruieren, von der wir direkt so gut wie nichts wissen. Sogenannte Evolutionspsychologen pflegen Szenarien zu fantasieren, indem sie menschliches Verhalten auf eine einzige Variable reduzieren. Auf diese schlichte Weise glauben sie, manche unserer Eigenschaften herleiten zu können; aber vielleicht sind nur sie selbst etwas zu schlicht gestrickt. Sommer argumentiert viel vorsichtiger und macht immer wieder darauf aufmerksam, dass wir eben nichts oder doch wenigstens nur sehr wenig direkt wissen, und außerdem spricht er nicht über den unendlich komplizierten menschlichen Charakter oder die Entstehung von Moral, Kunst oder dergleichen, sondern über die beiden ganz einfachen Grundelemente der Geometrie, den rechten Winkel und die Linie. Da darf, ja da muss man von allem Nebensächlichen absehen, um zu idealtypischen Formen zu gelangen. Unsere Mittel sind deshalb »Stilisierung, Interpolation und Grenzwertkonstruktion«, als wären wir Mathematiker. Und ein wenig sind wir das ja auch wirklich, wenn wir uns mit den Grundelementen unserer Kultur beschäftigen.
Allerdings muss man fragen, ob Sommer nicht insgesamt etwas europalastig argumentiert. Selbstverständlich sind es neben den alten Römern die alten Griechen, deren Mythen und Philosophen ein Philosophieprofessor zitiert, und auch die archäologischen Fundstätten, auf die er zu sprechen kommt, liegen in aller Regel in Europa, nicht in Afrika oder Fernost. Gab es vielleicht nicht doch einen anderen Weg zur Kultur als den über den rechten Winkel? So finden sich zwar die Bilder der japanischen oder chinesischen Malerei zwar oft genug auch an der Wand (aus dieser schlichten Tatsache kann Sommer einigen Honig saugen), aber sie sind sehr oft oder sogar meist nicht begrenzt nach rechts und links, unten und oben. Möglicherweise ist der Anfang dieser Tradition zumindest in Fernost doch etwas anders zu denken?
Sommer legt mit diesem Buch keine Philosophie der Kunst vor, sondern den Baustein zu einer phänomenologischen Anthropologie; und vielleicht ist es sogar ihr Fundament. Aber wenn es auch keine Philosophie der Kunst ist, so nähert er sich doch seinem Thema, indem er im Eingang seines Buches Albrecht Dürers »Zeichner des liegenden Weibes« aus dessen Lehrwerk für das richtige perspektische Zeichnen (»Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt«) von 1525 ebenso sorgfältig wie naiv durchbuchstabiert. Man kann auch sagen: Er deutet den Stich ebenso ingeniös wie detailverliebt, und der Leser wundert sich, welche Fülle von Beobachtungen der Autor in dieser schlichten Zeichnung machen kann. Denn der Phänomenologe stellt sich aus methodischen Gründen dumm, und ist er ein guter Phänomenologe (und das ist Sommer ganz gewiss), dann kann er eine Menge Entdeckungen machen, die man übersieht, wenn oder vielmehr weil man schon alles zu wissen glaubt.
»Der wahre Blick auf die Natur«, schreibt Sommer, »gelingt nur im Durchgang durch die Kunst.« Die nackte Dame links auf Dürers »Underweysung« heißt (nach einer allerdings apokryphen Überlieferung) Zoë, also das Leben, und nach Sommer will Dürer zeigen, wie wenig die ganzen in seiner »Unterweysung« vorgestellten Hilfsmittel, Tricks und Techniken geeignet sind, »Zoë angemessen wahrzunehmen und zeichnerisch zu würdigen.« Unter anderem kann Sommer demonstrieren, dass der Zeichner rechts im Bild von seinem Modell kaum etwas anderes anderes wahrnimmt »als ein Paar riesige Knie«.
So recht weiß ich aber mit dieser zweifellos richtigen Beobachtung wie mit den anderen Bemerkungen Sommers nichts anzufangen. Wäre die »Underweysung« dann nicht ein ironisches und vielleicht sogar unehrliches Spiel mit dem Leser, dem Dürer die wirklichen Geheimnisse seiner Kunst verheimlichte? Ist der Stich ein Hinweis darauf, dass wir mit der Linie und dem rechten Winkel niemals das Leben einfangen, niemals dem Leben gerecht werden können?
Links, wo das nackte Weib liegt, sind die Dinge rund (denn auch das eigentlich rechteckige Tuch schmiegt sich dem Körper der Frau an), rechts aber, auf Seiten des durch ein Gitter lukenden und auf einem karierten Papier zeichnenden Künstlers, ist alles rechtwinklig. Hinter Weib und Künstler stehen zwei Fenster offen, die finestra aperta des Alberti, auf dessen Abhandlung Sommer häufiger zu sprechen kommt – schließlich ist dieser Autor ihm vorausgegangen, als er über den Ursprung des Bildes und seiner Form nachdachte. Laut Sommer hätte der Zeichner Dürers, wenn er sich »doch noch ans Werk gemacht« hätte, allenfalls »eine fast schon anamorphotische Tuschezeichnung« anfertigen können, »deren Titel gelautet hätte: Knie und Schenkel eines unsichtbaren Weibes.«