Buchrezensionen

Neil Holt, Nicola von Velsen, Stephanie Jacobs (Hg.): Papier — Material, Medium und Faszination, Prestel 2018

Kaum ein anderes Medium wie das Papier dringt in all unsere Lebensbereiche ein und wird dort verwendet. »Papier - Material, Medium und Faszination« gibt einen Überblick über die Rolle des Papiers in unserer Kultur, den Walter Kayser gelesen hat.

Der berühmte Volksmund meint es nicht besonders gut mit dem Papier und der Pappe. Zwar gilt ersteres als vorbildlich »geduldig«, ist es doch seit undenklichen Zeiten das Material, das fast alles trägt und erträgt, - vom Erpressungsschreiben bis zum Palimpsest, der ein unsterbliches Gedicht für alle Zeit offenbart. Vom Liebesbrief bis zur Fett abweisenden Tüte für »fish and chips«. Aber leider, »papieren« gilt nun mal grundsätzlich als leblos und blutleer. Dabei spricht Papier alle unsere Sinne an: Man kann es anfassen und fühlen, es rascheln und knistern hören; es riecht sogar. Und was gibt es Befriedigenderes, wenn man mal wieder vor Wut schäumt, als ein wehrloses Stück davon zerknüllt in die Ecke zu pfeffern oder es genüsslich in tausend Schnipsel zu zerreißen?
Doch es hilft nichts, was auch immer aus Wasser und der »Pulpe«, diesem variantenreichen Zellstoffbrei, zusammen gebacken wurde, gilt eben als schwächlich, dünn und haltlos: Es ist »bloß von Pappe«, sozusagen lächerlich wie ein »Pappkamerad« oder »Papiertiger«, und sogar die berühmten »Pappenheimer«, die man genau zu kennen vorgibt, scheinen von besonders schwächlicher Art gewesen zu sein.
Ohne Papier keine Bibel, kein Buch der Bücher (oder, genau genommen, überhaupt kein einziges Buch). Es gäbe kein Aquarell, keine Rembrandtradierung und keine sepialavierte Zeichnung von Claude Lorrain. Auf mehr oder weniger schneeweißem Grund wurde unendlich kunstvoll geschrieben, gezeichnet, gemalt und vor allem gedruckt ohne Ende. Testamente sind ebenso auf Papier festgehalten wie Zaubersprüche, hochoffizielle Verträge ebenso wie hingeschmierte Einkaufszettel. Und überhaupt, ein Mensch, der von gewissenhaften Beamten »ohne Papiere« angetroffen wird, ist quasi, amtlich gesehen, eine Null.

Das Thema dieses Sachbuchs gemahnt daran, dass auch in Zeiten, in denen immer neu das papierlose Büro verkündet wird, nach wie vor Büchern und Texten eine unwiederbringliche Aura zukommt. Was bei unzähligen Büchern als ein Zeichen der Abnutzung und des Altersverfalls gilt, ist bei diesem hier ein absichtlicher Hinweis auf gediegene Machart und reiche Tradition: Der so genannte »Rücken« fehlt bewusst, um so das verborgene Rückgrat und Skelett seiner offenen Fadenheftung ins Bewusstsein zu rücken. Es geht dieser Veröffentlichung überhaupt in jeder erdenklichen Hinsicht um die Demonstration jener handwerklichen Kunstfertigkeit, die nun einmal großer Buchkunst und allem Papier eigen ist. Die Machart ist schier überbordend. Alle Gestaltungsregister sind gezogen. Ausufernd werden Schriftsatz, Bebilderungsmöglichkeiten, farbliche Einfassung der Kapitelheftungen und Vorsatzblättern und eine künstliche Vergilbung von Rand- und Falzzone zur Schau gestellt.
Ist dieses Buch, das alle möglichen Themen streift, deshalb vielleicht doch so etwas wie ein Abgesang auf einen einmaligen Werkstoff und seine Leitmedienqualitäten? Schließlich wurde schon vor gut 50 Jahren von Marshall McLuhan verkündet, das Ende der »Gutenberg-Galaxis« stehe bevor. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Bleilettern habe nicht weniger als die Sprache selbst verändert, meinte er, eine kopernikanische Wende akzentuierend, indem er sie von einem »Mittel der Wahrnehmung zu einer tragbaren Ware« verwandelt habe. McLuhans fundamentale These besagte bekanntlich, dass das »Medium die Message« sei (also keineswegs nur das Transportvehikel und die Verpackung von Botschaften).
Zweifellos bot nicht das in Skriptorien mühselig beschriebene, sondern das massenhaft bedruckte Papier die Voraussetzung für allgemeine Alphabetisierung und Bildung und löste somit eine durch orale Überlieferung geprägte Kommunikation ab. – Und heute, im Zeitalter der digitalen Echtzeitübertragung mittels Touchscreens und Simultanpräsenz von Bildern? Ist heute nicht längst an die Stelle der linearen Wahrnehmungsweise, die sich in Texten entlang der Satzstrukturen und Zeilen entwickelt, längst die Darstellungsform der Konfiguration oder Konstellation getreten? Wie verändert das uns und wie verändert es die Welt?
Dass »der Buchdruck nicht nur eine Technologie, sondern selbst ein natürliches Vorkommen oder Rohmaterial wie Baumwolle oder Holz [ist]«, wie McLuhan meinte, daran will dieses Buch nochmals ausdrücklich erinnern. Aber nicht nur. Seine Herausgeber sind der gebürtige Brite Neil Holt, Kommunikationsdesigner mit dem Spezialgebiet der Papiertypographie und Buchkunst, die freie Text- und Bildredakteurin Nicola von Velsen und die Direktorin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig, Stephanie Jacobs.

Die Herausgeber holen weit aus, vielleicht zu weit. Denn was versuchen sie nicht alles zwischen zwei Deckel zu bringen! Der Leser muss sich in einem Schneegestöber von Fachtermini zurechtfinden. Sechs Kapitel blättern die Vielfalt in einer Weise auf, die zunächst verwirrend abstrakt erscheint: Papier in seiner Materialität, Papier als Medium, als Symbol und dann in einem zweiten Ansatz Papier als Fläche, Volumen und in Buchform. Erst die einzelnen, mit jeweils zwei Seiten sehr kurz gehaltenen Beiträge machen deutlich, was darunter subsumiert worden ist. Es geht um die Erfindung des Papiers, die zu einer Zellulosesuppe angerichteten Rohstoffe und den Vorgang des Schöpfens. Es geht um die verschiedensten Papiersorten und Farben des Werkstoffs. Wie sehr das Papier für eine verloren gehende Mitteilungsform zu stehen droht, wird besonders an der immer mehr verblassenden Briefkultur deutlich. Die Kunst, mit verführerisch blassblauen Schnörkeln Liebesschwüre zu verschicken, dabei das Blatt zwischen den Zeilen wie unabsichtlich mit den Spuren von Tränen zu benetzen, es kunstvoll zu falten oder dezent zu parfümieren, ist leider längst passé.
Nicht weniger als 30 Autoren skizzieren die Vielfalt um diesen Werkstoff. Sie schreiben von Typografien und Marmorierung, von Landkarten und Spielkarten, Druckverfahren und Papiertheatern, Faltschachteln und Pop-up-Büchern, Architektur aus Kartonwaben und Papierfliegern, europäischen wie japanischen. Das bringt es mit sich, dass alles nicht erschöpfend, sondern schier uferlos erscheint, oder, anders ausgedrückt, vieles nur assoziativ flüchtig angetippt wird. Besonders deutlich wird das bei den kunstgeschichtlich relevanten Aspekten. Papier als Bildträger in der Vergangenheit kommt sträflich kurz weg. Und auch »Paperart« im engeren Sinn, jene Richtung zeitgenössischer Kunst, die sich bewusst von dem Grund dieses Trägermaterials gelöst hat und ganz neue Wege der Formgebung sucht, wird etwas willkürlich und nicht gebührend dargestellt. Aber eine solche Tour d'Horizon muss ja auch nicht unbedingt den Kunsthistoriker zufrieden stellen; es entspricht durchaus dem Überblicksanspruch eines Sachbuchs, eher in die Breite als in die Tiefe zu gehen.

Titelangaben

Neil Holt, Nicola von Velsen, Stephanie Jacobs (Hg.)
Papier — Material, Medium und Faszination
Prestel-Verlag, ISBN: 978-3791383057, Ladenpreis 38,00 €

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