Ausstellungsbesprechungen

Mythos Heimat. Worpswede und die europäischen Künstlerkolonien, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, bis 17. Juli 2016 (verlängert)

Regelmäßig überrascht das Niedersächsische Landesmuseum Hannover, das mit seinen fünf Sammlungen unterschiedlichster Ausrichtung thematisch breit aufgestellt ist, durch ganz ausgezeichnete Sonderausstellungen. So vor kurzem mit der Ausstellung »Madonna. Frau – Mutter – Kultfigur«, jetzt mit der sehenswerten Schau »Mythos Heimat«, die ein breites Spektrum europäischer Künstlerkolonien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts präsentiert. Rainer K. Wick berichtet.

Künstlerkolonien sind ein typisches Phänomen des 19. Jahrhunderts . Ihre Entstehung steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der einsetzenden bzw. fortschreitenden industriellen Revolution und der dadurch ausgelösten Stadtflucht zahlreicher Künstler, die den urbanen Zentren zeitweise oder dauerhaft den Rücken kehrten und in ländlichen Lebensräumen und naturbelassenen Landschaften nach dem Ursprünglichen und Unverfälschten suchten. Dem entfremdeten Dasein in den Großstädten setzten sie das Ideal des guten und einfachen Lebens auf dem Land und in der Natur entgegen, und hier fanden sie auch die Motive für ihr künstlerisches Tun. In der Regel befanden sich die Orte, die sie aufsuchten, im Umland der größeren Städte und waren relativ leicht erreichbar. Sich hier niederzulassen bedeutete oft, ein unbekanntes Stück Heimat zu entdecken, und insofern hat der zunächst etwas irritierende Titel der Hannoveraner Ausstellung »Mythos Heimat« durchaus seine Berechtigung. Im Zentrum steht Worpswede, keineswegs die älteste der europäischen Künstlerkolonien, aber eine der prominentesten in Deutschland. Dass sie den Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung im Niedersächsischen Landesmuseum bildet, liegt auf der Hand, gehört das im Teufelsmoor nördlich von Bremen gelegene »Künstlerdorf« doch zu den kulturellen Highlights Niedersachsens.

Während sich die Künstlerkolonie von Worpswede erst in den 1880er Jahren zu formieren begann, konnte das französische Barbizon, die »Mutter aller Künstlerkolonien«, schon auf mehr als ein halbes Jahrhundert zurückblicken. Seit etwa 1830 kamen Künstler aus dem nahe gelegenen Paris in das urwüchsige Waldgebiet von Fontainebleau, wo sie nicht nur in Barbizon, sondern auch in der Nähe anderer Orte am südlichen Waldrand ihre Staffeleien aufstellten und meist kleinformatige Landschaften, die sog. paysage intimes, malten. Im Unterschied zur akademischen Ateliermalerei arbeiteten sie im Freien (was auch durch die Erfindung und Verbreitung der Tubenölfarbe erleichtert wurde) und wurden damit zu wichtigen Vorläufern des Impressionismus. Hauptsächliche Vertreter, von denen in Hannover eine Auswahl charakteristischer Arbeiten zu sehen sind, waren u.a. Camille Corot, Théodore Rousseau, Jules Dupré, Narcisso Virgilio Díaz de la Peña, Charles-François Daubigny, Constant Troyon und andere – Künstler, die unter dem missverständlichen Sammelbegriff »Schule von Barbizon« in die Kunstgeschichte eingegangen sind. Denn tatsächlich handelte es sich weder um eine Schule im Sinne von Lehrer-Schüler-Beziehungen noch um eine geschlossene Gruppe, sondern um ein lockeres Miteinander künstlerisch mehr oder weniger Gleichgesinnter, die Formen der »kreativen Geselligkeit« pflegten und sich fachlich austauschten, letztlich aber als eine »Gemeinschaft Einsamer, eine Verbundenheit Selbständiger« erscheinen, um eine Formulierung des Kunsthistorikers und -kritikers Albert Schulze-Vellinghausen aufzugreifen.

Den Begriff der Künstlerkolonie, der im Hinblick auf Barbizon erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gebräuchlich wird, zu schärfen, ist das Anliegen des Kurators Thomas Andratschke in seinem einführenden Beitrag zu dem die Ausstellung begleitenden, materialreichen Katalogbuch. Als ein maßgebliches Merkmal hebt er die dauerhafte Ansiedlung der Künstler hervor und scheidet insofern auch das unter anderem durch die Lukasbrüder berühmt gewordene Olevano Romano östlich Roms aus, das in der Literatur häufig als Künstlerkolonie bezeichnet wird, eher aber als kunstgeschichtlich herausragender deutscher »Künstlerort« zu gelten habe, da sich die fraglichen Künstler hier nur transitorisch aufgehalten hätten. Gleichwohl sind die Grenzen fließend, wie auch die von Andratschke zur Diskussion gestellte Typologie der europäischen Künstlerkolonien deutlich macht. Unterschieden werden drei typische Ausprägungen, der Landhaustyp, der Gasthaustyp und der Kolonistentyp. Charakteristisch für den sog. Landhaustyp ist das »Zusammenwirken von Künstlern mit einem Mäzen«, so wie es zum Beispiel bei der von Großherzog Ernst Ludwig ins Leben gerufenen Künstlerkolonie auf der Darmstädter Mathildenhöhe der Fall gewesen ist, die in Hannover allerdings ausgeklammert bleibt. Besaß ein Künstlerort eine Herberge (oder mehrere), handelt es sich um den Typus »Gasthaus«. Nicht selten gingen im 19. Jahrhundert der Bildung einer Kolonie im strengen Sinne, die sich durch Landnahme und Besiedlung auszeichnet (lat. colere = bebauen), eine »Gasthausphase« voraus, bevor sich Künstler an einem bestimmten Ort, meist in einsamer Lage und unter einfachen Lebensverhältnissen, für längere Zeit oder auch permanent niederließen. Wie »jenseits von Mythen und Anekdoten« die sozialen Interaktionen und die alltäglichen Lebensvollzüge in diesen Künstlerkolonien ausgesehen haben, wird zukünftiger sozialhistorischer und kunstsoziologischer Forschung vorbehalten bleiben, wie Alexandra Herlitz im Katalog zu verstehen gibt.

Die Präzisierung der Begrifflichkeit und die Herausarbeitung von Idealtypen ist sicherlich sinnvoll und mehr als nur von akademischem Interesse. Das eigentliche Anliegen der mit etwa zweihundertsechzig Exponaten aus rund sechzig Museen und Privatsammlungen bestückten Hannoveraner Ausstellung ist aber nicht der fachwissenschaftliche Diskurs, sondern die Darbietung eines anschaulichen Bildes dessen, wer in den einzelnen Künstlerorten/-kolonien die Akteure waren und wie ihre künstlerischen Hervorbringungen ausgesehen haben. Um 1900 gab es in elf europäischen Ländern mehr als achtzig ländliche Künstlerkolonien mit circa dreitausend Kunstschaffenden. Davon waren etwa dreizehn Prozent Frauen, die hier jene Freiräume für ihr künstlerisches Tun fanden, die ihnen im etablierten »Betriebssystem Kunst« der damaligen Zeit gesellschaftlich noch nicht offen standen. Die breit angelegte Schau im Niedersächsischen Landesmuseum zeigt Bekanntes und weniger Bekanntes und wartet mit manch überraschender Erkenntnis auf. Pont-Aven in der Bretagne, durch den Aufenthalt von Émile Bernard, Paul Sérusier und vor allem Paul Gauguin berühmt als eines der Inkubationszentren der Moderne, gehört ebenso wie Skagen an der nördlichen Spitze Jütlands mit Malern wie Peder Severin Krøyer und Michael Ancher zu jenen Künstlerorten/-kolonien außerhalb Deutschlands, die namentlich spontan abgerufen werden können. Doch wer kennt hierzulande die Künstlerkolonien in den Küstenstädtchen Newlyn oder Falmouth im englischen Cornwall oder Szolnok und Nagybánya in Ungarn? Hier gibt es in Hannover viel zu entdecken, und das gilt sowohl für das europäische Ausland als auch für Deutschland, sofern man nicht nur an das überregional bekannte Worpswede (Mackensen, Modersohn, Vogeler), an Hiddensee und Ahrenshoop an der Ostsee oder an Dachau bei München (Hölzel u.a.) denkt. So dürften die meisten Besucherinnen und Besucher der Hannoveraner Ausstellung etwa die Künstlerkolonie Schreiberhau in Schlesien ebenso wenig kennen wie jene von Nidden an der Kurischen Nehrung (heute Nida in Litauen) oder die von Grötzingen im Badischen, um nur einige Beispiele herauszugreifen. Ein Rundgang durch die Räume des Niedersächsischen Landesmuseums, der mit Frankreich beginnt, gefolgt von England, den Niederlanden, Dänemark, Deutschland und Ungarn und der mit der Schweiz endet, vermittelt einen repräsentativen Überblick über ein gleichermaßen kunsthistorisch wie auch sozialgeschichtlich und kunstsoziologisch hochinteressantes Phänomen, das die »kulturelle Einheit des Kontinents« im 19. und frühen 20. Jahrhundert sichtbar macht, »zugleich aber auch dessen nationale und künstlerische Vielfalt« verdeutlicht, wie die Direktorin des Landesmuseums Hannover Katja Lembke betont.

Das thematische Spektrum reicht von scheinbar unberührten Landschaften zu Szenen aus dem einfachen, meist harten dörflichen Leben, stilistisch finden sich alle zeittypischen Richtungen vom Naturalismus und Realismus über den Impressionismus bis hin zum Jugendstil und zum Expressionismus. Letzterer manifestiert sich insbesondere in der abschließenden Sektion der Ausstellung, die dem Monte Verità bei Ascona in der Schweiz gewidmet ist. Bei dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Geist der Lebensreform gegründeten Kolonie handelte es sich um das Zukunftsprojekt einiger Aussteiger aus der bürgerlichen Gesellschaft, das auf eine Fundamentalrevision menschlicher Existenz auf »natürlicher« Grundlage zielte. Obwohl der Monte Verità zahlreiche Intellektuelle und Künstler – Schriftsteller, Tänzer, Maler – anzog, war der »Berg der Wahrheit« nie eine Künstlerkolonie im eigentlichen Sinne. Erst relativ spät siedelten sich hier einige bildende Künstler an, so Arthur Segal, der während des Ersten Weltkriegs eine private Malschule gründete, und Marianne von Werefkin, die 1918 mit Alexej Jawlensky kam und in Ascona blieb. Von ihr zeigt das Niedersächsische Landesmuseum eine Reihe expressiver, farbglühender Kompositionen, doch so spannend das Thema »Monte Verità« grundsätzlich auch sein mag, bleibt dieses Schlusskapitel der Hannoveraner Schau letztlich doch ein Fremdkörper, der sich nur schwer in das Gesamtkonzept einer insgesamt überaus sehenswerten Ausstellung integrieren lässt.

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