Rezensionen

Michael Krüger über Gemälde von Giovanni Segantini. Schirmer/Mosel

Michael Krüger muss man im deutschen Kulturbetrieb nicht vorstellen. Dazu war der Romancier und Lyriker, der Herausgeber von Literaturzeitschriften, Präsident der Bayerischen Akademie der Künste, Lektor, Übersetzer und ehemalige Verleger jahrzehntelang zu rührig und omnipräsent. Nun, im Alter, bekennt er sich mit souveräner Gelassenheit zu seinem Lieblingsmaler Giovanni Segantini (1858-1899). Das ist für jemanden, der mit Adorno im Theoriegepäck alles allzu Schöne lange unter generellen Ideologieverdacht zu stellen gewohnt war, eher ungewöhnlich. Doch die Art, wie hier Kenntnisreichtum, reflektierte Subjektivität, das Bewusstsein von Vergänglichkeit und vor allem ein Sinn für Poesie das Leben und Werk des Hochgebirgsmalers aus dem Engadin neu zu erschließen vermögen, war für unseren Rezensenten Walter Kayser offensichtlich eine große Freude.

cover © Schirmer/Mosel
cover © Schirmer/Mosel

Beginnen wir mit dem Ende. Ganz am Schluss (nicht etwa in den letzten Sätzen des Vorworts) steht neben der Danksagung die Widmung des Autors. Sie richtet sich an Tote. Er nennt die Namen der vielen Freunde, die mit ihm, dem Angezählten, noch unlängst vor den Gemälden Giovanni Segantinis standen und ihre Eindrücke austauschten. Das ist persönlich und anrührend wie das ganze Buch. Und es ist bezeichnend für Michael Krügers Stil in diesem Buch: ein elegischer Ton, eine Art Abgesang, etwas von Gottfried Benns »Sela, Psalmenende«. Manchmal auch mit unprätentiöser Nonchalance und ungehemmt ironisch, voller subjektiver Direktheit und der produktiven Kraft des poetischen Querdenkens (gepaart mit einer Klugheit, die nichts gemein hat mit den obskuranten »Spaziergängern«, die dieses Wort für sich zu okkupieren versuchen).
Und dann das vorletzte Kapitel. Es schlägt den Bogen zu Segantini von einem anderen Säulenheiligen des Verlagshauses Schirmer/Mosel zurück. Michael Krüger imaginiert, wie sich ausgerechnet Joseph Beuys, der Flachländer aus den niederrheinischen Auen, in die zugige Berghütte auf dem »Schafberg« oberhalb von Pontresina in fast 3000 Metern Höhe verirrt und sich in einem nächtlichen Gespräch mit Segantini blendend verstanden hätte. Beide Künstler verbindet mehr als der weite Mantel der Schamanen. Beide strotzen zu ihrer Zeit von prophetischem Sendungsbewusstsein. Beide sind visionäre Kritiker der Naturzerstörung, eines verengten Rationalismus und einer zivilisatorischen Fehlentwicklung. 1970/71 bezog sich Joseph Beuys mit seiner vieldeutigen Rauminstallation eindeutig auf die überlieferten letzten Worte Giovanni Segantinis. In der Berghütte auf 3000 Metern Höhe soll er gesagt haben: »Voglio vedere i mie montagne« (»Ich möchte meine Gebirge sehen«). Ein einfaches, hölzernes Totenbett, eine kreisrunde Lichtquelle, die zu Boden gesunken ist, ein Gewehr, das in einen offenen, halbrunden Horizont weist. Auch das eine Auseinandersetzung mit dem Tod.

Michael Krüger muss man, wie gesagt, längst nicht mehr vorstellen. Mehr denn je ist er, der leidenschaftliche Propagandist der Poesie, vor allem Lyriker. Natürlich hat ein Bücherwurm wie Krüger auch alles zum Thema Segantini gelesen; und er zitiert auch ellenlang. Dennoch erfrischt die vor allem methodologische Unbekümmertheit dieses Buches. Sie lässt erst gar keine akademische Langweile aufkommen. Im Gegenteil, die alles durchziehende Subjektivität und Direktheit spricht unmittelbar an, verdankt sie sich doch einer mehr als fünfzigjährigen Liebe zu den Werken dieses Malers, und diese wiederum speist sich aus genauem, eigensinnigem Hinsehen und letztlich aus Quellen, die dem sehr reflektiertem Verfasser unklar sind, denen er aber zusammen mit dem Leser nachgräbt. Denn für einen »Alt-Achtundsechziger« wie Krüger war es mehr als verwunderlich, dass ihn dieser Maler mit seiner einseitigen Vorliebe für das einfache Leben im Hochgebirge des Oberengadin schon immer fesselte. Wo liegt die »gesellschaftliche Relevanz« von Kühen, Schafen und Bauernmädchen am Brunnen? Wo wird hier, einem Dictum Adornos folgend, »Natur als Geschichte und Geschichte als Natur« verstanden? Müsste des Künstlers Tendenz zum Eskapismus auf die Hochebenen einer enthobenen Welt nicht dringend unter »Ideologieverdacht« gesetzt werden? Darf überhaupt die Schönheit noch beschworen werden in einer heillosen Moderne? Wurde nicht zu lange und zu oft das Werk dieses Gebirgsmalers als allzu realistische Verkitschung einer bäuerlichen Idylle, ja, als »Heimatkunst« in »Blut und Boden«-Manier abgetan?

cover © Schirmer/Mosel
cover © Schirmer/Mosel

Derlei Fragen bringen den Dichter in einer bewundernswerten Leichtigkeit zum klugen Nachdenken. Genaues Hin- und In-sich-Hineinschauen verleiten zu spekulativen Gedankenfluchten in erlebter Rede. Gerade dadurch wird die Konfrontation mit einem Œuvre (das man keineswegs in allen Teilen lieben muss) zu einem anregenden Leseabenteuer. Und wenn es stimmt, dass die Musik da beginnt, wo Worte enden, so eröffnen etwa die eingefügten Verse eines Robert Walser oder Hölderlins »Mnemosyne« einen erhellenderen Zugang als manche analytische Erklärung. In immer neuen Ansätzen nähert sich Krüger seinem Lieblingsmaler in konzentrischen Kreisen. 39 Hauptwerke werden so vorgestellt und – ganz nebenbei- eine seit langem entbehrte Segantini-Monographie. Leider wird die Wiedergabequalität der Abbildungen nicht annähernd den Gemälden gerecht. Aber wie könnte das auch sein bei lichtdurchfluteten Leinwänden, die schließlich eine Breite von drei, vier Metern erreichen?

Liest man auch nur den »Wikipedia«-Eintrag zu dem größten Hochgebirgsmaler des ausgehenden 19. Jahrhunderts, so wird einem schnell bewusst, dass dessen Kindheits- und Jugendjahre so grauenhaft überschattet waren, dass jeder Schriftsteller daraus einen herzzerreißenden psychologischen Roman im Stile eines Charles Dickens machen müsste: 1858 als »Welschtiroler« in armen Verhältnissen geboren. Der ältere Bruder bei einem Brand ums Leben gekommen. Nachdem die Mutter mit 26 Jahren starb, wusste sich der alkoholkranke Vater nicht anders zu helfen, als den ungeliebten Sohn einer Tochter aus erster Ehe in Obhut zu übergeben. Doch diese veranlasste umgehend, dem widerspenstigen Mitesser die österreichische Staatsbürgerschaft zu entziehen und damit im Dreiländereck von Italien, Schweiz und Habsburg-Österreich der rechtlichen Schutzlosigkeit preiszugeben. Ohne Lesen und Schreiben zu lernen, begann eine alles andere als aussichtsreiche Karriere als Ausreißer und renitenter Gelegenheitsarbeiter, die ihn zunächst in Erziehungsanstalten führte, dann zum Gehilfen eines Schusters und Mailänder Malers von Wirtshausschildern und Heiligenfahnen machte. Obgleich sein Talent erkannt und gefördert und vor allem sein frühes Werk »Das Chorgestühl von San Antonio« (1879, Galleria d'Italia, Mailand) wegen der Behandlung des Lichts gefeiert wurde, verließ er nach bereits zwei Jahren wegen Intrigen und Meinungsverschiedenheiten die Mailänder Brera-Akademie. Er blieb eigenwillig – und mit ebensolcher Sturheit seinen einfachen bäuerlichen Sujets und vor allem der Engadiner Gebirgswelt treu.

cover © Schirmer/Mosel
cover © Schirmer/Mosel

Doch statt bereitwillig die biografischen Daten als Einladung zu einem Dickens-Roman zu nehmen, bleibt sich auch Michael Krüger treu und berührt die Vorgeschichte des Malers nur en passant. Auch den heute besonders reizvollen, spektakulären Nachwirkungen der Kindheitstraumata, jenen nach wie vor verstörenden Gemälden von den »bösen Müttern«, widmet er keine ausufernde Betrachtung. Ein kurzer Verweis auf den für ihn offensichtlich zu spekulativen Aufsatz des Freud-Schülers Karl Abraham von 1911 – das war's. Sie, diese Frauen, die sich mit ihren aufgelösten langen Haaren in den Ästen der knorrigen Bäume verfangen haben und geisterhaft über den weiten Schneefeldern schweben, - halb griechische Dryaden, halb Wolframs Sigune, halb Madonnen, halb an den Pranger gestellte »gefallenene« Sünderinnen, bleiben die rätselhaftesten Bilderfindungen, selbst wenn sie sich mit Märchenmotiven aus den Bergell-Tälern in Verbindung bringen lassen.

Viel lieber spinnt Michael Krüger Segantinis Bilder in poetische Zusammenhänge ein. In der Mitte des Buches schlüpft er unter dem Titel »Die Erzählung der Magd« über sechs Kapitel in das rollenbiografische Ich von Barbara Uffer. Die einfache Bauerntochter wurde zu Segantinis bevorzugtem Modell (und später zur treuen Haushilfe in dessen großer Familie). Barbara Uffer war in ihrem blauen Kleid die trinkende Bündnerin am Brunnen von 1887, das Strickende Mädchen von 1888, die Schafhirtin unter strahlend blauem Himmel in Mittag in den Alpen von 1891. Sie war auch die auf dem Bauch liegende Träumende in Ruhe im Schatten aus dem Jahre 1892: Krüger dreht es kurzerhand so, dass ihr, nicht dem Maler selbst, die »bösen Mütter« und »Wollüstigen« als Traumbilder und Erinnerungen an Märchenfiguren aus der Brianza erscheinen. In ihren Augen, das heißt in naiver, entlarvender Offenheit und ironischer Verfremdung, wird das Gehabe der Herren gespiegelt, die mit Kutschen aus den großen Städten im Tal heraufkommen, merkwürdige Utensilien in ihre immer gleiche Bergwelt hinaufbringen, große, unverständliche Reden schwingen und für ein paar Taler bei der Mutter Logis nehmen. Wie diese Herren begeistert ins Schwärmen geraten über die Harmonie der Natur und das einfache Leben jenseits der Baumgrenze erscheint ihr verdächtig. Schließlich ist es ja auch ihre ganze Lebenswelt.

Giovanni Segantinis Malerei stilistisch einzuordnen ist nicht leicht. Ist er ein Realist, ein Hyperrealist, - oder doch ein Symbolist, der das vordergründige Sujet zur hintergründigen Daseinsmetapher auflädt? Unzweifelhaft hat er, hält man sich nur die Panorama-Pläne für die Pariser Weltausstellung vor Augen, auch einiges von der Megalomanie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Auch als Pleinair-Maler stand Segantini nicht allein. Das Vorhaben, nach dem Impressionismus und der neuen Technik der Fotografie (jenes wortwörtlichen »Malens mit Licht«), noch einmal ganz neu damit zu beginnen, das Licht auf der Leinwand einfangen zu wollen, beschäftigte in verschiedenen Ländern zeitgleich verschiedene Künstler. Begriffe wie »Pointillismus« und »Luminismus« sind in diesem Zusammenhang geprägt worden. Doch anders als ein Seurat oder Signac, die systematisch nur Primärfarben als Kleckse nebeneinandersetzten, damit sich diese dann mit wissenschaftlicher Folgerichtigkeit auf der Netzhaut des Betrachters zu Mischtönen verbänden, ging es Segantini in seinen »lichtgeladenen Triften« um mehr. Er sprach vom »heiligen Schweigen« und »der Unermesslichkeit des blauen Weltenraums« und wollte nicht weniger als jenes pantheistische Allgefühl der Verschmelzung von Seele und Kosmos auf seine immer größeren Leinwände bannen.

cover © Schirmer/Mosel
cover © Schirmer/Mosel

Kompositionell erinnern seine Bergwelten an die Ferdinand Hodlers wenig später. Beide konnten der erhabenen Größe senkrechten Felswände im ewigen Schnee und ihrem tiefen Frieden nur mit ruhenden Waagerechten in luziden Farben gerecht werden. Lichtbehandlung gehört seit jeher zu jenen Parametern einer Bildanalyse, die besonders wichtig und schwer zu fassen ist. Da ist von »Schlaglicht« und »Streiflicht« die Rede, vom reflektierenden »Widerschein« verdeckter oder diffuser Lichtquellen, von »Streu-« und letzten »Glanzlichtern«. Für Segantini jedoch war das gleißende, dunstlose Firnlicht der klaren Hochgebirgsluft, welches die Farben jedes Grashalms und vor allem des Schnees besonders scharf und leuchtend hervortreten lässt, letztlich das zentrale Medium seiner säkularen religiösen Visionen. In dicken, pastosen »Verflechtungen« des Farbauftrags versucht er ihm aufwändig nahezukommen. Nicht nur der »hohe Mittag« von Nietzsches »Übermenschen« Zarathustra, mit dem Segantini mehr als die räumliche und zeitliche Nähe verbindet, nein, jeder Sonnenstand im Tageslauf wurde für ihn immer mehr zur Allegorie des ganzen Daseins. Die schlichten Motive bleiben dieselben: Hirte und Kuh, der Weg in den Stall, die kreatürliche Gemeinsamkeit von Mensch und Tier, das wechselnde Licht und der Kreislauf von Werden und Vergehen vor der bleibenden Kulisse der unverrückbar mächtigen Gebirgskulisse; aber die Enthobenheit des landschaftlichen Raums als »nunc stans« im Sinne einer zeitlichen und räumlichen Ewigkeit wird mehr und mehr zur Bühne eines Lebensverständnisses, das alles umfassen will. Das zeigt insbesondere das große Triptychon im Segantini-Museum in St, Moritz, über dessen Vollendung der Künstler nach kurzer Krankheit starb: »Werden/Das Leben«, »Sein/Die Natur« und »Vergehen/Der Tod«. Das hört sich ganz an wie ein letztes Spätwerk. Dabei war der Maler voller Pläne und gerade einmal 41 Jahre alt.

Michael Krüger über Gemälde von Segantini
Verlag Schirmer/Mosel
München 2022
208 Seiten, 47 Farbtafeln
Format: 18,5 x 26 cm, gebunden
38,00 €
ISBN 978-3-8296-0951

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns