Buchrezensionen

Max Kunze, Konstantin Lappo-Danilevskij (Hrsg.): Antike und Klassizismus – Winckelmanns Erbe in Russland, Michael Imhof Verlag 2017

Im Jubiläumsjahr Winckelmanns wirft die Winckelmann Gesellschaft auch einen Blick auf die Rezeption des Vaters der Kunstgeschichte in Russland. Der Band versammelt Beiträge des gleichnamigen Kolloquiums, das 2015 in St. Petersburg stattfand. Ulrike Schuster hat ihn gelesen.

Die enge Verbindung zwischen Winckelmann und Russland mag, zumindest in unseren Breiten, nicht auf den ersten Blick geläufig sein. Doch genau um einem Manko wie diesem abzuhelfen, initiiert die Winckelmann-Gesellschaft in Stendal seit einigen Jahren internationale Kolloquien und Kongresse mit dem Ziel, die umfassende Wirkung und Rezeption Winckelmanns in der europäischen Wissenschafts- Kultur-, Kunst- und Bildungsgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu erforschen. Nach Symposien in Madrid und in Warschau nahm die internationale Tagung in St. Petersburg im Jahr 2015 eine herausragende Stellung ein. Die hochkarätigen Beiträge liegen nunmehr in einer zweisprachigen Publikation vor. In insgesamt 17 Aufsätzen folgen russische, deutsche und ein französischer Wissenschaftler den Spuren der Winckelmann-Rezeption in Russland.

Die Verbindungen sind vielfältig und komplex. In Russland setze die Bewunderung für das Erbe der Antike vergleichsweise spät ein. Im Unterschied zu den europäischen Ländern, wo die antike Tradition praktisch nie völlig unterbrochen war, mussten russische Kunstliebhaber und Intellektuelle die Kultur der Alten erst für sich entdecken. Die ersten Antiken gelangten am Anfang des 18. Jahrhunderts, zur Zeit von Peter dem Großen ins Land. Von einem Beginn des systematischen Sammelns klassischer Skulpturen kann erst etwa ein halbes Jahrhundert später die Rede sein. Doch umso leidenschaftlicher entwickelte sich in der Folge die Begeisterung für die alten Griechen und deren Entdecker. Das Echo auf Winckelmann war enorm, »tiefgreifend und lang anhaltend, länger als in den meisten europäischen Ländern« (Anna Alekseevna Trofimova, S.89ff).

Auf die Schriften des deutschen Gelehrten wurde man im Zarenreich bereits zu dessen Lebzeiten aufmerksam und sie fielen in einer Zeit des Umbruchs auf fruchtbaren Boden (Konstantin Lappo-Danilevskij, S.14f). Im Zuge einer Neuorientierung abseits der traditionellen altrussischen Ikonenkunst boten Winckelmanns Anschauungen ein neues ästhetisches Ideal. Die meisten Russen erfuhren von seinen Publikationen übrigens über den Umweg der französischen Übersetzungen, die man, der zeitgenössischen Praxis gemäß, gerne auch auszugsweise, ohne Nennung ihres Urhebers in Zeitschriften und Revuen abdruckte. Dort las das interessierte Publikum auch die frühesten Berichte über die Ausgrabungen in Herculaneum, die ebenfalls stark unter dem Einfluss Winckelmanns standen. Schließlich gingen die Winckelmannschen Kunstbetrachtungen, seine ästhetischen Ideale und seine bevorzugten Kunstwerke wie selbstverständlich in die zeitgenössische Reiseführerliteratur ein. Diese letzteren übten damit einen nachhaltigen Einfluss auf Generationen von Bildungsreisenden aus, die nun auf ihrem Weg nach Rom eine Zwischenstation in Dresden einlegten.

Zu den großen Förderinnen Winckelmanns zählte Katharina die Große. Über die Vermittlung ihres berühmten Briefpartners Friedrich Melchior Grimm übernahm sie die symbolische Patronanz für die französische Übersetzung der »Geschichte der Kunst des Alterthums« und ihr Name stand an der Spitze der Abonnentenliste. Es folgten die Verleihung einer Medaille für den Übersetzter Michael Huber und schließlich Ankäufe – sowohl von Buchexemplaren für ihre Bibliothek, als auch von antiken Sammelobjekten. Mit ihren eigenen ambitionierten Bauprojekten legte Katharina den Grundstock für die weltberühmte Antiken-Sammlung der Eremitage. Bei aller Bewunderung für antike Kunst und Skulptur, verfolgte die Zarin jedoch durchaus handfeste politische Ambitionen, in deren Zentrum das Ziel einer Zurückeroberung der Küste Kleinasiens und Konstantinopels stand. Die Vorstellung eines wiederhergestellten »griechischen Reichs« stand im Raum, mit einer orthodoxen Metropole am Bosporus, einem Widerpart zum katholischen Rom. Damit sollte eine künstlerische und kulturelle Erneuerung verbunden sein – inspiriert paradoxerweise aus dem Formengut einer griechischen Klassik, die man zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich über die Vermittlung von römischen Kopien kannte.

Die große Periode der Antikenrezeption – in dieser Phase war sie praktisch gleichbedeutend mit der Rezeption der Schriften Winckelmanns – setzte jedoch unter Katharinas Nachfolgern um 1800 ein. Die Implikationen wurden vielfältig, denn der Geist der Griechen beeinflusste Kunst und Skulptur, Architektur und Städtebau, aber auch die Philosophie und die Literatur im erwachenden Russischen Reich. Dem entsprechend breit gefächert ist das Spektrum der Aufsätze. Sie behandeln zudem die diplomatische Kunst der Antikeneinkäufe an der Wende zum 19. Jahrhundert, die gleichfalls recht anspruchsvolle Beschaffung von Gipskopien berühmter Statuen zu Studienzwecken oder die Anfänge des Universitätswesens in St. Petersburg.

Ihren Höhepunkt erreichte die »Ära Winckelmann« schließlich um 1851/52 mit dem Bau der Neuen Eremitage. Für diesen Erweiterungsbau der Sammlungsbestände zeichnete wiederum ein Deutscher verantwortlich, nämlich Leo von Klenze. Da die von ihm entworfenen Museumssäle – anders als die Glypthothek in München – von den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges verschont blieben, bestechen sie heute noch durch ihr authentisches polychromes Interieur, dessen Farbtöne ebenso wie Fußböden und Deckenausstattung von Saal zu Saal variieren. Damit wird der Blick in die St. Petersburger Antikensammlung zugleich zum Gang durch die Frühgeschichte des europäischen Museums – was kein Zufall ist, denn bis heute beherrschen die Ideale des Klassizismus die Auswahl und Anordnung der Skulpturen, den künstlerischen Stil der Ausstellung und sogar die Restaurierungspraxis.

Die Beiträge geben tiefe Einblicke in das rege Geistesleben der klassizistischen Epoche. Nur ein kleines Manko ist an dieser Stelle anzubringen: eine stringentere thematische Gruppierung der Texte hätte dem Sammelband gut getan. Winckelmanns Erbe, so scheint es, hat sich in Russland besser konserviert als anderswo. Die Spuren, die er bis zum heutigen Tag in Russland hinterlassen hat, sind auf jeden Fall eine Auseinandersetzung wert.

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