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Martin Kirves: Das gestochene Argument. Daniel Nikolaus Chodowieckis Bildtheorie der Aufklärung, Reimer 2012

Ansetzend bei der Bildfolge »Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens«, untersucht Martin Kirves Daniel Nikolaus Chodowieckis Theorie und Praxis des aufklärerischen Bildes. Das auf einer kunstgeschichtlichen Dissertation basierende voluminöse, weit ausholende Buch verlangt eine aufmerksame und vor allem geduldige Lektüre, der sich Franz Siepe hingegeben hat.

Wir alle kennen die subkutan wirkende, verhaltens-, charakter- und ausdrucksprägende Macht visuell vermittelter Vor-Bilder. Die Aufklärungsästhetik sah hierin ein Potential zur Perfektionierung der menschlichen Natur. So schrieb Johann Georg Sulzer, der Autor der »Allgemeinen Theorie der schönen Künste«, 1774 voller volkspädagogischen Optimismus: »In dem Menschen, dessen Geist und Herz so unaufhörlich von allen Arten des Vollkommenen gereizt und gerührt werden, entsteht nothwendig eine Entwicklung und allmählige Verfeinerung aller Seelenkräfte. Die Dummheit und Unempfindlichkeit des rohen natürlichen Menschen verschwindet nach und nach; und aus einem Thier, das vielleicht eben so wild war, als irgend ein anderes, wird ein Mensch gebildet, dessen Geist reich an Annehmlichkeiten und dessen Gemüthsart liebenswürdig ist. So wenig es erkannt wird, so wahr ist es, daß der Mensch das wichtigste seiner innern Bildung dem Einflusse der schönen Künste zu danken hat«.

Aus diesem Geist entstand Chodowieckis Bildfolge »Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens«, die auf zwei Bögen (1778 und 1779) in Georg Christoph Lichtenbergs »Göttinger Taschen-Calender« in Form von zwölf Doppel-Kupferstichen erschien. Was die künstlerische Qualität der Bilder Chodowieckis anlangt, darf es heute schon überraschen, dass er vormals mit Raffael auf eine Stufe gestellt wurde. Bezüglich der moraldidaktischen Tendenz der von Kirves betrachteten Natur-versus-Affektiertheit-Bildfolge gehen die Ansichten auch heute noch auseinander. Manche sehen darin eine Antithese von Adel und Bürgertum, andere von deutscher und französischer Kultur. Kirves‘ Deutung geht dahin, in der Gegenüberstellung der Szenarien einen Appell an das Publikum zur Selbstreflexion zu sehen: »Es wird mithin kein Feindbild generiert, sondern ... die Lächerlichkeit der Nachahmung bloßgestellt, wobei im Imitationsziel Höfisches und Französisches verschmelzen. Dem didaktisch-pädagogischen Anliegen der Bildfolge entsprechend, ist die Zielrichtung nicht nach außen ... gerichtet, sondern nach innen, auf den bürgerlichen deutschen Betrachter, dem die Aufgabe der Selbstüberprüfung anheimgestellt wird. Er soll, das Projekt Kants pragmatisch antizipierend, durch Selbstkritik zu sich selbst kommen«.

Die Bilder Chodowieckis sollen aufklären, indem sie den »moralischen Sinn« des Betrachters stärken. Beispielsweise stellt das Bilddoppel »Der Unterricht« auf der linken Seite einen hohlkreuzig gestikulierenden Lehrer dar, der zwei höfisch herausgeputzte dumme Kinder zu instruieren versucht, und kontrastiert auf der rechten Seite diesem schlechten Schauspiel eine »natürliche« pädagogische Situation, in der Ungeziertheit, gestische Schlichtheit und kontrollierte Aufmerksamkeit herrschen. Oder wir sehen zwei Bilder, die auf gegensätzliche Weise die »Empfindung« veranschaulichen. Die »natürliche« Empfindung zeigt sich verhalten und demonstriert, dass die Personen im Inneren vom Geschauten angerührt sind, während die »affectiert« empfindenden Individuen derart ungezügelt und gleichsam hysterisch nach außen hin agitieren, dass der Eindruck entsteht, hier herrsche mehr hohle Theatralik als wirkliches Bewegtsein. Zwar sympathisiert Chodowiecki sichtlich mit der »natürlichen« Seite, doch will es manchmal auch scheinen, als habe er hier satirisch motivierte Distanzierungssignale einmontiert; etwa dann, wenn eine »natürlich« Betende mit überdimensioniertem Faltenwurf über dem Hinterteil in der Kirche kniet oder wenn der »natürliche« Wachsoldat wie ein begossener Pudel im Regen steht.
Kirves‘ Ausführungen zu diesen Doppelbildern machen allerdings lediglich circa ein Fünftel des gesamten Textes aus. Wesentlich mehr Raum widmet er der eingehenden Rekonstruktion der Bildtheorie Shaftesburys, und auch die Erläuterungen zu Theorie und Werk William Hogarths nehmen sich sehr umfangreich aus. Am Ende gibt es dann noch ein Kapitel über »Chodowieckis Seelenmahlerei«.

Wie fügt sich das alles zusammen? Nicht eben unkompliziert. Um so mehr schulden Rezensenten wie Leser dem Autor Dank für die Freundlichkeit, dass er uns in seiner Zusammenfassung aus dem Labyrinth herauszuleiten versucht, in das er uns über Hunderte von Seiten hineingeführt hat. Der von Kirves aus den Schriften Shaftesburys als für das Verständnis Chodowieckis wesentlich herauspräparierte Begriff ist der des moral sense. Dieser uns angeborene Sinn für das Wahre, Gute und Schöne, der uns in allem kultiviert und anmutig-gesellig macht, befähigt uns zu angemessenen ästhetischen und moralischen Urteilen. Intensiv und extensiv exemplifiziert Kirves das an Shaftesburys Essay über die »Wahl des Herkules«, zu dem der in der Epoche der Aufklärung europaweit überaus präsente englische Graf ein Gemälde beim italienischen Maler Paolo de Matteis in Auftrag gegeben hatte. Wie der Betrachter von »Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens« befindet sich auch der Betrachter dieses Gemäldes in einer visualisierten Entweder-Oder-Situation, indem er mit Herkules vor der Wahl steht, der Göttin der Tugend oder der Göttin des Lasters den Vorzug zu geben. Freilich liegen die Verbindungslinien zwischen Shaftesbury und Chodowiecki nicht immer unmittelbar auf der Hand, sondern müssen gelegentlich unter Anstrengungen gesucht und gefunden werden.

Hogarth, Prototyp der »genuin englischen Historienmalerei«, hat primär deshalb den Rang einer im Chodowiecki-Kontext würdigenswerten Figur, weil seine Grafiken von Lichtenberg sehr geschätzt und z. T. ausführlich kommentiert wurden. Wie Chodowiecki widmete sich Hogarth alltäglichen zeitgenössischen Begebenheiten in all ihrer Komik und Tragik, und zwar in einer künstlerischen Meisterschaft, welche die Grenzen zwischen hoher und niederer Kunst obsolet werden ließ. Lichtenberg verglich ihn mit Shakespeare.

Nun macht es Martin Kirves einem nicht immer leicht, seinen fraglos hochgescheiten Argumentationen zu folgen. Selbst nach mehrmaliger Lektüre will es mir nicht recht gelingen zu verstehen, was gemeint sein könnte, wenn Chodowieckis Bildtheorie »es unternimmt, zwischen den aufgrund der stets in die Darstellung involvierten Manier gegebenen Pole einer ›verfälschenden Abschilderung‹ und einer ›authentischen Schöpfung‹ des Darzustellenden zu vermitteln.« Dies wiederum führe ihn, Chodowiecki, »von einer bildinternen Authentifizierung der Darstellung zur Selbst-Authentifizierung der Bildwelt, wobei sich beide Momente in der untersuchten Bildfolge kreuzen«. So steht’s im vorletzten Absatz der »Zusammenfassung«.

Ein Vorschlag zur Güte: Das im Buch verhandelte, wirklich schöne und wichtige Thema sollte von diesem wirklich kenntnisbefrachteten Autor demnächst einmal in einer Fassung vorgelegt werden, die nicht einer Handvoll Experten imponieren, sondern eine Vielzahl interessierter Leser aufklären möchte. Dem Rezensenten erging es schließlich wie dem großen Chodowiecki nach Fertigstellung seiner Bildfolge »Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens«: »Mein Beurtheiler sähe es endlich gern, daß ich diese Art Gegenstände fortsetzte; aber ich muß gestehen, ich bin erschöpft!«

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