Rezensionen

Martina Padberg/Klara Denker–Nagels/Henrike Holsing/Petra Lewey (Hg.): Italiensehnsucht. Auf den Spuren deutschsprachiger Künstlerinnen und Künstler 1905–1933. Wienand Verlag

Spätestens seit Goethes berühmter Reise steht Italien synonym für südliche Sehnsuchtsbilder. Viele Künstlergenerationen wurden davon magisch anzogen, auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts: August Macke, Walter Ophey, Erich Heckel, Max Pechstein, Anita Rée, Emy Roeder und viele andere machten sich hier auf die Suche nach Inspirationen abseits der ausgetretenen Pfade. Geschichtsgesättigte Städte und eine sonnendurchflutete Mittelmeerlandschaft, expressionistische Dramatik und neoklassizistische Kühle – in der künstlerischen Auseinandersetzung der deutschsprachigen Avantgarde zwischen 1905 und 1933 finden sich beide Temperaturlagen des Landes wieder. Melanie Obraz ist der Route gen Süden gefolgt.

Cover © Wienand Verlag
Cover © Wienand Verlag

Es ist immer wieder und immer noch eine besondere Erfahrung, eben dorthin zu reisen »wo die Zitronen blühen«. Bereits Goethe begab sich im Jahr 1786 auf seine fast zweijährige und legendäre Italienreise und wandelte auf den Spuren des berühmten Archäologen und Kunstwissenschaftlers Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), der mit seinen Schriften nicht nur den Klassizismus im deutschsprachigen Raum begründete, sondern auch die Italiensehnsucht nachhaltig prägte.

Seit ehedem lockt und lockte Italien die Künstler, die an der Kunst Interessierten, die Nachdenklichen und die Aussteiger. Die antiken Stätten und die (meist) sonnendurchströmte mediterrane Landschaft war und sind es immer noch, die Italien als einen Ort der sehnsüchtigen Erwartungen erscheinen lassen. Die Projektionen der künstlerisch Entflammten fanden dort eine Antwort.

»Italiensehnsucht!«, ist daher nicht nur ein Stichwort, sondern vielmehr. Eine Lebensanschauung, ein Wunsch, ein Hineindenken in eine Welt, die schon in der Antike für Ästhetik und wohl auch für den Urbegriff des Schönen stand, wie es sich in den Werken der Kunst widerspiegelt. Italien mit seinen bekannten Städten Rom, Florenz oder Portofino wäre undenkbar ohne den Geist der griechischen Kunst. Doch »die Römer« haben die Kunst der Griechen lediglich interpretiert, übersetzt und eine eigene Antike daraus entstehen lassen.
Das vorliegende Buch zeichnet nun die Wege deutschsprachiger Künstler zwischen 1905 und 1933 nach. Der Leser/Die Leserin kann mit ihnen auf eine kunstschaffende Reise gehen und an ihren neuen Lebensanschauungen und künstlerischen Ambitionen teilhaben, ist hier nicht nur der/die Aufnehmende eines Textes, sondern wird zum/zur Wandelnden und sieht in den Malereien eine neue und befreite Welt auferstehen.

Wassily Kandinsky, Rapallo – Boot im Meer, 1906 Öl auf Karton, 23,9 x 33 cm, Franz Marc Museum, Kochel, Dauerleihgabe, erworben durch Ernst von Siemens Kunststiftung, Kulturstiftung der Länder, Stiftung Etta und Otto Stangl  © Foto: Collecto: www.collecto.art 
Wassily Kandinsky, Rapallo – Boot im Meer, 1906 Öl auf Karton, 23,9 x 33 cm, Franz Marc Museum, Kochel, Dauerleihgabe, erworben durch Ernst von Siemens Kunststiftung, Kulturstiftung der Länder, Stiftung Etta und Otto Stangl  © Foto: Collecto: www.collecto.art 

Schon in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts lebten in Rom mehr als fünfhundert deutsche Maler, Bildhauer und Architekten (u.a. Leo von Klenze, August Riedel).
Und auch wenn Anfang des 20. Jahrhunderts vielen Künstlerinnen und Künstlern Paris als wichtigstes Reiseziel galt, war das alte Sehnsuchtsland Italien keineswegs vergessen. Mit seiner »Italienischen Reise« hatte Goethe Italien als einen verheißungsvollen Ort angepriesen und so Künstlern ein Ziel gegeben.
Warum zeigten sich die Künstler/Innen wieder daran interessiert, nach Italien zu reisen und dort zu arbeiten? Italien war eben nicht nur ein weiteres Land, in dem sie künstlerisch tätig sein konnten, sondern war immer noch das gesuchte Ideal des Südens und Ursprung aller Phantasie. Neue Lebensformen und Mythen vergangener Kultur bestanden hier nebeneinander, vereinigten sich hier und wurden von den Künstlern/Innen thematisiert. Der sokratische Hebammen–Gedanke kommt hier zum Tragen.

Das Buch lädt den Betrachter/die Betrachterin dazu ein, jene Erfahrungen nachzuempfinden, wie sich Künstlerinnen und Künstler (auch Künstlerpaare wie z.B. Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, Hans Purrmann und Mathilde Vollmoeller–Purrmann) der expressionistischen Ära und auch die der Neuen Sachlichkeit in Italien in ihrer Kunst weiter entwickelten und veränderten. Die künstlerische Vielfalt von der Antike über die Renaissance bis zum Barock inspirierte die kreativ Schaffenden einige von ihnen waren zudem die auch Stipendiaten in Florenz und Rom z.B. Karl Schmitt–Rottluff, Max Beckmann, Ernst Barlach (obwohl ihm das sonnendurchflutete Italien fremd blieb) oder Emy Roeder.

Adolf Erbslöh, Positano, um 1923  Öl auf Leinwand, 94,5 x 131 cm, Dauerleihgabe im Von-der-Heydt-Museum Wuppertal  © Foto: Privatarchiv
Adolf Erbslöh, Positano, um 1923  Öl auf Leinwand, 94,5 x 131 cm, Dauerleihgabe im Von-der-Heydt-Museum Wuppertal  © Foto: Privatarchiv

Abseits bekannter Reisewege suchten die Künstler/innen Inspiration in der Wiederentdeckung des »Mythos Italien«. Die Amalfiküste und die Inseln Capri, Ischia und Sizilien wurden für manche Künstler/innen regelrecht zur neuen Heimat, zumal nach der nationalsozialistischen Machtübernahme für viele die Emigration der einzige Ausweg war, um überhaupt noch frei künstlerisch tätig sein zu können. Auch bot sich im Süden die Möglichkeit neue und eben freie Lebensformen auszuprobieren.

Der Fokus der Publikation ist dabei aber nicht nur auf Berühmtheiten wie Ernst Barlach, Max Beckmann, Erich Heckel, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Max Pechstein, Karl Schmitt–Rottluff, Ewald Mataré und August Macke gerichtet, sondern widmet sich auch dem erweiterten Kreis der interessanten und aussagekräftigen Künstler jener Zeit und lädt den Leser/die Leserin dazu ein, sich der gesamten Bandbreite der, von jener Italiensehnsucht berauschten Malkunst hinzugeben. Es geht um eine neue Denkform, eine neue ästhetische Entdeckung, die weit über das griechische ästhetische Ideal hinausgeht. Freiheit ist das Motto, auch in den neuen Farben, die von der Sonne des Südens inspiriert sind.

Bilder oder Lithografien interpretieren den Lebensodem des Südens, atmen eine mystische Innenschau. Die weltlichen und pragmatischen Probleme zeigen sich dort in – im wahrsten Sinne des Wortes – einem anderen Licht.
Die Enge der »Heimat« konnte abgestreift, eine neue Zugangsweise zur Welt erworben werden. Erweiterung des Erlebens und Denkens war die Belohnung dieser Reise. Auch dem heutigen Blick ermöglichen diese Bilder »die Anschauungen« in eine besondere Welt der Freiheit, der Schönheit und des Wunderbaren.

Mathilde Vollmoeller-Purrmann, Stillleben mit Muschel, Florenz, um 1936/40  Aquarell, 35 x 52,5 cm, Purrmann-Haus Speyer © Foto: Purrmann-Haus Speyer 
Mathilde Vollmoeller-Purrmann, Stillleben mit Muschel, Florenz, um 1936/40  Aquarell, 35 x 52,5 cm, Purrmann-Haus Speyer © Foto: Purrmann-Haus Speyer 

In den Bildern und Grafiken der Künstler/innen zeigt sich das Befreiende ohne alle Bildungskonvention. Das Buch offenbart hiermit, welche Kräfte dieser Pool der Sehnsucht gleichsam heraufbeschwor.
Klar beweist sich auch: Die Beschäftigung mit der Italiensehnsucht zeigt eine nie endende, weil sich immer wieder neu entflammende Neugier auf die Phänomene der Kunst und wie jene die Einheit zwischen Mensch und Natur und eines Zusammenlebens überhaupt interpretiert. Damit eröffnet der vorliegende Katalog einen Diskurs, der uns stets von Neuem aufgibt, das besondere Italien in uns selbst zu suchen, muss man doch »In diesen Gegenden zum Künstler werden«.


Italiensehnsucht. Auf den Spuren deutschsprachiger Künstlerinnen und Künstler
1905–1933.
Katalog zur Ausstellung im Museum im Kulturspeicher, Würzburg, Museum August Macke Haus, Bonn und Max Pechstein Museum, Zwickau 2020/2021
Herausgegeben von: Martina Padberg, Klara Denker–Nagels, Henrike Holsing, Petra Lewey (Hg.)
Mit Beiträgen von: Martina Padberg, Joachim Blüher, Magali Wagner
Verlag: Wienand
160 Seiten, mit 107 farbigen und 21 s/w Abb.
ISBN 978–3–86832–590–4

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