Nicht oft ist der Ausdruck »Meisterwerke« ähnlich angemessen wie für diese zwar kleine, aber wirklich extrem feine Hamburger Ausstellung. Es werden Kupferstiche, Radierungen und Lithografien gezeigt, die jeder kennt – einfach deshalb, weil sie Meilensteine der europäischen Kunstgeschichte darstellen. Stefan Diebitz hat die Ausstellung besucht.
Das älteste Werk der Ausstellung ist vielleicht schon das berühmteste – es ist nichts weniger als die »Melencolia I« eines gewissen Albrecht Dürer, aber tatsächlich findet trotz dieses Ausgangspunktes danach kaum ein Qualitätsabfall statt. Erwähnt seien nur Künstler vom Range Picassos, Käthe Kollwitz‘ oder Odilon Redons; und dann folgen Edvard Munch und James Ensor, Otto Dix und Max Beckmann… Den Umschlag des Kataloges schmückt das nach der »Melencolia« vielleicht bedeutendste Werk der Ausstellung, Francisco de Goyas »El sueño de la razón produce monstruos«; und an diesen beiden Leuchttürmen der Kunstgeschichte kann man ganz gut erläutern, worum es in der Ausstellung geht.
Nämlich um das innere Gesicht, um die Versenkung in die Fantasie und ihre produktive Nutzung. Die Haltung der Melancholia, die ihren Kopf in die linke Hand stützt, um ihren Blick in eine unbestimmte Ferne zu richten, ist beispielhaft; schon Walther von der Vogelweide, als er über das Schicksal sann, muss man sich genau so vorstellen:
»Ich saz ûf eime steine,
und dahte bein mit beine;
dar ûf satzt ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.«
Als das lyrische Ich Walthers seine Wange in die Hand schmiegt (»gesmogen«), da ist er nicht traurig, sondern nachdenklich; er denkt über Deutschland nach, aber auch darüber, »wie man zer werlte solte leben«; und dieser moralische Aspekt spielt auch in fast allen Blättern der Hamburger Ausstellung nicht nur irgendwie eine Rolle, sondern er gibt diesen Blättern erst ihr Gewicht. Es ist große Kunst, weil fast jede dieser Arbeiten die Frage nach dem richtigen Leben in allem Ernst stellt. Widerspricht das nicht allem, was wir Heutigen über die Kunst, ihre Freiheit und ihr Verhältnis zur Moral denken?
In jedem Fall bedeutet Melancholie weniger Traurigkeit als vielmehr Besonnenheit und Nachdenklichkeit; ihr Gegenbild, wieder aus der Hand Dürers, sieht man in der Ausstellung gleich rechts von der »Melencolia« – es ist der schwüle Wunschtraum eines Arztes, dessen Hauptbestandteil eine nackte Frau darstellt. Bezeichnenderweise hält der Mann seine Augen geschlossen, denn in sich selbst hinein schaut man mit offenen Augen.
Den Blick in eine unbestimmte Ferne, der die Melencholia Dürers auszeichnet, findet man auf vielen anderen Arbeiten, so gleich daneben auf zwei Radierungen Rembrandts – in beiden Fällen Selbstbildnisse. Denn Selbstreflexion – wieder in moralischer Hinsicht – ist ein anderes Leitmotiv dieser Ausstellung. Auch Rembrandt schaut in sich selbst hinein, indem er seinen Blick in die Ferne richtet, und in ähnlicher Weise tun das Edvard Munch oder Otto Dix (dieser in einer seiner altmeisterlichen Silberstiftzeichnungen) oder in den abschließenden Blättern der Ausstellung Max Beckmann in seinen markanten Selbstbildnissen.
Ganz anders verhält sich der Mann, der seinen Kopf in den Armen verborgen hält und um den die Alpträume in der Form von Eulen flattern; wahrscheinlich hält auch er die Augen geschlossen. Erst spät also – drei Jahrhunderte nach Dürer – werden die Alpträume und Gesichte der Menschen in dieser direkten Art thematisch, und Goyas Radierung ist vielleicht schon ihrer unvermittelten Naivität wegen berühmt geworden, denn so direkt konnte sich nach ihm niemand mehr dieser Thematik stellen.
Das kann man schon an dem großen Franzosen Odilon Redon sehen, der Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls seine Träume abzeichnete, aber das bereits viel vermittelter tat; mich erinnern seine Lithografien mit den komplizierten Titeln an die Edgar Allan Poe-Illustrationen Alfred Kubins. In beiden Fällen wird der Schrecken in Bildern von mitternächtlich dunkler und archaischer Gewalt eingefangen. Allerdings zeichnete auch Redon mit schwarzer Kreide die traditionelle Haltung der Melancholie und ließ seinen »Denker« den sinnenschweren Kopf mit der Hand abstützen.
Edvard Munch ist ein weiterer Künstler, der mit mehreren Blättern vertreten ist, so mit »Melancholie III« - wieder mit aufgestützter Hand – oder in »Eifersucht II«, wo sein Selbstbildnis auf der linken Bildseite vor sich hinstarrt, wogegen die rechte Bildseite dem Betrachter seine Schreckensversion offenbart: eine splitternackte Frau spricht in gelöster Haltung mit einem bekleideten Mann, als befänden sie sich auf einem Sektempfang. Aber vielleicht noch bedrückender ist die von Spermien umschwommene, von ihrem langen schwarzen Haar umflossene »Madonna« mit dem totenbleichen Gesicht; links unten starrt ein großäugiger Fötus zu ihr hinauf.
Den kritischen Blick auf das eigene Leben versammelte Munch in seinen Bildern vom »kranken Kind«, in denen er das Sterben seiner jüngeren Schwester verarbeitete. Eine anders getönte, aber ebenfalls moralische Selbstreflexion findet sich in den Blättern Pablo Picassos, die den blinden Minotaurus zum Thema haben, der von einem Mädchen geführt wird. In diesen Blättern – ihr Höhepunkt ist die unglaubliche »Minotauromachie« von 1935 – reflektierte der Künstler sein Liebesleben; obwohl verheiratet, unterhielt er ein Liebesverhältnis mit einer Siebzehnjährigen. Und dann wurde diese auch noch schwanger…
Nicht bei allen Blättern ist es deutlich, inwiefern sie das Thema der Ausstellung spiegeln. Das gilt zum Beispiel für Otto Dix‘ »Elli«, einer karikaturistisch verzerrten Nackten, die zwar virtuos gezeichnet ist, die ich aber trotzdem nicht anschauen mag. Dagegen das ätherische Mädchen von Edward Burne-Jones, eine wunderschöne, ganz zarte Zeichnung, der im Katalog eine Lithografie von Redon mit dem knappen Titel »Beim Erwachen erkannte ich die Göttin des Erfassbaren mit strengem und hartem Profil« gegenübersteht; während Burne-Jones‘ Mädchen selbst an seine Visionen verloren scheint, ist Redons Mädchen der Gegenstand einer inneren Schau.
Die vierzig Blätter bilden natürlich keine gewaltige Ausstellung und füllen nicht mehr als einen mittelgroßen Raum, aber wer in diesen Tagen die Hamburger Kunsthalle besucht, findet ja noch zusätzlich die Gelegenheit, unter dem Titel »Spurenlese« hochwertige Zeichnungen aus drei Jahrhunderten anzuschauen – auch das eine Auswahl aus einer privaten Sammlung. Hat die Zeichnungen Hinrich Sieveking zusammengetragen, so ist es hier der verstorbene Sammler Klaus Hegewisch mit seiner Frau Erika, die sich nicht als Sponsor dick gemacht, sondern die Kunsthalle in sehr großzügiger Weise und offensichtlich ohne Schielen auf den eigenen Vorteil unterstützt haben.