Buchrezensionen, Rezensionen

Michel Frizot/Annie-Laure Wanaverbecq: André Kertész, Hatje Cantz 2010

Mit seinen sehr persönlichen Aufnahmen gelang es dem ungarischen Fotografen André Kertész (1894–1985), die flüchtigen, emotionalen Momente in seiner Umgebung gekonnt einzufangen. Seine Arbeiten hatten einen großen Einfluss auf die künstlerische Fotografie in der Mitte des 20. Jahrhunderts und auf Künstler wie Henri Cartier-Bresson, Robert Capa und Brassaï. Walter Kayser hat sich mit diesem herausragenden Künstler beschäftigt.

Es gibt Fotografien, die wir bewundern, weil sie wie mit überirdischem Licht gemalt sind. Oder weil die Komposition ein derart stimmiges Auge verrät, dass man auf den Millimeter genau nachmessen möchte, wie die verblüffenden Proportionsverhältnisse sind. Aber es gibt auch Fotografien, die uns mehr als die meisten Gemälde mit einer bestürzenden Gegenwärtigkeit direkt ins Herz fassen und einen Eindruck von der Vergänglichkeit des Augenblicks und der knapp gesetzten Lebensfrist geben.

In seinem wunderbaren Essay über die Fotografie, der erst posthum nach seinem Unfalltod 1980 unter dem Titel »Die helle Kammer« erschienen ist, nähert sich der französische Strukturalist Roland Barthes solcher Wirkung bestimmter Fotografien auf sehr subjektive und sehr subtile Weise. Er spürt dem nach, was er »punctum« nennt, ein erregendes Detail, an welchem das Auge hängen bleibt, weil es dem Weggleiten der Zeit standhalten kann. Barthes beschreibt die Fotografie als »willkommene Vollstreckerin der längst tief latenten Wünsche«, mithin als etwas, das nicht in den Kategorien der technischen Intentionalität und Ästhetikgeschichte zu fassen ist. Vielmehr entstehe diese »Kunst der Unterwerfung« erst durch das Gefühl des Betrachters. Auslöser für Barthes’ Reflexionen über Tod, Zeit und Vergangenheit war wohl nicht von ungefähr ein wieder gefundenes Foto seiner toten Mutter. – Ist es da ein Zufall, dass Barthes in seinem Buch auf keinen Fotografen so häufig eingeht wie ausgerechnet auf jenen gebürtigen Ungarn Andor, respektive André Kertész?

Mit über 300 Fotos ist die momentan im Pariser Jeu de Paume gezeigte Werkschau die erste wirkliche Retrospektive des gesamten Œuvres in Europa. Sie wurde anlässlich des 25. Todestages sorgfältig vorbereitet und wird noch bis zum 6. Februar 2011 zu sehen sein. Danach geht sie in das immer gewichtiger werdende Fotomuseum in Winterthur und in den Martin-Gropius-Bau Berlin.

Budapest (1914–1925), Paris (1925–1936) und schließlich New York (1936–1985) sind die Stationen eines reichen Lebens, das wechselnde Werkgruppen umfasst: frühe Porträts, Kriegsfotos, Kinder, symbolische Stillleben und Interieurs, Städtebilder von Paris, und immer wieder ein Blick für das scheinbar Unscheinbare: Schornsteine, Wolken, Schatten, abstrakte Flächen, die durch Schnee oder nasses Pflaster entstehen. Breit wird dokumentiert, wie sehr Kertész durch die Mitarbeit an verschiedenen europäischen Zeitschriften ( „Vu“, „London Times“, an der „Berliner Illustrierten“ oder „Frankfurter Illustrierten“) Ende der 20er Jahre das Genre der Fotoreportage mitkreiert hat. Der Flaneur Kertész sah gerade in seinen Städtebilder ein Art von visuellem Tagebuch, ein Introspektionsmedium: »Ich interpretiere meine Empfindung in einem bestimmten Augenblick. Nicht was ich sehe, sondern was ich empfinde«.

Der Name Kertész steht längst für einen der ganz großen, stilbildenden Künstler des vergangenen Jahrhunderts. Seine in Zerrspiegeln verkrümmten Akte der 20er Jahre, »Distortions« genannt, haben ihn ebenso berühmt gemacht wie seine nüchtern-klaren »Sachfotografien« von einer Gabel auf einem Tellerrand (1928) oder von Piet Mondrians Brillen. Wirken die Akte von heute aus gesehen erstaunlich verbraucht und bemüht, so sind die kühlen Stillleben Meilensteine der künstlerischen Fotografie geblieben und erzielen Höchstpreise auf dem Kunstmarkt. In solchen Bildern spricht sich der Zeitgeist des Pariser Surrealismus oder der konstruktive Formalismus und die Wertschätzung des alltäglichen Gegenstandes aus, wie wir sie zeitgleich im Bauhaus finden. Sie sind kühl, aber nie cool, streng, aber von einem sachlichen Lyrismus. Innerhalb der großen Gruppe an künstlerisch tätigen Ausländern, insbesondere aus der ehemaligen K.u.K.-Monarchie unterhielt Kertész engen Kontakt zur Avantgarde am Montparnasse. Sein Einfluss auf berühmte Berufskollegen wie Brassai, Ray, Capa oder Cartier-Bresson (»Nous devons tous quelque chose à Kertész«) ist mit Händen zu greifen.

Doch Kertész’ Genie reicht in eine noch ganz andere, schwer zu fassende Dimension: Ihm ist es gelungen, mit dem Objektiv jene Bilder der Welt draußen einzufangen, die aus der dunklen Kammer stammen, welche die Tiefe des Gedächtnisses darstellt, also in jener Zone Urbilder wieder zu finden, die längst vorhanden sind. Da wo Cartier-Bresson in unnachahmlicher Weise einen Sinn für menschlich-allzumenschliche Schwächen und eine unergründliche Situationskomik beweist, fängt André Kertész eine latente Melancholie ein. Diese verrät mit einem unprätentiös daherkommenden Ernst, eine poetische Ader und Verlorenheit, die oft genug von einem geheimen Grauen grundiert wird.

Sie beruht nicht selten auf der Konfrontation aus dem Lebendigen mit dem Starren, Maskenhaften und verweist insofern auf jenes frühkindliche Stadium, das Lacan das »Spiegelstadium« nannte: Das infantile Gemüt oszillierte damals noch zwischen jenen Personen, welche Sicherheit, Trost und Schutz bedeuteten, dem vertraut werdenden eigenen Gesicht und dem absolut Fremden. So konnte die beginnende Ich-Stabilität in panisches Erschrecken über alles Fratzenhaft-Fremde umschlagen (»Ich ist ein Anderer«, wie es schon bei Arthur Rimbaud heißt).

Bei Kertész ist das auf vielen Bildern die auf den ersten Blick ununterscheidbare Konfrontation des Lebendigen mit dem Unbelebten, vor allem dem Doppelgängermotiv des Schattens. Verdopplung entsteht oft auch durch Spiegelungen oder durch das fast ununterscheidbare Ineinandergleiten von Bild und Abbild, menschlichen Gliedmaßen und nachgebildeten Prothesen, Puppen, Schatten, Silhouetten oder Plakatfotos. Diese irritierenden Konfrontationen ergeben sich besonders, wenn die vertraute Perspektive aufgegeben wird und der Fotograf etwa den Blick aus der Vogelperspektive wählt. Aus dem senkrechten Lot wird das Vertraute grafisch markant, flächig und verfremdet, es wirkt arrangiert und ästhetisiert und zugleich ver-rückt. Unwillkürlich kann man sich an jene Stelle in Rilkes »Malte« erinnert fühlen, in der erzählt wird, wie sich der Ich-Erzähler als Kind der Lust hingab, sich in wechselnden Kostümen und Verkleidungen wieder zu erkennen, bis er vom Reiz des Fremden überrumpelt wird, dieses Selbst verliert und in einer panischen Attacke nicht mehr aus der Verkleidung herausfindet.

Das Spätwerk ist verglichen mit den 20er Jahren sicherlich schwächer. In den USA musste sich André Kertész bei Illustrierten als Mode und Einrichtungsfotograf verdingen. Er zog nach New York, bekam zwar internationale Anerkennung, konnte aber bald infolge einer Erkrankung kaum noch sein Flat verlassen. Unter dem Titel »From my Window« (1981) veröffentlichte er Polaroidaufnahmen, die unscheinbare persönliche Gegenstände vor der Skyline der Manhattantürme zeigen – das Fenster als Metapher einer abgegrenzten Innenwelt und die Schönheit stiller, sorgsam komponierte Stillleben eines still gewordenen Lebens.

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