Buchrezensionen, Rezensionen

Marc Mer: hund und schnur nur oder das architektonische i. postparadise edition 2009

Wie kommt der Hund zur Schnur und was hat dies alles mit Architektur zu tun? Nur soviel sei an dieser Stelle vorweggenommen: Dass sich die Schnur lediglich mit dem Suffix des „nur“ begnügen müsste, wie es der Titel der neuesten Publikation von Marc Mer nahelegt, stellt eine außerordentliche Untertreibung dar. Ulrike Schuster hat den Faden aufgenommen und für uns das Buch gelesen.

Die Schnur, sie ist vielmehr ein stattliches Wollknäuel – das Fadenende nach oben gerichtet, die runde Sache, wie es sich gehört, bodenwärts. Es handelt sich um ein elementares Begriffsbild, das in seiner scheinbaren Einfachheit den Urknall bildet für ein schlagartig explodierendes Universum an ungeahnten Raum- und Wortdimensionen. Was folgt, ist eine Abfolge an frappanten und subversiven Aphorismen, die zuerst einmal ganz Grund-Sätzliches feststellen, um eben diese Sicherheit im nächsten Augenblick schwindelerregend in Frage zu stellen.

Den Ausgangspunkt des Projektes bildete die szenische Installation “raumwolle |. spacewool _ architecture is a rolling stone”, die Mer im Jahr 2007 als Teil seiner “P.E.R.F.O.R.M.I.N.G S.P.A.C.E series” auf dem Forum aktueller Architektur in Köln realisierte. Der Künstler begleitete seine Installation mit der performativen Lesung eines Textes, der nun wiederum, nach einer umfassenden Überarbeitung und einer nicht unbeträchtlichen Erweiterung des Umfangs, in schriftlicher Form vorliegt.

Wer den Verfasser kennt, der weiß, dass hier keine praktischen Anleitungen zur Theorie des guten Bauens abgegeben werden und noch nicht einmal eine stringente Architekturtheorie im Raum steht. Viel Schwierigeres verlangt der Autor von seinem Publikum, nämlich sich mit ihm zusammen in einen Strudel der Wörter zu stürzen, in unendlichen Abwandlungen der immer gleichen Grundbegriffe diffizile Facetten und Nuancen zu ergründen und sich dem Wechsel der Bedeutungsebenen hinzugeben, die durch die kleinen Verschiebungen in den Wort- und Buchstabenfolgen entstehen.

Mer ist der Meister des Vieldeutigen im Minimalsten. Er zelebriert, wie er selbst schreibt, „voller lust des textes autarkie, seine anarchie mit derselben lust zudem nicht minder.“ Vor allem aber – und in viel stärkerem Ausmaß als in früheren Textarbeiten – setzt er in seiner neuen Publikation auf die visuelle Magie der Wort-Bilder. Die doppelseitigen Sprachfiguren, die sich mit jedem Akt des Umblätterns einer weiteren Metamorphose unterziehen, dringen als piktographische Kürzel und Botschaften in den leeren Raum der weißen Buchseiten. Je reduzierter in der äußeren Form, umso eindringlicher entfalten sie ihre betörende Wirkung. Mer versteht es, die Dramatik seiner Sätze (so man sie als solche bezeichnen kann) bis auf einen einzigen Buchstaben zu konzentrieren – unter anderem auf das besagte architektonische i, das er, wie sollte es auch anders sein, folgerichtig aus dem Urbild der Schnur ableitet.

Aber auch das ist nur ein Aspekt unter vielen. Wer sucht, der findet auf den 1212 Seiten des im Übrigen durchaus kleinen und handlichen Büchleins allerlei Heiteres, Spitzfindiges und Tiefsinniges. Für das genussvolle Schwelgen zwischen den Buchseiten ist vorgesorgt: gleich sechs in den Einband eingelassene Lesebändchen unterstützen den Lesenden auf der abenteuerlichen Jagd nach den Worten. Mit ihrer Hilfe lässt sich der Fluss der Worte fixieren, eingrenzen, oder nach Belieben in einer Art von intellektuellem Daumenkino wieder in Gang setzen. Kurz gesagt, ein philosophisches Lese- und Blättervergnügen: raumfüllend und vieldimensional in allen Lebenslagen.

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