Buchrezensionen

Matthias Barth: Kathedralen der Arbeit. Industriekultur in Berlin, Nicolai Verlag 2016

Nach seinen Büchern über »Romanik und Gotik in Berlin und Brandenburg« und besonders über das »Kaiserliche Berlin« zählt Matthias Barth zu den besten Kennern der Architekturgeschichte dieses Landstrichs. Jetzt hat er mit »Kathedralen der Arbeit« ein weiteres Buch zum Thema geschrieben. Stefan Diebitz hat den Band gelesen.

»Kaiserliches Berlin« ist nicht allein eines der schönsten, sondern in seiner Aussage auch eines der originellsten Bücher zur Kunst- und Kulturgeschichte Berlins, denn zu einer Ehrenrettung der als eklektizistisch und überladen, ja als verlogen geltenden Architektur der Kaiserzeit muss man sich erst einmal durchringen. Es erfordert schon einen gewissen Mut, gegen den Zeitgeist, ja gegen die jahrzehntelang geltende Abwertung einer ganzen Epoche anzuschreiben und anzuargumentieren. Den wunderschön bebilderten und sehr sachkundig argumentierenden Band des Fotografen Matthias Barth kann man gar nicht warm genug empfehlen.

»Kathedralen der Arbeit« schlägt keine derartige Neubewertung vor, ist aber ähnlich gearbeitet und behandelt ziemlich genau dieselbe Epoche, denn auch sie beginnt nach der Reichgründung 1871, führt allerdings bis in unsere Zeit. Wie in dem Vorgängerband ist der Text grundsätzlich sachlich, informativ und genau, begleitet von entsprechend aussagekräftigen Bildern, die in einer für Barth typischen Weise ganz konsequent auf alle Effekte verzichten.

Die vom Autor besprochenen Gebäude wurden, von Ausnahmen abgesehen, kaum jemals so abschätzig beurteilt wie die kaiserzeitlichen Verwaltungs-, Eisenbahn- und Prachtgebäude. Die Qualität der meisten wurde schon oft gewürdigt, und es stammen ja viele von ihnen auch von Klassikern der Architekturgeschichte, unter denen Fritz Höger (von dem sonst noch das Hamburger »Chilehaus« stammt), Peter Behrens und Bruno Buch herausragen.

Die einleitenden fünf Kapitel sind nach Bauaufgaben gegliedert, behandeln nämlich »Wirtschaft und Industrie«, »Industriebranchen«, »Industriearchitektur«, »Industriereviere« und schließlich »Wohnungen und Villen«; sie argumentieren sozial- und wirtschaftsgeschichtlich, nicht aber kunsthistorisch, und bilden damit das unerlässliche Fundament für die folgende Darstellung. Denn wer die Wirtschaftsgeschichte nicht wenigstens in groben Zügen kennt, der kann natürlich auch nicht die Aufgaben beurteilen, vor denen die Architekten standen.

Siemens, die AEG, die Borsig-Werke oder andere Weltfirmen begannen bescheiden, verwandelten sich aber in ganz wenigen Jahren in weltweit tätige Industriegiganten, die über Jahrzehnte hinweg vor dem Problem standen, genügend Raum für ihre teils riesengroßen, also oft zweihundert Meter langen Produktionshallen zu finden. Der Begriff, der für die häufigen Firmenumzüge verwendet wird, braucht kaum übersetzt zu werden, denn er lautet schlicht »Stadtrandwanderung«.

Der Titel des Buches ist nicht entsprechend glücklich gewählt, denn Barth stellt die Hallen gar nicht als Kathedralen dar, sondern konzentriert sich ganz und gar auf ihre Funktionalität. »Das Interieur der Produktionshallen war hingegen allerorten schlicht und funktionell. Hier trifft man auf nackte Wände, unverkleidete Stahlträger und Pfeiler, Kappengewölbe, Beton-Rasterdecken oder freitragende Eisenbinder- und Stahldachkonstruktionen mit riesigen Glasflächen und ist oft gleichmaßen desillusioniert ob der Schmucklosigkeit, aber auch fasziniert von der archaischen Monumentalität und dem schnörkellos pragmatischen Purismus.« Auch an späterer Stelle betont der Autor den puristischen Charakter dieser Hallen: »Im Inneren handelte es sich […] um moderne minimalistische Bauten mit offenen stählernen Trägern und Dachbindern unter mehrfach gestuften teilverglasten Satteldächern«.

Wichtig ist zusätzlich, dass die einzelnen Branchen sich je anders darstellten: »Wenn die Hochtechnologiefirmen eher dazu neigten, sich auch äußerlich modern zu präsentieren, pflegten etwa die Brauereien bewusst ihr traditionsverhaftetes Image und verbargen ihre Technik hinter historisierendem Dekor.« Das war dann wirklich Wilhelminismus, wie wir ihn uns gerne vorstellen. Barth kann das anschaulich machen mit aussagekräftigen Fotos der Kindl-Brauerei und dem Gebäude der Schultheiss-Brauerei in Pankow, das sich heute in eine »Kulturbrauerei« verwandelt hat.

Der Einleitung folgen zwölf einzelnen Stadtteilen gewidmete Kapitel, in denen die auch heute noch vorhandenen Gebäude mit Fotos vorgestellt werden, die auf jeden Schnickschnack verzichten: keine spektakuläre Beleuchtung, kein Rahmen aus Laub, keine ungewöhnliche Perspektive – alles wird ganz objektiv und sachlich vorgestellt, oft im Winter fotografiert, wenn die Bäume kahl sind und so ihr Laub weniger den Blick verstellt. Jeder Firma gehört ein längerer oder kürzerer Abschnitt, immer auch mit genauer Adresse, so dass der Interessierte selbst diese Orte aufsuchen kann.

Schließlich behandelt Barth nicht allein die Industriearchitektur, sondern auch einige der teils gewaltigen Villen für die Generaldirektoren sowie die Werkssiedlungen. Letztere wurden von Siemens im »Heimatschutzstil« errichtet, und der Autor vergisst nicht zu erwähnen, dass das Viertel auch »noch heute bei den Bewohnern beliebt ist.« Etwas Besseres, als dass man gerne in seinen Häusern gerne wohnt, kann man wohl kaum über die Leistung eines Architekten sagen.

Heute wird niemand mehr so bauen, aber heutige Architekten sollten sich einmal fragen, ob sie nicht doch von der klassischen Moderne lernen können. Vor allem der Backsteinexpressionismus macht nach wie vor Eindruck – das oben erwähnte Chilehaus ist nur sein Glanzstück, sonst gibt es viele andere schöne Gebäude in diesem Stil, und auch die eng verwandte Heimatschutzarchitektur sollte nicht so einfach verworfen werden.

Viele identifizieren letztere mit nationalsozialistischem Bauen, aber kaum etwas dürfte falscher sein – man kann das schon daran sehen, dass es sie nicht allein in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen der Welt gibt. Ihre Gebäude passen sich nicht allein an die Umgebung an, indem sie den regionalen Baustil aufgreifen, sondern ihre Dimensionen sind in aller Regel menschlicher, ihre Formen auch weniger abweisend, technizistisch und kalt; und schließlich sind sie interessant, denn die Fronten pflegen reich gegliedert zu sein, und die Architekten liebten es, mit mehr als einem Material zu arbeiten. Wahrscheinlich waren (und sind sie wohl noch) schlicht und ergreifend zu aufwendig, denn es ist selbstverständlich viel, viel billiger, Betonteile aufeinander zu stapeln, anstatt den Maurern und Zimmerleuten etwas kompliziertere Aufgaben zu stellen.

Aus Barths Beschreibung des 1922 errichteten, eher dem Backsteinexperessionismus zuzuordnenden »Borsigturms« wird deutlich, warum diese Architektur so interessant ist, aber auch, warum sie den Handwerkern viel Können abverlangt. Der Autor betont die »teils gotisierenden Formen« und spricht die Fassaden mit ihren »ungewöhnlichen Fensterbögen, Fassaden, Vor- und Rücksprüngen, angesetzten Treppenhäusern, der Vermeidung glatter Flächen durch versetzte Mauerung und Einfügung von Natursteinpartien« an – alles für den Planer wie für den Handwerker höchst anspruchsvolle, aber eben auch abwechslungsreiche Aufgaben. Wer sich heute solche Gebäude anschaut, der ist dankbar für die Fülle von Eindrücken, die sie von den glatten Fronten der heutigen Zeit unterscheidet.

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns