Ausstellungsbesprechungen

Marcel Duchamp: Das Unmögliche sehen. Staatliches Museum Schwerin, bis 26. Mai 2019

Das Staatliche Museum Schwerin ist bekannt für seine Sammlung Niederländischer Kunst, aber es besitzt neben anderem auch eine erstaunliche Kollektion von Werken Marcel Duchamps. Genug, um fast allein aus eigenem Bestand eine Ausstellung mit 91 Werken über drei Etagen zu bestreiten. Stefan Diebitz ist nach Schwerin gereist.

Marcel Duchamp, L. H. O. O. Q., 1919-1964 © Association Marcel Duchamp, VG Bild-Kunst, Bonn 2019
Marcel Duchamp, L. H. O. O. Q., 1919-1964 © Association Marcel Duchamp, VG Bild-Kunst, Bonn 2019

 Seit zehn Jahren existiert in Schwerin ein Forschungsschwerpunkt zu Marcel Duchamp. Dieses Datums wegen organisiert das Museum vom 26. bis zum 28. April ein internationales Symposium unter dem Titel »Marcel Duchamp: Die Erfindung der Gegenwart«. Und schon jetzt – aber insgesamt nur acht Wochen lang – gibt es die Gelegenheit, eine große Ausstellung mit Werken Duchamps zu besuchen, der es tatsächlich gelingt, einen Überblick über das gesamte Lebenswerk des Künstlers zu geben.

Nicht jeder mag Duchamp, aber kennen sollte man ihn auf jeden Fall, denn vielleicht war kein Künstler des 20. Jahrhunderts einflussreicher als er, der den »erweiterten Kunstbegriff« schuf, indem er die traditionelle Kunst mit zahlreichen provozierenden Objekten und Aktionen zu Grabe trug. Noch die Fluxus-Bewegung – so wenig unumstritten wie der Meister – berief sich auf ihn.

Wie sonst als auf dem Weg über das Werk Duchamps könnte man verstehen, wie es zu dem erweiterten Kunstbegriff kam? Vielleicht musste es sogar zu ihm kommen? Die Schweriner Ausstellung zeigt mit mehreren Werken, wie Duchamp um ihn kämpfte und warum er ihn formulierte und entwickelte, nachdem er als begabter, immer noch konventioneller Zeichner und Maler begonnen hatte. In den Worten Gerhard Graulichs, eines der Kuratoren der Ausstellung, ging es bei Duchamp um »Versuche, zur Grenzüberschreitung innerhalb der Kunst zu gelangen«. Das sicherlich interessanteste Beispiel für diesen neuen Kunstbegriff ist die Skulptur »Das große Glas« (die Bildergalerie zeigt den unteren Teil, die »Neun männischen Gussformen«). Dieses Kunstwerk bildet den Mittelpunkt der Schweriner Ausstellung, die sicherlich populärsten und vielleicht auch umstrittensten Objekte aber sind die zahlreichen »Readymades«.

Darunter versteht man irgendein Alltagsobjekt, das vom Künstler gekauft oder sonstwie beschafft, alsdann signiert und kraft seines ganz einzigartigen, auch niedere Objekte adelnden Genies zur Kunst erklärt wird. Auf diese paradoxe Weise – indem er also Readymades auf Podeste stellte – wollte Duchamp die Kunst vom Sockel stoßen. Der schärfste und konsequenteste Gegner dieser Art von Kunst, Hans Sedlmayr, nannte Duchamps Konzept in »Die Revolution der modernen Kunst« »die letzte Konsequenz eines romantischen Nihilismus«. Im Grunde parodierte Duchamps mit seinen Readymades den Geniebegriff.

Das zwar nicht früheste, aber zweifellos immer noch berühmteste aller Readymades ist »Fountain«, ein 1917 in New York ausgestelltes Urinal für öffentliche Bedürfnisanstalten. In Schwerin ist »Fountain« nicht präsent, wohl aber andere Readymades, so der vielleicht zweitberühmteste seiner Angriffe auf den bürgerlichen Kunstgeschmack, der mit einem Schnurrbart verunstaltete Kunstdruck der »Mona Lisa«. Allerdings steht Leonardos Bild immer noch auf einem Sockel, bildlich gesprochen, ist nämlich das berühmteste Kunstwerk des Erdenrunds, für das Abertausende zum Louvre pilgern, um dort in Anbetung zu verharren. Für uns heute gilt, dass wir Schnurrbärte oder Zahnlücken als Pennälerschabernack auf Litfaßsäulen oder auf den Titelseiten von »Mad« schon viel zu oft gesehen haben, als dass wir noch wirklich nacherleben könnten, welche Provokation in der Aktion steckte. Und vielleicht war sie ja auch gar nicht so großartig.

Zweifellos sind es die Readymades, mit denen sich Duchamp tief in das Gedächtnis der Nachwelt eingegraben hat. Aber wäre es nur das, dann wäre sein Werk doch eher skeptisch zu beurteilen. Denn auch wenn man sein Vorhaben einer Ent-Idealisierung der Kunst gutheißt, muss man doch konstatieren, dass dieses Konzept allzu schnell in die Hände von Epigonen fiel, die es sich sehr leicht und nicht selten zu leicht machten. Denn mit diesem Konzept geht seit langem eine Verachtung alles Handwerklichen einher, die man beim Meister noch gar nicht antrifft und die der Kunst ganz gewiss nicht gut getan hat. Heute sind derartige Aktionen meist nur noch die müde Karikatur dessen, womit ein Duchamp einst anfing.

Auf die Readymades lässt sich Duchamp kaum reduzieren. Er wollte die Kunst nicht nur vom Sockel holen und sie ganz und gar entidealisieren, sondern er wollte sie ja auch in einen Zusammenhang mit dem Leben stellen, ein Vorhaben, auf das ironisch der Name seines Alter egos hinweist: »Rrose Sélavy«.

So wurden seine Arbeiten vieldeutig und schillernd, ohne eine abgeschlossene Sicht zu repräsentieren. Und so musste die Zeit selbst zum Thema seiner Kunst werden. Und war sie es nicht ohnehin im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts? Damals wandte sich auch die Philosophie vom platonischen Idealismus ab und interessierte sich stattdessen für Prozesse. In ihrem Katalogbeitrag schreibt Kornelia Röder über »Duchamps prozessorientierte Arbeitsweise« – die Beschäftigung mit dieser Thematik durchzieht Duchamps ganzes Werk, und Röder nimmt es als Überschrift »für Duchamps charakteristisches Gestaltungskonzept«. Heute, da sich alle Welt gegen Festlegungen richtet, scheint es sehr gut in die Zeit zu passen.

Eine der schönsten Arbeiten Duchamps ist das kleine kubistische Gemälde „Eine Frau schreitet die Treppe hinab“. Eigentlich fußt es auf einer Reihe von Fotografien, die eine schreitende Nackte zeigen und in ihrer Abfolge den Trick des Films offenlegen, mit der Hilfe statischer Bilder die Illusion von Bewegung zu erzeugen.

Besonders gelungen ist das Konzept Duchamps bei dem »Großen Glas«, einem Objekt, das sich unmöglich auf einen Nenner bringen und sich niemals abschließend ausdeuten lässt. Nicht allein seine Grundkonzeption – eine zweigeteilte, mit rätselhaften Gestalten bemalte, aufrecht stehende Glasplatte – ist einmalig. Typisch für Dada und Surrealismus (und für den sprachspielverliebten Meister ohnehin) ist der bizarre Titel: »Die Jungfrau von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar«. Mit der Konzeption dieses Werks, das 1926 / 27 in New York ausgestellt wurde, begann er bereits 1915, so dass es seinen sehr persönlichen Aufbruch in eine neue Kunst darstellt.

Das »Große Glas« ist ein durch und durch rätselhaftes Objekt, und es ist so vieldimensional, dass man sich ihm auf die verschiedenste Weise nähern kann. In Schwerin ist als Mittelpunkt der Ausstellung eine Replik aus Frankreich zu sehen; nur eine Replik, denn das Original wurde bereits auf dem Rücktransport aus den USA beschädigt. Deshalb begann Duchamp sich Jahre später erneut mit dem Konzept dieses Kunstwerks zu beschäftigen und die Herstellung des »Großen Glases« nachträglich zu dokumentieren. Graulich, der im Katalog dieses Werk auf mehreren Seiten beschreibt und erläutert, schildert die Reaktion Duchamps auf den Verlust, die bei einem Künstler in einen produktiven Akt münden musste.

Duchamp schuf nämlich die »Grüne Schachtel«, die einen ganzen Wust von Zetteln, Notizen, Fotos und Zeichnungen beinhaltet und in einer Auflage von 300 Exemplaren sowie zwanzig Luxuseditionen verkauft wurde. »Da die Zettel«, erläutert Graulich, »keiner Ordnung folgen, lässt sich auch keine lineare Ordnung angeben. Hierdurch ist eine Mehrdeutigkeit in der Wahrnehmung vorprogrammiert, die unterschiedliche Bezüge eröffnet, die sich mitunter auch widersprechen.« Mit anderen Worten, auch hier setzt sich wieder die allumfassende, sein ganzes Werk durchziehende Ironie durch, die einen Sedlmayr so provozierte. Dabei besitzen die Gestalten auf dem Glas einen großen ästhetischen Reiz, der von einem Foto leider nur unzureichend eingefangen werden kann.

Die Ausstellung umfasst ungefähr einhundert Objekte, die sich durch ein ganzes langes Künstlerleben ziehen und den Aufbruch der modernen Kunst dokumentieren. Der Rolle Duchamps als Spiritus rector insbesondere der Fluxus-Bewegung geht Patricia Dick in ihrem Katalogbeitrag nach: »Der Duchamp-Impuls«. Dieser Anstoß war wirklich gewaltig – nicht jedem angenehm, aber eben folgenreich und entsprechend wichtig. Dass das Ende des Tafelgemäldes längst hinter uns liegt, ist nicht zuletzt auch sein Verdienst (oder, ganz nach Belieben, seine Schuld). Dabei war Duchamp ein begabter Maler, wie seine Frühwerke und auch noch gelegentliche spätere Arbeiten zeigen. Aber er schuf auch zu diesem Thema ein hintersinniges Werk, das in besonderer Weise an die Tradition anschließt und diese gleichzeitig beendet. »Fresh Widow« von 1920 / 64 zeigt ein grünes Fenster, dessen schwarzes Glas keinen Durchblick gestattet – in intelligenter Weise wird die seit Leon Battista Alberti (1404 – 1472) immer wieder beschworene Wesensgleichheit von Fenster und Gemälde bestätigt und zugleich ad absurdum geführt.

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