Ausstellungsbesprechungen

Marcel Duchamp - Le mystère de Munich, Alte Pinakothek München, bis 30. September 2012

Wenn man den womöglich renommiertesten Dadaisten Marcel Duchamp heutzutage ehren will, kann man sich nicht so recht vorstellen, eine gewöhnliche Museumswand zu bestücken und so zu tun, als würde man dem Künstler dadurch gerecht. Günter Baumann über eine Ausstellung, die aus nur einer Skulptur besteht und doch fesselt.

Dada trat einst an als Anti-Kunst, die schnell ihren anarchischen Widerstandsstatus verlor, weil gerade der sich als hohe Kunst wider Willen entpuppte. In München hat man sich dem Meister des Ready-mades angenommen, weil Duchamp 1912 dort für zwei Monate weilte und mutmaßlich seine Dada-Karriere startete. Ein kühnes Unterfangen, denn man könnte auch sagen, dass der Künstler in der bayerischen Metropole sein kubistisches Werk abschloss und in Paris, wo er im selben Jahr weilte, seine Dada-Initiation stattfand. Deine Gewährsmänner hießen in München Lucas Cranach (Alte Pinakothek), in Paris Constantin Brancusi und Fernand Léger: Doch wer weiß, vielleicht sind die Wege zu Cranach unergründlich. Jedenfalls heißt es, in Paris sei Duchamp gescheitert. Das Lenbachhaus widmete Marcel Duchamp Mitte des Jahres eine Ausstellung über seinen Aufenthalt in München vor hundert Jahren, begleitet von einem ambitionierten Katalog, der den Kenntnisstand über den kurzen Aufenthalt aufarbeitet, soweit es die Wissenschaft zulässt. Das Architekturmuseum der TU München legte im Sommer nach – und verlegte das Hauptaugenmerk vom Hotelaufenthalt Duchamps (in der Gewichtung der Lenbachhaus-Ausstellung) auf die Wohn-Gemeinschaft in einer Ingenieurswohnung in der Barerstraße. Das Haus wurde im Krieg zerstört.

Der Künstler Rudolf Herz begnügte sich offenbar nicht mit diesem Status quo, der nur unterstrich, dass die Quellen nicht allzu ergiebig sind. »Es gibt tatsächlich nichts«, so Herz in einem Interview mit Andreas Wutz (abgedruckt in »Marcel Duchamp. Le Mystère de Munich«), das in München »an ihn erinnert, kein Werk in einer öffentlichen Sammlung, keine Straße, keinen Platz, der nach ihm benannt ist«. Er begann zu recherchieren, grub sich tief in die Münchner Wochen des Dadaisten ein, fahndete nach dem Grundriss der verlorengegangenen Wohnung, schrieb ein Künstlerbuch, das im Bildmaterial und Umfang weit über den Band des Lenbachhauses hinausging und schuf ein sinnfälliges Zeichen: ein Denkmal, das den Aufenthalt monumentalisiert und das dort einen leider temporären Platz gefunden hat: Herz goss den Aufriss der kleinen 10-Quadratmeter-Wohnung, wo Duchamp wohnte und arbeitete, in Stahlbeton und stellte ihn hochkant im Maßstab 1:1 auf die Wiese vor der Alten Pinakothek. Eine grandiose Idee, die den Künstler sicherlich entzückt hätte. Ausgangspunkt war zunächst nur ein Modell, das vor Jahren entstanden war, »um mir Duchamps Wohn- und Arbeitssituation vor Augen zu führen«. Nach und nach verlebendigte Herz sich das Lebensumfeld des Dadaisten sowie das seiner Vermieter, eines Ingenieurs und seiner Frau. »Duchamps Atelier in der Ingenieurswohnung ist eine der wenigen Tatsachen, die als wirklich gesichert gelten dürfen… Hier verorte ich die Wiege der konzeptuellen Kunst«. Diese Spurensuche dient also keineswegs einer puren Liebhaberei – wenn sie auch die Quellenforschung subjektiv anreichert und durchaus für den interessierten Kunstfreund spannend macht. Es geht Rudolf Herz um eine Korrektur des Kunstverständnisses. Da gerade in München der Blaue Reiter als Keimzelle der Moderne omnipräsent ist, scheint es höchste Zeit zu sein, die unterschwellige Bedeutung Duchamps hervorzuheben. Immerhin haben gleich zwei Münchner Museen die kurze, aber gewichtige Episode in Duchamps Leben nachgezeichnet.

Ähnlich wie man Marcel Duchamps Arbeit in Verbindung mit den diversen Dada-Theorien und -Manifesten sehen sollte, stimmt Herz seine minimalistische Betonskulptur und seine Rechercheergebnisse – die unabhängig voneinander entstanden sind – aufeinander ab. »Man sieht die Skulptur anders, wenn man die Recherchen und ihre Fragestellungen kennt. Und man liest die Recherche anders, wenn man die Skulptur kennt.« In der Tat spielt der dreidimensionale Betongrundriss im Katalog nur eine Nebenrolle, was dem Vergnügen an dem Buch keinen Abbruch tut: Zwischen einer Gegenüberstellung des Duchamps-Porträts des Fotografen Heinrich Hoffmann von 1912 und einer zeitgenössischen (!!) Postkarte mit dem Münchner Selbstporträt Albrecht Dürers und der Darstellung eines Schnittmusterbogens aus der »Deutschen Wäsche- und Handarbeitszeitung« (die Vermietergattin war Schneiderin) – selbstredend eine Nummer aus dem Jahr 1912 – entfaltet Herz das Alltagsbild eines Künstlerlebens in München. Die Gerüchteküche wird dabei nicht ausgespart, wie etwa das möglicherweise von Duchamp gezeugte Kind, das die Schneiderin neun Monate nach dem Aufenthalt zur Welt brachte. Das gehört für Rudolf Herz in den Bereich der Imagination, die ja bekanntlich die Phantasie beflügelt. Stellt die Betonarbeit von Herz nach seiner Aussage eine »gebaute These«, ist sein Buch zu einer Art kriminalistischer Spurensuche geworden: Beides wird als würdige Hommage à Duchamp in die Rezeptionsgeschichte eingehen.

Die Skulptur ist öffentlich zugänglich.

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