Buchrezensionen

Müller, Franz (Hrsg): Martin Disler 1949–1996, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2007.

Martin Disler – der Blick auf sein Werk

Was hätte nicht aus ihnen noch werden können: Neben dem Deutschen Martin Kippenberger (1953–97) gehörte der Schweizer Martin Disler (1949–96) zu den Jungstars der 1980er Jahre, beide starben viel zu jung, als dass sie ein Alterswerk hätten entwickeln können. Beide legten aber ein grandioses Schaffen vor, das in seiner Bandbreite und Vielfalt kaum zu übertreffen war und kaum etwas zu wünschen übrig ließ. Zehn Jahre davor erschütterte der nicht allzu weit auseinander liegende Tod von Joseph Beuys (1986) und Andy Warhol (1907) die Welt — beide hatten bereits Geschichte geschrieben. Disler und Kippenberger wurden mitten aus dem Schaffensprozess gerissen, der sie ohne Frage an die Spitze der europäischen Kunst getragen hätte, wo nun die knapp älteren Sigmar Polke oder Bruce Nauman, Jörg Immendorff oder Georg Baselitz stehen. Nur der enorme postume Schlagschatten, den die beiden werfen, lässt ahnen, welche Bedeutung sie über ihre momentane Wertschätzung hinaus hätten spielen können, wenn sie noch lebten.

Martin Disler gilt auch so als Star unter den Schweizer Künstlern, dem nun der Züricher Verlag Scheidegger & Spiess eine erstklassige, monumental angelegte Monographie gewidmet hat, die alle Facetten dieses vielseitigen Künstlers: Malers, Zeichners, Grafikers, Dichters, ausbreitet. Wer immer an der drastischen Unmittelbarkeit des persönlichkeitsfanatischen Disler seine Zweifel hegte, wird am Ende der Kataloglektüre Disler-Fan sein und mit Haut und Haaren eingenommen sein. Denn anders scheint man dem Manne nicht beizukommen. Schon ihn zu verorten, ist nicht so einfach: Gegen ihn kommen die Jungen — und mittlerweile schon älteren — Wilden diesseits der Schweiz fast brav daher, heißen sie nun Elvira Bach oder (auch früh verstorben) Salomé; und jenseits der Schweiz zieht er formal an einem Strang mit Chia, Clemente & Co., doch teilte er sicher nicht deren mittelmeerorientierte Mythenrezeption. Letztlich fühlt man sich häufig erinnert an die COBRA-Künstler, die unbekümmert drauflosmalten — doch was für Welten entrollen sich dem geistigen Auge bei der Betrachtung des Disler-Werks, die allemal üppiger, vielgestaltiger, technisch raffinierter und noch impulsiver, auch tiefer wirken als deren verdienstvolle Protestkunst.

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Vielleicht leben Frühverstorbene länger. Ohne Zynismus kann man immerhin konstatieren, wie frech und frisch Dislers letzte Bilder bis heute wirken: Bevor ihn ein Hirnschlag aus dem Leben riss, setzte er 1995 mit dem Acrylgemälde »Tanzauge« eine nachhaltige Wegmarke in der Geschichte der Malerei, die von einem Ende noch nichts wissen wollte (und das dann auch gar nicht kam, wie später von manchen angekündigt wurde) — bezeichnenderweise eine rhythmische Burleske, die zwischen Selbstbildnis und Kreuzeszeichen Rätsel aufgibt, denen man sich immer und immer zuwenden möchte. Martin Disler ist ein Erzähler von (im besten Sinne des Worte) menschlichen Gnaden, existenzielle Abgründe sind ihm die innigsten Eindrücke wert und zugleich beflügelt er die Lust, die Farborgien in sich aufzunehmen, bis sich aus Formen nicht minder orgiastische Figuren und Gegenstände herausbilden. Ohnehin hat es die Literatur dem Biennale- (1980) und Documenta-Teilnehmer (1982) angetan. Er schrieb nicht nur selbst, sondern führte direkt wie indirekt wohl jederzeit »seinen« Arthur Rimbaud mit sich im Ideengepäck. Bei seinem Vorhaben, 999 Aquarelle zu Fernando Pessoa zu schaffen — er liebte es, sich in einer bestimmten Zeit eine vorgegebene Anzahl von Arbeiten vorzunehmen —, nahm ihm das grausame Schicksal den Pinsel aus der Hand. Er starb über dem Blatt mit der Nummer 388.

Eine Fundgrube seiner früh vollendeten Kunst, die sich eine grandiose Naivität nicht nehmen ließ, ist der Bildband, der von herausragenden Essays und wissenschaftlich fundierten Texten begleitet wird. Ein Blätter- und Lesegenuss!

 

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