Ausstellungsbesprechungen

Miroslav Tichý – Die Stadt der Frauen, Reiß-Engelhorn-Museen Mannheim, Zephyr – Raum für Fotografie, bis 26. Mai 2013

Miroslav Tichý (1926-2011) war ein intelligenter, gebildeter und freiheitsliebender Künstler, der sich radikal gegen jede Vereinnahmung zu wehren versuchte. Mit rund 180 voyeuristischen fotografischen Werken feiert das Mannheimer Museum den visionären Künstler. Rainer K. Wick hat sich umgeschaut.

Eine der merkwürdigsten Gestalten der neueren Fotogeschichte ist der Tscheche Miroslav Tichý, geboren 1926 in der kleinen mährischen Provinzstadt Kyjov, wo er im Jahr 2011 auch gestorben ist. Geschildert wird er als Sonderling, dessen Opposition gegen die bestehenden politischen Verhältnisse und gesellschaftlichen Normen als – wie die Soziologie es formuliert – Devianz, als abweichendes Verhalten, zutage trat: Konflikte mit Autoritäten, ungepflegtes Äußeres, Alkoholmissbrauch, freiwillige Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. 1946 hatte er ein Studium der Malerei an der Prager Kunstakademie begonnen, das er zwei Jahre später, möglicherweise wegen einer gescheiterten Liebesbeziehung, abbrach. Nach dem Militärdienst und der Rückkehr in seine Heimatstadt arbeitete er mit mäßigem Erfolg als Maler und Zeichner, in den 1950er Jahren begann er auch zu fotografieren. Nach der Zwangsenteignung seines Ateliers im Jahr 1970 konzentrierte er seine künstlerische Arbeit ganz auf die Fotografie, die er bis in die 1990er Jahre intensiv betrieb, dann aber einstellte.

Sein riesiges fotografisches Œuvre entzieht sich ebenso den üblichen handwerklichen und gestalterischen Standards, wie Tichý sich selbst als Person einem „normalen“ Leben zu verweigern versucht hat. Sein nahezu ausschließliches Thema waren die Frauen seiner Heimatstadt Kyjov, die er in geradezu obsessiver Weise fotografierte. Das Prinzip sozialistischer Sollerfüllung ad absurdum führend, „schoß“ er hundert Bilder täglich, an sechs Tagen in der Woche, etwa 36.000 im Jahr. Meist entstanden die Fotos unbeobachtet und heimlich, auf dem Markt, auf der Straße, in Gärten und Parks, bevorzugt im Schwimmbad, beim Sonnenbaden. Sie sind die Hervorbringungen eines Mannes, der regelmäßig als Flaneur unterwegs war, ja mehr als das, der gleichsam als Jäger auf Fotopirsch ging.

Oft sind die abgebildeten Frauen, die keine Schönheitsköniginnen sein mussten, leicht bekleidet, manchmal auch nackt. Häufig zeigt er sie in kleinen Gruppen, dann einzeln als Ganzfiguren oder auch nur ausschnittweise, erotische Reize betonend. Hinzu kommen ab und zu Fotos von trocknender Unterwäsche auf der Leine oder von Büstenhaltern und Korsagen in den Schaufenstern. Ganz ohne Zweifel war hier ein Erotomane am Werk, der seine unerfüllten sexuellen Begierden im Medium Fotografie zu sublimieren suchte, also im Freudianischen Sinne durch eine bildnerische Objektivierung die Umwandlung oder Umlenkung von Triebwünschen auf eine kulturell höhere Stufe anstrebte.

Aus diesem eigenwilligen fotografischen Werk zeigt die Mannheimer Fotogalerie Zephyr derzeit eine Auswahl von fast zweihundert meist noch nicht ausgestellten Bildern aus Sammlungen in Deutschland, Frankreich, Tschechien und der Schweiz. Damit reiht sich der zu den Reiss-Engelhorn-Museen gehörende Raum für Fotografie in die Reihe jener Institutionen ein, die sich seit einigen Jahren bemühen, Tichýs Œuvre der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Erstmals waren Tichýs Fotografien im Jahr 1990 in der Ausstellung »Von einer Wellt zu’r Andern« in der DuMont-Kunsthalle in Köln zu sehen, in der es um eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit der Kunst sogenannte Außenseiter ging.

Seinen späten Durchbruch in der Kunstwelt erlebte der Fotograf auf der Biennale in Sevilla 2004, wo er von dem prominenten Ausstellungsmacher Harald Szeemann vorgestellt wurde, der schon früh, 1963, an der Kunsthalle Bern die Ausstellung »Bildnerei der Geisteskranken – Art Brut – Insania Pingens« kuratiert hatte. Obwohl sich Tichý dezidiert vom Kunstbetrieb fernhielt und sich gegen dessen Vereinnahmungstendenzen sperrte – er lehnte 2005 sogar den „New Discovery Award“ beim Fotofestival in Arles ab –, folgten Museumsausstellungen in Zürich, Frankfurt, Paris, New York und Moskau, nachdem zuvor schon die rasante Vermarktung der Arbeiten des in seiner Heimat sozial marginalisierten und sich selbst isolierenden Künstlers begonnen hatte. Was lange unbeachtet und unterbewertet geblieben war, erlebte auf dem Kunstmarkt bei explodierenden Preisen plötzlich einen Boom – ein klassisches Lehrstück in Sachen Kunst und Kommerz.

Weit davon entfernt, den Maßstäben des technisch perfekten Bildes und den Maximen „guter Gestaltung“ gerecht zu werden, sind für Tichýs Fotografien notorische Unschärfen, schwache Kontraste, Schlieren, Kratzer, Fussel und Fingerabdrücke typisch, was nicht nur eine Portion Unbekümmertheit signalisiert, sondern Ausdruck einer entschiedenen Opposition gegen alle professionellen Ansprüche an die Fotografie ist. Tichý operierte mit alten Kameras aus der Sowjetunion und der DDR, baute sich seine Kameras zudem aus Papprollen, Blechdosen und selbst geschliffenen Plexiglaslinsen selbst. Im Zusammenspiel mit einem primitiven Fotolabor entstand eine andere Fotografie, die sich auch dadurch von den gewohnten Präsentationsformen unterschied, dass der Künstler seine Abzüge oft mit der Schwere unregelmäßig ausschnitt und auf z.T. farbige Kartons aufklebte, die der dann zeichnerisch mit dekorativen Rahmen bearbeitete.

Das alles mutet oft unbeholfen, kunstlos, ja dilettantisch an, entfaltet zugleich aber eine ganz eigentümliche Poesie und fasziniert durch die Kompromisslosigkeit, mit der Tichý sein Lebenswerk geschaffen hat. Anstatt ihn als „Outsider Artist“ abzustempeln und möglicherweise sogar zu pathologisieren, zieht Thomas Röske in seinem Katalogbeitrag die Möglichkeit in Betracht, ihn als Konzeptkünstler zu betrachten, eine These, die angesichts der Tatsache, dass über Jahrzehnte die Frauen von Kyjov sein exklusives Thema gewesen sind, zumindest bedenkenswert ist.

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