Rezensionen

Marc Mauguin: Die Wartenden, Oktaven Verlag 2019

Worüber sinnieren eigentlich Edward Hoppers Barbesucher in »Nighthawks«? Wer sich schon immer für eine Antwort auf die Frage interessiert hat, wird bei Marc Mauguin fündig. Der französische Autor ließ sich von insgesamt 12 Bildern des amerikanischen Realisten zu sehr nachdenklichen Erzählungen inspirieren. Rowena Schubert-Fuß hat sie gelesen.

 Edward Hoppers Bilder sind eigenartig. Sie sind distanziert und kühl, scheinbar inhaltsarm und ohne Tiefe. Wie beiläufig schaut man als Betrachter im Vorbeigehen in ein Zugabteil, wo vier Reisende in absolutem Schweigen vor sich hin lesen, durch den Laufgang in eine unproportionale Entfernung zu den jeweils anderen gerückt.

In Maugins Geschichte kommt die Beobachterin zu Wort. Sie befindet sich in einem von außen unsichtbaren Zwiegespräch zwischen aktuellen Gedanken zum Objekt ihrer Sehnsucht, einer Blondine im Vordergrund des Bildes, und Erinnerungen über gemeinsame Momente. Beide teilten vor mehr als 20 Jahren ein Schicksal: sie waren Insassen einer Haftanstalt. Die Leserin beschützte die Beobachterin vor den Peinigungen der Mithäftlinge. Mit der Zeit entspann sich daraus eine Liebesbeziehung, die mit der Entlassung der beiden endete. Man verlor sich aus den Augen. Doch hat die Beobachterin ihre einstige Liebe nicht vergessen und wünscht sich nun nichts sehnlicher, als von ihr beachtet zu werden. Diese liest jedoch stur in ihrem Buch. Die Beobachterin sieht sich außerstande, ihrem Verlangen nachzugeben und Eleonora anzusprechen. Still schmachtet sie weiter vor sich hin.

Edward Hoppers Bilder sind Ikonen der Moderne. Niemand sonst hat das Moment der Vereinsamung so gekonnt in Szene gesetzt. Anonyme Orte wie Tankstellen, Zugabteile oder Hotelzimmer bilden die Umgebung für seine Protagonisten. Diese sind emotional gehemmt, ja innerlich gefangen in den Echokammern der eigenen Gedanken und unfähig ihre Gefühle und Wünsche nach außen zu kommunizieren. Der amerikanische Autor Mark Strand meinte dazu: »Hoppers Menschen (…) sind wie Schauspieler, denen ihre Rollen abhandengekommen sind«. Sehr häufig scheinen sie auf irgendetwas zu warten. Für Marc Mauguin ergab sich hier ein Weißraum, der ihn zu der Frage inspirierte, welchem Leben dieser wie eingefrorene, absolute Moment gehören könnte, den das Bild zeigt. Als Ergebnis bilden seine Erzählungen unterschiedliche Nuancen des Hopperschen Themas ab.

Der Blick fällt durch das Fenster eines Erkers auf eine Frau, die in den Garten hinaus starrt, die Hände auf ein Tischchen vor sich aufgestützt. Der Ort, an dem sie sich befindet, öffnet in der Träumerin eine geheime Tür in verborgene innere Welten. Vor ihrem geistigen Auge steigen Personen und Ereignisse aus der Vergangenheit auf wie Spukgestalten: das Baby, das sie verlor; Freunde, zu denen der Kontakt abbrach. Es gibt aber auch positive Erinnerungen aus der eigenen Kindheit, etwa die Art, wie ihre Mutter die Laterna magica auf dem Zeichentisch in Gang setzte und lauter Märchengestalten im Raum zum Leben erweckte. Das Haus ist ansonsten leer. Nur die aufgehende Sonne sorgt an diesem Platz für Licht und Wärme. Man möchte die Frau am liebsten in flauschige Decken hüllen, um sie wenigstens etwas vor der emotionalen Kälte ihrer Umgebung zu schützen. Dieses Mitgefühl bleibt ihr wie auch den anderen Protagonisten jedoch verwehrt. Stattdessen plagen sie Verlustängste, Sehnsüchte und falsche Hoffnungen, aber auch Lug und Trug sowie die Entfremdung vom Partner müssen sie ertragen.

Und die »Nighthawks«? Marc Mauguin bleibt uns diese Geschichte tatsächlich schuldig. Doch ungeachtet dessen sei das handliche Büchlein jedem Zugreisenden auf langen Fahrten wärmstens empfohlen!

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