Ausstellungsbesprechungen

Max Peter Näher – Malerei / Voré – Skulpturale Installationen

Max Peter Näher und Voré lassen sich beide, gewollt oder ungewollt, auf die Phänomene der Erinnerung und des Gedächtnisses ein. Für Voré scheint es mir ein zentrales Anliegen innerhalb der Arbeit am Mythos zu sein, wobei er in einer langen humanistischen Tradition steht und insbesondere Gedanken aufgreift, die in der deutschen Romantik wurzeln. Max Peter Näher macht die Erinnerungskultur nicht explizit zum Beweggrund, es ist vielmehr der Betrachter, den über Nähers Malerei regelrecht die Erinnerung einholt.

Der Maler Näher erfasst im Hier und Jetzt Momente, die eine reflexartige Sichtweise auf die Vergangenheit zulassen, welche erst die Erlebnisse der Gegenwart erhellen, während der Bildhauer Voré vergangene Situationen fingiert, die einen veränderten Blick auf die eigene Zeit generiert. Gewähren Sie mir einige Augenblicke, um diese Gedanken zu entknoten.

Max Peter Näher ist auf den ersten Blick ein figurativer Maler – und er ist zugleich auf einer anderen Ebene abstrakter Expressionist. Immer wieder begegnen wir in seinem Werk ausgesprochenen Außen- und Innenräumen, mit einer erklecklichen Anzahl anonymer Passanten, Büroleute, Aktentaschenträger, Lebenskünstler: Alle haben ihre Geschichte – die sie uns nicht auf die Nase binden –, aber kaum welche haben Gesichter. Nehmen wir eine Straßenszene mit einer Art Eiscafé – am Tisch ein Paar, verdachtsweise Mann und Frau, im Vordergrund geht ein Mann im dünnen Mantel, mit Hut nach vorne aus dem Bild, hastig scheint sein Schritt zu sein. Und das macht sogleich stutzig: Die Beine sind gar nicht zu sehen, der Mantel entzieht sich abwärts seiner eigenen Materialität, die Frage drängt sich auf: Geht da überhaupt jemand auf uns zu. Wir kennen das sicher alle: Wie aus dem Nichts tauchen Menschen auf und wieder unter, sind weg, noch bevor wir sie im Sinn zu fleischlichen Wesen gemacht haben. Das Faszinierende ist in diesen flüchtigen Augenblicken, dass unsere Assoziationen aus einem ganzen Fundus schöpfen, der real den bloßen Sinnesreiz übersteigt.

»Einer Vorübergehenden« übertitelte Charles Baudelaire eines seiner bekanntesten Gedichte aus seinen „Blumen des Bösen“. Zur szenischen Aneignung vergegenwärtige man sich eine der sich fliehenden Personenkonstellationen.

»Es tost betäubend in der strassen raum.
Gross schmal in tiefer trauer majestätisch
Erschien ein weib · ihr finger gravitätisch
Erhob und wiegte kleidbesatz und saum.

Beschwingt und hehr mit einer statue knie.
Ich las · die hände ballend wie im wahne
Aus ihrem auge (heimat der orkane):
Mit anmut bannt mit liebe tötet sie

Ein strahl ... dann nacht! o schöne wesenheit
Die mich mit EINEM blicke neu geboren
Kommst du erst wieder in der ewigkeit?

Verändert · fern · zu spät · auf stets verloren!
Du bist mir fremd · ich ward dir nie genannt
Dich hätte ich geliebt · dich die's erkannt.«

A une passante, an eine die vorübergeht. Die Straße lärmt, der Gedankenstrom wird kurz auf ein Auge gelenkt, ein Strahl, dann Nacht, Nichts. Ein Déjà-vu-Erlebnis, das im Lexikon umschrieben ist als »Erleben einer neuen Situation mit dem täuschenden Gefühl, sie bereits zu kennen«.

Das Personal im Werk Max Peter Nähers besteht aus derartigen Begegnungen, mal blitzt ein porträthafter Zug auf, in diesem Fall aber meist nur im Antlitz einer büstenhaften Erscheinung greifbar, dann gibt es – wie oben beschrieben – entpersönlichte Wesen, die sich gerade mal über die Andeutung von Kleidung definieren, oder modellhafte Statuen im bunten Treiben der Stadt, oder es drängen sich Bilder aus Prospekten und ausnahmsweise Yellow-Press-Blättern auf, die wir allenfalls zufällig erkennen.

Das ist es, was ich meinte, dass unsere Erinnerung an Bekanntes im Nicht-Konkreten, ja im Nicht-Vorhandenen ein quasi-reales Vollbild erstellt. Und Näher kennt seine Pappenheimer, die jenen Mann auch noch salopp gesagt für voll nehmen, obwohl sein Unterleib ins Nichts entschwindet. Auf anderen Gemälden glaubt man ganz folgerichtige Licht- und Schattenverhältnisse auszumachen – vergleichbar der Logik impressionistischer Bilder (die Näher in der Tat sehr schätzt). Doch dann treten in den selben Szenen Personen und Gegenstände dagegen an, deren Schatten gar nicht daran denken, den Gesetzen der Natur zu folgen. Es kommt auch mal vor, dass sich in einem Büroraum plötzlich jemand von der Decke abseilt, vielleicht eine kleine inhaltliche Verbeugungen vor dem Lehrer Herbert Kitzel und seiner Gauklerwelt, vielleicht auch ein Nachhall aus der noch postsurrealistischen Phase Nähers aus den 1980er Jahren.

Ich behaupte nun, diese gestreuten Irritationen beflügeln unseren angeborenen Hang zum Ergänzen, wozu es freilich auch der Erinnerung bedarf, die uns die Angebote macht, die Bilder zu sehen, die wir sehen wollen. Andrerseits schickt uns Max Peter Näher auf eine Abenteuerreise durch erfundene Räume, die er malerisch torpediert. Ich sagte bereits, der Maler ließe sich aller Figuration zum Trotz auch als abstrakter Expressionist bezeichnen, zumal er ohne Entwurf arbeitet. Nähern wir uns daher pro forma den Arbeiten an, löst sich mehr und mehr der Gegenstand auf und wird zur reinen Peinture: In kühnen, aufgewühlten Farbfantasien, die sich symphonisch, zuweilen auch mal nur atonal-rhythmisch geben, bringt er die Leinwand zum Vibrieren, zum Beben. Und so ergibt sich auch durchaus hier und da eine Zusammenballung zum Figürlichen hin, was aber kaum etwas anderes als ein Farbenspiel ist. Ausdrücklich geht es Näher darum, eine Farbkomposition vorzulegen, die vermeintlich gegenständliche und ungegenständliche Elemente in Einklang bringt. »Vermeintlich« meint hier, dass es ungeachtet mancher Motive primär um Farbe auf Leinwand geht: Der Mensch wird zum Zufallsrelikt einer abstrakten Ordnung.

Glücklicherweise haben wir die Zeiten überwunden, wo sich ein tiefer Graben zwischen gegenständlichen und ungegenständlichen Positionen in der Kunst hindurch zog. Das Werk von Max Peter Näher macht deutlich, welchen ästhetischen Gewinn deren Vereinigung mit sich bringt. So besteht der Reiz seiner Kunst unter anderem darin, die Blickwinkel innerhalb eines Bildes wechseln zu können: Und wie in einem Déjà-vu-Erlebnis etwas konkret aufscheint, was im nächsten Augenblick auch schon wieder verschwunden ist, so baut sich in Nähers Werk im abstrakten Farbrhythmus Raum und Figur auf, um im nächsten Moment wieder in vermeintlich gestische, oftmals pastos sich aufwerfende und dann wieder zeichnerisch sparsame Malerei überzugehen. Denn es ist klar, dass dies nicht in einem wilden Automatismus zu schaffen, sondern Ergebnis eines langen Arbeitsprozesses ist.

Dies macht mir einen Übergang leicht zum zweiten Künstler unsrer Ausstellung. Hier möchte man fast in Abwandlung eines gängigen Bonmots sagen: Der Prozess, das heißt der Weg ist das Ziel. Näher präsentiert den Menschen, der im Kunstwerk sich letztlich aufhebt. Vorés Arbeiten sind menschenleer, doch wie sich zeigen wird, ist gerade der Mensch in seinem Werk allgegenwärtig. Das mag manchem befremdlich erscheinen, denn diese Kunst begibt sich in die staubgraue Zone zwischen Schutthalde auf der einen Seite, und Baustelle oder archäologische Grabungsstätte auf der anderen Seite. Das Steinmaterial könnte als Abraum durchgehen, wenn da nicht die offensichtlichen Fragmente bildhauerischer Eingriffe wären. Es liegt auf der Hand, dass es Voré nicht darum geht, hehre Kunst von edler Einfalt und stiller Größe zu schaffen. Die Spuren grober Eingriffe sollen sichtbar bleiben – kurzum: Menschenwerk, und zwar gegen jenes Winckelmannsche Diktum nicht als Garant geruhsamer Dauer, sondern als Indiz für Neuaufbau und Auf-Bruch in seinem eigentlichen Wortsinn genauso wie für Zerstörung und Niedergang. »baustelle«, »barrikade«, »labyrinth« oder »monument für a.« nennt Voré seine Installationen, die Assoziationsketten zulassen im Hinblick auf die Arbeitswelt, auf politische Aktionen, auf memoriale Kultur wie auf mythische Bilder. Die Eislinger Arbeit nennt er »Wegstrecke E«. Wir erinnern uns: Der Weg ist das Ziel. Doch das wäre Voré zu banal und entspricht keineswegs den tatsächlichen komplexen Zeitläuften. Seine Welt liegt in Trümmern, schauen Sie sich diese Wegstrecke an: im günstigsten Fall ist sie im Werden – oder ist sie dahin? Voré beschrieb seine Arbeit einmal so, dass sie von Dingen handle, »die ins rollen kommen. sollten«. Das durch einen Punkt abgetrennte Modalverb rückt die Forderung in wünschenswerte Ferne. Dazu erinnere ich an einen Aphorismus Franz Kafkas, der die moderne Welt so glasklar in Worte fassen konnte: »Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern.« Es mag sein, dass Vorés Begriff des Prozesses optimistischer, handlungsbetonter ist, aber es dürfte doch deutlich sein, dass es sprerrig zugeht auf seiner Wegstrecke. Was uns als beliebige Reihung von Steinen, Gestänge und Stahl begegnet, beruht auf einem klaren Plan – als ginge es um eine Rekonstruktion, deren Anordnung verinnerlicht werden kann, um später zum Gegenstand des Wiedererinnerns zu werden.
 
Sie ahnen es, dass ich auf dem Weg zum Menschen hin bin, schließlich sind diese Steine kein Selbstzweck. Der Bildhauer bevorzugt übrigens den im Münsterländischen beheimateten, fast hautfarbenen Baumberger Sandstein, der als Referenz an den menschlichen Körper zu werten ist. Eindeutig sind Gliedmaßen zu erkennen, weniger eindeutig könnte man hier und da – erlauben Sie mir den Ausdruck – organisches Material erkennen, etwa Knochenfragmente, überhaupt Fragmente jedweder Art, die als Pars pro toto an Teile von Statuen, aber auch an ruinöses Stückwerk von Bauten – lassen wir es Tempel sein und den Gedanken gleich weitergehen: Vielleicht hat unsre Wegstrecke in diesem Kontext und im Nachklang des Prozess-Begriffs auch mit der musealen Aufbereitung eines antiken oder archaischen Prozessionswegs zu tun. Die Stahl-Elemente erheben die Fragmente menschlicher Hinterlassenschaften oder auch gedachter Versteinerungen und Spolien zu Einzelobjekten. Die Bezeichnungen: »Teilstück ›grabung‹«, »A_tech 06«, »Torso T_R-05« oder »Arm AmHD 08« und so weiter erinnern an Archivierungs-Siglen, die allein schon Bedeutung signalisieren. Lassen wir uns da nicht vom aufgeschütteten Charakter täuschen.
 
Längst sind wir mitten drin in der kollektiven Gedächtniskultur. »Meine Bilder sind klüger als ich«, stellte der Maler Gerhard Richter einmal fest. Kunst ist nie bloß ein Abbild der Realität, sondern ein Experimentierfeld für Intention und Assoziation seitens des Künstlers wie des Betrachters, wobei das Kunstwerk sich durchaus verselbständigt, denn – das weiß schon der Volksmund – die Gedanken sind frei. Voré erweist sich hier als Nachfahre der Romantik. Ihre Protagonisten bedienten sich dabei der sprichwörtlich gewordenen Ironie, die auch in Vorés Werk überdeutlich vorhanden ist. Nicht ohne Witz macht er den antiken Mythos zum Steinbruch respektive zur Baustelle. Nehmen wir hier als Beispiel diese Wegstrecke, deren einziger gangbarer Weg quer über die Bodenplatte führt – und was tun wir auf dem Weg von der einen Seite auf die andere: Wir gehen außen herum.
 
Kongenial greift der Bildhauer das Spiel auf. Im Bewusstsein einer vergangenen Welt bleibt nur die lustvolle Rekonstruktion im Fragment, das heißt, im offenen Projekt. Und mit der Erkenntnis Gerhard Richters distanziert sich Voré auch von seinen Arbeiten, indem er sie wie artifizielle Fundstücke ausstellt, artifiziell in dem Sinn, dass die markanten Meißel- und Zahneisen-»Gravuren« im Stein wie Sichtmarken auf die Arbeit an der Skulptur verweisen. Wer das Werk Voré kennt, weiß, dass er sich gelegentlich auch mehrerer Medien wie der Musik, dem Tanz und des Videos bedient, die auf die Synästhetisierung in der Romantik und deren Idee vom Gesamtkunstwerk verweisen.
(…) Die Anglistin, Ägyptologin und Gedächtnisforscherin Aleida Assmann hat sich vor wenigen Jahren besorgt darüber geäußert, dass mit der gegenwärtigen Digitalisierung beziehungsweise »Informatisierung« von materiellen Artefakten »weit mehr als nur eine geheimnisvolle Aura« verloren gehen könnte, mit ihr, so Assmann, »verschwinden Realität, Geschichte und Gedächtnis«. In ihrer memorialen Arbeit gehen Voré und Näher unterschiedliche Wege: Max Peter Näher unterläuft in der gestisch-abstrakten Unschärfe seiner figurativen Darstellung eine potentielle Verflachung der Welt durch ihre Informatisierung. Voré überzeichnet eine solche Informatisierung in seinen Installationen durch die Fiktion einer exakt kalkulierten Anordnung von temporär beziehungsreichen Versatzstücken. So bleiben dank der Kunst sowohl die geheimnisvolle Aura wie auch die Koordinaten von Realität, Geschichte und Gedächtnis bewahrt. Und das scheint nicht wenig zu sein in einer Zeit, die vor lauter globaler Vernetzung in der Breite vergisst, dass auch die Zukunft sich aus der Vergangenheit speist, und auch nicht wenig in einer Zeit, in der ein Second Life drauf und dran ist, das eigentliche Leben in der Versenkung verschwinden zu lassen.
 
(Aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung)

Öffnungszeiten
Dienstag bis Samstag 16–18
Sonntag 14–18 Uhr

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns