Buchrezensionen

Maria Männig, Hans Sedlmayrs Kunstgeschichte. Eine kritische Studie, Böhlau 2017

Hans Sedlmayr (1896-1984) ist eine schillernde Gestalt, schreibt Maria Männig und bringt damit die Problematik exakt auf den Punkt: der österreichische Kunsthistoriker polarisiert bis heute, im Feuilleton aber auch in der Fachliteratur. In gewisser Weise hat Sedlmayrs Kulturkritik sogar wieder an Brisanz gewonnen. Maria Männig hat sein Wirken untersucht – und Ulrike Schuster mit ihrer Studie überzeugt.

Das Thema ist komplex: Sedlmayr, der konservative Kritiker der Moderne, der ein problematisches Naheverhältnis zur NSDAP pflegte (deren Mitglied er bereits von 1930 bis 1932 war), entzieht sich trotz der Flecken im Lebenslauf den gängigen Kategorien und Schubladen. Der Autor von »Verlust der Mitte« war ein scharfsinniger Beobachter. Zeitzeugen beschreiben ihn als einen charismatischen und mitreißenden Redner, der es in der öffentlichen Debatte mit dem großen Adorno aufnahm. Vor allem jedoch war er, ob man es nun möchte oder nicht, ein Erbe der Wiener Schule am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. 1936 übernahm er die Professur von Julius von Schlosser.

An eben diesem Institut, wo man sich heute des schwierigen Erbes bewusst ist, begann Maria Männig 2012 ihre Dissertation bei Michael Viktor Schwarz und stellte sie 2015 an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe bei Beat Wyss fertig. Für ihre Arbeit hatte Männig Zugang zu Notizen und Typoskripten aus dem bis dato unveröffentlichten Nachlass Sedlmayrs, zu Vorträgen und Vorlesungen aus den ausgehenden 1920er und 1930er Jahren. Anhand dieser Quellen vermag die Autorin plausibel darzulegen, wie Sedlmayr seine zentralen Thesen über die Jahre hinweg konsequent entwickelte. Er sollte sie in einigen Punkten nach 1945 noch einmal modifizieren, ehe er mit seinen Publikationen an die Öffentlichkeit trat.

Schon früh in der akademischen Laufbahn Sedlmayrs kreiste sein Denken um zwei Pole: den »Verfall der Kunst, den er als Zeitgenosse der klassischen Moderne diagnostizierte« sowie die Hoffnung auf eine kraftvolle kunstreligiöse Erneuerung, der Emanation der Kunst in ihrer höchsten Erscheinungsform, dem Gesamtkunstwerk. Die Beschreibung des letzteren bildete den Gegenstand seines Buches »Die Entstehung der Kathedrale«, das bis heute einen wichtigen Beitrag zur Gotik darstellt. Auf den gesamtkunstwerklichen Anspruch kam er noch einmal zurück in seiner Monografie über Johann Bernhard Fischer von Erlach, dem Gegenstand seiner lebenslangen Faszination. Der späte Sedlmayr wird in Männigs Studie allerdings nur kurz abgehandelt. Sie fokussiert sich in ihrer Darstellung auf eine Periode von etwa 20 Jahren, den Zeitraum zwischen 1934 und 1955. Der methodische Aufbau der Arbeit wirkt ein wenig konstruiert in seiner Dreiteilung des Stoffes analog zu Dantes Szenario von Inferno, Purgatorium und Paradiso. Der brisanten Aufbereitung des Themas tut dies allerdings keinen Abbruch!

Eingangs holt Männig weit aus; sie betrachtet die geistesgeschichtlichen Wurzeln des widersprüchlichen Denkers. Sedlmayr fand Anregungen für seine Kulturkritik im intellektuellen Diskurs des Wiener Fin de Siècle. In der Auseinandersetzung mit Max Nordau (der jüdische Arzt und Intellektuelle prägte – ein bitterer Treppenwitz der Geschichte! – den unseligen Begriff der »Entartung«) und mit Sigmund Freud gelangte Sedlmayr zu seiner eigenen Methodik. Er deutete die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Ausdruck einer zeitimmanenten Krise. »Verlust der Mitte« ist der Versuch, die Kunstgeschichte als Krankengeschichte zu schreiben. Ähnliches hatte eine Generation zuvor Oswald Sprengler unternommen in seinem seinerzeitigen Bestseller »Der Untergang des Abendlandes« (1919).

Sedlmayr war auch vertraut mit den Schriften von Paul Schultze-Naumburg, der sich vom Reformarchitekten und Sezessionisten zu einem radikalisierten Vertreter von Heimatstil und völkischem Rasseideal wandelte. Im Wien der 1920er Jahre tobte zudem eine leidenschaftliche Debatte über die Architekturmoderne. In derselben Zeit veröffentlichte Emil Kaufmann, der ebenfalls ein Absolvent der Wiener Schule war, seine bahnbrechenden Studien über die französische Revolutionsarchitektur, deren Vorreiterrolle er erkannte. Sedlmayr entwickelte sich zum Antipoden, machte den Niedergang der Baukunst exakt im Neoklassizismus um 1800 fest. Er konstatierte eine fehlgeleitete Entwicklung, die einem »unkünstlerischen Zeitgeist« geschuldet war. Auf einer reichen publizistischen Tradition also fußend entwickelte Sedlmayr seine Kunsttheorie. Männig konstatiert, dass sich ihr Protagonist in den späten 1930er Jahren radikalisierte und seine Diktion den Verhältnissen der Zeit anpasste, während ab den 1940er Jahren (auch aufgrund persönlicher Schicksalsschläge) die Töne wieder leiser und etwas resignativer wurden. Alles in allem war er jedoch zu allen Zeiten ein Denker, der seine eigenen Standpunkte vertrat.

Zu den Paradoxa um Sedlmayr gehört es, dass er bekennender Konservativer war, sich jedoch vehement gegen den Vorwurf verwahrte, er sei ablehnend gegen das Neue eingestellt. Im prominentesten Fürsprecher des modernen Städtebaus, Le Corbusier, fand Sedlmayr einen »Lieblingsfeind« und sollte dennoch theoretische Ansätze mit diesem gemeinsam haben. In seinem letzten Lebensabschnitt war Sedlmayr maßgeblich am Zusammenkommen des Salzburger Altstadterhaltungsgesetztes beteiligt. Sein Raumkonzept basierte auf der Bewahrung der historischen Altbausubstanz im Zentrum bei gleichzeitiger Ausweisung neuer Stadtbezirke mit modernen Bauten – ein Ansatz, der viel Anerkennung fand und vorbildlich wurde für die Denkmalschutz-Gesetzgebung in weiteren österreichischen Städten.

Also ein »Inferno mit Happy End«? Man hat den Eindruck, dass die Autorin noch vieles ausführen möchte über ihren Gegenstand, was nicht verwunderlich ist angesichts der Vieldimensionalität. Im letzten Drittel ihres Buches schiebt sie schließlich – ein wenig unvermittelt – den Begriff der Immersion in den Diskurs. Der dahinterstehende Gedankengang ist nicht unoriginell, er betrifft eine Kritik an der Sedlmayr’schen Auffassung des Gesamtkunstwerks: Er habe sich dabei weniger an der existenten mittelalterlichen Kathedralenarchitektur orientiert, so argumentiert Männig, als vielmehr an einer Idealvorstellung des gotischen Formwillens. Dadurch sei er dem Historismus des 19. Jahrhunderts weitaus mehr verpflichtet gewesen als er sich selbst eingestand. Was hier kurz angerissen wird, wäre es sicherlich wert weiter verfolgt zu werden. Doch das letzte Wort zum Phänomen Hans Sedlmayr ist sicherlich noch lange nicht gesprochen.

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