Buchrezensionen

Markus Müller: Henri Matisse, Klinkhardt & Biermann, 2016

Matisse' Werke erfreuen sich auch heute noch großer Beliebtheit, vor allem aufgrund ihrer großen Lebensfreude, die sich mit einer meisterlichen Ausführung verbindet. Wie aber sah es im Leben des Malers aus? Das beleuchtet Markus Müller in seiner Biografie des Malers. Antonia Sano entdeckt einen vergnüglichen Band.

Henri Émile Benoît Matisse - Der Tanz. Der Blaue Akt. Farbenfrohe Scherenschnitte. Denkt man an das Œuvre Matisse‘, so sind das wohl einige der ersten Schlagworte, die einem in den Sinn kommen. Gerade die berühmten »gouaches découpées« entstanden aber erst in der letzten Lebensphase des 1869 in Le Cateau-Cambrésis geborenen französischen Malers. Die krankheitsbedingte körperliche Einschränkung sollte sein künstlerisches Schaffen in dieser Zeit maßgeblich beeinflussen. Zwischen seinen Frühwerken, wie »Der servierte Tisch«, der noch sehr am impressionistischen flüchtigen Sinneseindruck orientiert ist, dem »Tanz« von 1909/10 und seinen bunten Scherenschnitten liegen nicht nur etliche Jahre, sondern vor allem auch eine spannende Entwicklung in die farbintensive Abstraktion: Hin zu einem der bedeutendsten Künstler der Klassischen Moderne. Markus Müller legt im 18. Band der Reihe Junge Kunst genau diese künstlerische Entfaltung anhand zahlreicher Abbildungen, übersichtlicher Texte und spannender Dokumente aus dem Künstlernachlass dar.

Über eine Epochenschwelle, wie sein Lehrer Gustave Moreau es bezeichnete, wird Matisse - ein studierter Jurist - während seiner künstlerischen Karriere gehen. Gegen die Überzeugung seines Vaters begann er eine Malerlehre in Paris und sollte als ein Hauptvertreter des Fauvismus und Unterstützer der Loslösung vom Impressionismus eine entscheidende Rolle in der Kunst des 20. Jahrhunderts spielen. Geprägt durch die impressionistischen Einflüsse Pissaros, die pointilistisch-strukturellen Tendenzen durch den Kontakt zu Paul Signac oder die aufstrebenden Kubisten wollte Matisse »seine Farben singen lassen, ohne auf Regeln und Bestimmungen zu achten«, wie Müller es formuliert.

Aufgrund dieser Regellosigkeit wird er den »fauves« bzw. »incohérents« zugeordnet, den Wilden also. Der Dichter und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire bezeichnete Matisse sogar als den »Fauve der Fauves«; reflexiv seiner Vormachtstellung in der damaligen künstlerischen Avantgarde. Nach seinem Skandalerfolg »Frau mit Hut« im Pariser Herbstsalon des Jahres 1905, einem Werk das seine Ehefrau Amélie mit kompositorisch großzügig angelegtem Kopfschmuck porträtiert, klingt mit der ornamentalen Flächigkeit des Werkes »Harmonie in rot« (1805) ein neues ästhetisches Prinzip an: Die Ästhetik des Musters. In »Notizen eines Malers«, seiner ersten kunsttheoretischen Schrift von 1908, hält er folgenden Leitgedanken seiner Kunst fest: »Ich will jenen Zustand von Verdichtung der Empfindung erreichen, der das Bild ausmacht«. Statt impressionistischer flüchtiger Leichtigkeit strebt er zunehmend nach stabilisierenden Qualitäten im Werk. Dieses dekorative Flächenprinzip sei Träger abstrahierender Tendenzen. Einerseits betone das Ornament die Flächenhaftigkeit der Komposition, andererseits werde durch seine strukturelle Wiederholbarkeit optisch die Bildfläche gesprengt, so Müller. Parallelen sind hier vor allem in der orientalischen Kunst zu suchen, wo durch Staffage oftmals ein größerer Raum inszeniert wird. Diese flächenhaft-expansive Kraft, wie Müller sie nennt, kann besonders eindrücklich in »Interieur mit Auberginen« (1911) oder »Die Familie des Malers« beobachtet werden: es wirkt beinahe wie eine Aneinanderreihung ornamentierter Bildsegmente. Anders noch als in der Renaissance, etabliert sich Dekorative bei Matisse zur primären Bildqualität.

Der Kontakt zu zahlreichen Kubisten bringt Matisse in die Nähe zu Paul Cézanne, der nach Albert Gleizes und Jean Metziger eine Schlüsselrolle im Verständnis des Kubismus spiele. »Notre-Dame de Paris« oder »Kopf in Weiß und Rosa«, beide aus dem Jahr 1914, zeigen die Suche Matisse‘ nach einer ihm entsprechenden Sprache in der Formanalyse der Kubisten. Der Künstler André Lhote, selbst Kubist, jedoch spricht die problematische Bildlogik in Matisse‘ Werken an, die von derer der Kubisten abweicht: »Matisse geht vom Sinneseindruck zur Idee, die Kubisten von der Idee zum Sinneseindruck«.

»Dekorative Figur vor ornamentalem Hintergrund« (1925/26) kulminiert das Schaffen Matisse‘ während seines Nizza-Aufenthaltes. Es zeigt Henriette Darricarrère sitzend, vor einem in die Zweidimensionalität zugespitztem, bunten Hintergrund und Blumen. Schon mit »Der Tanz« von 1909/10 bekennt er sich der Hinwendung zur menschlichen Gestalt, die hier 17 Jahre später, sogar Gegenstand dekorativer Stilisierung wird. Diese Phase im Leben Matisse‘ wird aufgrund der Darstellung vieler Haremsdamen in orientalischem Ambiente auch als Odalisken-Periode bezeichnet. Es scheint wie eine Aneinanderreihung verschiedenartig strukturierter Flächensegmente, die sich nicht als Bildelemente zu einer ordnenden Raumkonstruktion einen lassen. Diese Phase der künstlerischen Umsetzung wird von Kritikern als eine Stagnation oder ein Rückfall in französische Traditionen im Vergleich zu seiner zuvor »heroischen Bildlösungen« (Clement Greenberg) gedeutet. Matisse selbst bezeichnet diesen Abschnitt als Übergangs- und Ruhephase. Er scheint auf der Suche zu sein, dekorative Zweidimensionalität und die realitätsnähere Dreidimensionalität kämpfen um die Dominanz im Werk.

Der Autor betont: Um die Kunst Matisse‘ zumindest ansatzweise verstehen zu können, muss man sie in den kulturpolitischen Kontext der »Retour à l’ordre«, also einer Wiederkehr zur Ordnung stellen. Nach Ende des Ersten Weltkrieges bestimmte eine Rückbesinnung auf eigene Traditionen das kulturelle Klima Frankreichs. Kunst war für Matisse in diesem Zusammenhang eine Harmoniequelle, sie sollte meditative und rekreative Ruhe ausstrahlen. Schon in »Notizen eines Malers« wird dieses fortan als Lehnstuhl-Syndrom bezeichnetes Phänomen beschrieben: »Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände, von einer Kunst, die für jeden Geistesarbeiter, für den Geschäftsmann so gut wie für den Literaten ein Beruhigungsmittel ist, eine Erholung für das Gehirn, so etwas wie ein guter Lehnstuhl, in dem man sich von physischen Anstrengungen erholen kann.«

Eine besonders prägende Erfahrung für Matisse war seine Krankheit: Musste er zunächst in Lyon aufgrund eines Darmkrebses operiert werden, folgten gleich darauf zwei Lungenembolien. Vor seinem Sohn Pierre spricht er danach von einem zweiten Leben. Diese Phasen der Einschränkung scheinen einen katalytischen, vielleicht auch befreienden Einfluss auf sein Schaffen gehabt haben. Rückblickend äußert er sich 1952: »Was ich vor dieser Krankheit [...] gemacht habe, trägt immer zu sehr die Spuren der Anstrengung [...]. Was ich danach schuf, stellt mich selbst dar, frei und abgelöst«. Die Folgezeit verbringt er in Villa le Rêve in Vence und fast leitmotivisch widmet er sich der bereits 1905 mit »Offenes Fenster mit Collioure« angeklungenen Fensterausblicksthematik. Das illusionistische Fenstermotiv, die Malerei als Fenster zur Welt, wird hier als eine Dialektik zwischen drinnen und draußen in die zweidimensionale Bildlogik überführt.

In den 1940er Jahren arbeitete Matisse hauptsächlich mit zweierlei Medien: Weißes Papier und Gouache. Seine Sorge war zunehmend, dass seine Zeichnung und seine Malerei auseinander gehen würden. Matisse suchte also nach einem Weg die formalen Elemente von Farbe und Linie zu vereinen. Die Linie war für ihn die purste und direkteste Übersetzung seiner Emotionen. Durch die Scherenschnitte war er in der Lage eine Symbiose dieser beiden Seiten seiner Arbeit zu bilden und seine Hingabe zu Form und Farbe zu reflektieren. Ein Spiel mit Farben, Kontrasten und dekorativen Strategien. Er beschrieb es als die Farbe schneiden oder mit der Schere malen. Er würde farbig bemalte Bögen in verschiedene Formen und Größen schneiden und sie anschließend in lebendigen Kompositionen anordnen. Zunächst noch verhältnismäßig klein, vergrößerten sich die Formate auf nahezu Raumgröße mit wachsender Ambition für diese Technik. Auffällig: Trotz eingeschränkter Mobilität fehlt es den Werken nie an Dynamik. Auch nach einer weiteren Operation, in dessen Folge er ein Stahlkorsett tragen musste, war er ausgesprochen produktiv. Noch Jahre bevor Matisse ab 1946 die Scherenschnitte als autonomes Medium entdeckte, nutze er sie als Hilfsmittel um Werke anderer Medienformate zu realisieren. Beispielsweise nutze er schon 1919 zugeschnittenes Papier, um das Design für »Le Chant de Rossignol« entwerfen. D

Markus Müller gibt anhand vieler farbiger Abbildungen und einiger Dokumente einen soliden ersten Einblick in das Schaffen Matisse‘. Durch die Anordnung der Bilder sind die beschriebenen Entwicklungen leicht und anschaulich nachzuvollziehen. Eine detaillierte Analyse oder eine ausführliche Einbettung in einen kulturhistorischen Kontext sind hier allerdings nicht zu erwarten, sondern eine leichte, unterhaltende Lektüre für einen gemütlichen Nachmittag, , vor allem für die erste Annäherung an den Künstler.

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