Ausstellungsbesprechungen

Marc Chagall „Chagall surréaliste – Chagall littéraire“. Saarlandmuseum, Saarbrücken, bis zum 28.02.2010

Mit dieser einfühlsamen, perspektivschärfenden Präsentation zeigt das Saarlandmuseum eine Auswahl druckgraphischer Werke aus der eigenen, mehr als 500 Arbeiten umfassenden Sammlung, die durch acht Gemälde bedeutender europäischer Ausstellungshäuser ergänzt werden, so dass „die tieferen Ideen und Entwicklungslinien des Schaffens von Marc Chagall [1887-1985] noch deutlicher hervorgehoben“ [Ralph Melcher] werden können. Unsere Autorin Verena Paul hat für Sie diese – nicht zuletzt auch interdisziplinär spannende – Ausstellung besucht.

Da viele der Arbeiten auf Papier mit literarischen oder mythologischen Themen verwoben sind, legt das Saarlandmuseum einen Themenschwerpunkt auf den „literarischen Chagall“ und stellt zugleich die Frage nach jenem spezifischen Surrealismus des Künstlers in Stil und Ikonographie. Greifen wir also diesen thematischen Ariadnefaden und beobachten – jenseits der „massenmedialen Verkitschung“ Chagalls –, wie literarische Einflüsse das künstlerische Schaffen prägten.

Empfangen werden wir – in dem in warmes Purpur getauchten Ausstellungspavillon, der sich in neun Räume unterteilt – mit der aus dem Jahr 1910 stammenden Arbeit „Heilige Familie“. Dieses Werk erscheint in einer von Erdtönen bestimmten Malerei und kann mit Ikonenmalerei in Verbindung gebracht werden, was dem Thema der Präsentation gar nicht fern liegt, denn „Ikonen [sind] doch recht eigentlich surreal im ursprünglichen Sinne des Wortes: die Wirklichkeit übersteigend und auf ein hinter der sichtbaren Oberfläche Liegendes verweisend“, wie Ralph Melcher in seinem Katalogbeitrag anmerkt. Wenngleich es immer wieder einzelne Ausreißer aus dem chronologischen Ordnungsgefüge gibt, so stehen wir hier am Anfang der über 60 Jahre währenden Schaffenszeit Chagalls, die noch eine naive Schwere und Unbestimmtheit in sich trägt. Dass das Surrealistische gleichermaßen zum Kernvokabular des Chagallschen Schaffens gehört wie das Literarische, kann der Besucher in den nun sich anschließenden Arbeiten auf Papier untersuchen. Zur Rechten befinden sich filigrane Radierungen zu dem Roman von Marcel Arland „Maternité“ sowie eine Auswahl aus dem Zyklus der Autobiographie Chagalls „Ma vie“. Einen Zeitsprung wagt „L’Ange à la palette“ (1927-36), der sich jedoch – und das wird das Ende unseres Rundgangs zeigen – harmonisch in die Zirkelbewegung der Ausstellung einfügt.

Wenden wir uns dem nächsten Raum zu, so begegnen die Illustrationen zu Nikolai Gogols Roman „Die toten Seelen“, einem Hauptwerk des russischen Realismus, das Einblick in das facettenreiche Landleben gibt und zugleich das marode Gesellschaftssystem parodiert. Sicher setzen diese Arbeiten nicht die Lektüre voraus, aber wie viel intensiver, wie viel bereichernder ist die Betrachtung der Chagallschen Blätter, die in ihrer Fabulierfreude der realistischen Darstellung Gogols begegnen und das Humorvolle, Heitere in eine eigene Sprache übersetzen. Als Scharnierstelle zum nächsten Raum dient das in Primärfarben erstrahlende Gemälde „Der Traum“ (1927), das zu den Radierungen überleitet, die 1927 bis 1930 zu Jean de la Fontaines „Les Fables“ entstanden sind. Während die vorherigen Arbeiten sich durch eine klare, einfache Strichführung auszeichnen, begegnen uns nun Linienakkumulationen, die von wolkigen Formationen umspielt werden. Dergestalt kann Chagall etwa in „La chatte métamorphosée en femme“ nicht nur den Punkt der Verwandlung im Bild einschmelzen, sondern auch Atmosphäre und Lebendigkeit.

Der vierte Raum ist dann dem großen Themenfeld „Zirkus“ gewidmet, der – als Metapher für Leben und Poesie – die schillernd bunte Welt mit musizierenden Clowns und Kunstreiterinnen in Farbe bannt. Neben dem für Chagall eigenen Motivvokabular begegnet in dem Werk „Das rote Pferd“ (1938-44) dann ein Buch, das eine sich im Tanz wiegende Frau aufgeschlagen dem Betrachter entgegenhält. In der Farbigkeit reduziert und von einer flirrenden Leichtigkeit sind die zehn Farbradierungen zu Jean Paulhans Text „Mauvais Sujets“, die sich als Kontrast zum vorher Gesehenen beinahe tänzerisch leicht anfügen. Diese aufwendig edierte Folge wurde 1958 hergestellt, ist als bibliophiles Kleinod mit Hand bemaltem Schuber in einer gläsernen Vitrine untergebracht und visualisiert dem Besucher erstmals das wirkungsvolle Einssein von Text und Bild im Medium Buch.

Schlüpfen wir durch die nächste Wandöffnung, so bildet „Paris“ mit den Motiven Eiffelturm, der Kathedrale Notre-Dame, Saint-Germain des Près oder der Oper das Thema der acht Lithographien, die von den Gemälden „Das rote Haus“ (1955) und „Die Seele der Stadt“ (1945) spannungsvoll umrahmt werden. Durchglüht von leuchtenden Farben markiert dieser Raum nicht nur einen Wendepunkt der Geschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts, sondern auch im Wirken Chagalls, der der Großstadt den Rücken kehrt und nach Südfrankreich zieht.

Einen Höhepunkt der Ausstellung bilden die 42 Farblithographien „Daphnis und Chloe“ (1957-61) zu Longus gleichnamigen Schäferroman, die einen sensiblen Umgang mit dem Sujet offenbaren und eine angemessene künstlerische Transformation verdeutlichen. Um die Handlung nicht durch eine lineare Reihung der Arbeiten auszubremsen und eintönig werden zu lassen, haben die Ausstellungsmacher den Inhalt bei der Hängung berücksichtigt und ein lebendiges, rhythmisiertes Klangstück entwickelt. Plötzlich springen Farbfunken in den sich auf und ab bewegenden Werken, wird die Geschichte immer wieder dynamisiert und läuft an keiner Stelle Gefahr abzureißen.

Im achten Kabinett steht das Buch der Bücher im Fokus von Chagalls künstlerischem Schaffen: Die Bibel, insbesondere das Alte Testament. Sowohl in feinen als auch sich ballenden Strichlagen „modelliert“ der Künstler in seinen 30 Lithographien Körper, Tiere und Landschaften und so „entschleunigt“ jener Raum die farbliche Wucht der zuvor gesehenen Arbeiten. Abschließend ist die vollständige Serie der 24 Pinsel- und Kreidelithographien „Exodus“ zum 2. Buch Mose aus dem Jahr 1966 gezeigt, die in Motivik und Komposition Anklänge an die früher geschaffenen Werke zur Bibel erkennen lässt. Allerdings verleiht die hier verwendete Technik einen markanteren Ausdruck, was der Folge einen expressiven Charakter verleiht. Nun wieder bei „Der Engel mit der Palette“ angelangt, halten wir unseren Faden immer noch fest in Händen, der uns jenen sanften Rhythmen von Farbe, Form und Erzählung, aber auch der expressiven, mitreißenden Kraft in den Arbeiten Marc Chagalls näher gebracht hat.

Leichtfüßig über der Realität schwebend kommen die Werke Chagalls in den atmosphärisch aufgeladenen Räumen daher und wirken gleichermaßen lebenssatt und lehrreich auf das Auge des Betrachters. Eingebunden in das Spannungsverhältnis von sachlich-epischem und metaphorisch-lyrischem Vokabular, von pointierter Visualisierung eines Textes und der im Verborgenen liegenden Sphäre entwickelt Chagall seine surreale Grammatik, die nicht verzerrt oder gar entfremdet ist, sondern das Unsagbare sagbar macht. In diesem Sinne wird der Ausstellungstitel plausibel, denn „Chagalls Surrealismus“, so Melcher, „ist […] ein Surrealismus im ursprünglichen Sinne Apollinaires, und seine Literarizität ist nicht die des Gedichts oder des Romans – und seien es deren im 20. Jahrhundert zersplitterte Formen –, sondern die der Fabel.“

Fazit: Perspektivschärfend und mit einem feinen Sensorium für Zwischentöne ist dem Saarlandmuseum in seiner klar strukturierten, abwechslungs- und bisweilen kontrastreichen Werkpräsentation ein fulminantes Ineinander von Prosa und Lyrik, von Wirklichkeit und Traumwelt gelungen. Insofern konnten Chagalls Werke neu konturiert und von ihrer „Verkitschung“ und der ins Unbestimmte abgedrifteten, unreflektierten „Poetisierung“ befreit werden, so dass nun ein erfrischend neuer Dialog entstehen kann. Eine Ausstellung, der ich sehr viele Besucher wünsche!

Zur Ausstellung erscheint ein reich bebildertes Katalogwerk.

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