Buchrezensionen, Rezensionen

Norbert Wolf: Albrecht Dürer. Werkverzeichnis der Gemälde, Prestel 2010

Das Selbstbewusstsein eines Multitalents seiner Zeit ausstrahlend, blickt uns Albrecht Dürer auf dem großformatigen Cover des Werkverzeichnisses seiner Gemälde an. Nicht umsonst wurde hierfür sein berühmtes Selbstbildnis von 1500 gewählt, auf dem er mit offener Lockenpracht frontal dem Betrachter gegenübersteht. In großen Lettern prangt uns auch das Inhaltsverzeichnis entgegen, das von den Lehr- und Wanderjahren, über seine Selbstbildnisse und viel gerühmten Stiche, zum Theoretiker Dürer und schließlich zu dessen Nachruhm führt. Auf insgesamt 300 Seiten, versetzt mit vielen prächtigen Farbabbildungen und Bildausschnitten, wird dem Leser so ein Rundumschlag zu Dürers Wirken geboten. Rowena Fuß hat das Buch für Sie gelesen.

Werkverzeichnis Dürer © Cover Prestel Verlag
Werkverzeichnis Dürer © Cover Prestel Verlag

Ziel und Zweck dieses Buches von Norbert Wolf ist es, wie man im Vorwort lesen kann, die neuen Thesen und Erkenntnisse über Dürer, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben, überblickshaft vorzustellen. Einen wunden Punkt bildet hierbei bis jetzt das malerische Schaffen des Nürnberger Meisters. Sein Status als »größter Grafiker der abendländischen Kunstgeschichte« ist unbestritten, seine offensichtlich großen malerischen Talente werden jedoch oft skeptisch betrachtet.

Die Einheit von Wahrnehmung, Kunst, Wissenschaft und Naturphilosophie darf als Leitmotiv des gesamten Dürerschen Schaffens betrachtet werden. Ein Beispiel dafür ist das 1503 datierte »Große Rasenstück«. Denn es bietet keinen zufälligen Naturausschnitt, sondern eine genau kalkulierte Bildstruktur. Dürer verwandelte die Wiedergabe des pflanzlichen Mikrokosmus zu einem Spiegelbild der makrokosmischen Ordnung. Laut Wolf wollte Dürer mit diesem Sujet an eine Passage von Marsilio Ficinos »Theologia Platonica« (ca. 1473 entstanden) anknüpfen. Darin findet sich eine Passage über den antiken Künstler Apelles, der eine Wiese malte und in diesem unscheinbaren Motiv, Grashalm für Grashalm, seine Seele ausdrückte. Auch mit Dürers überall bekannten »Feldhasen« verhält es sich ähnlich: »[…] Es ist in Beispiel dafür, wie Dürer seine theoretische Forderung an die Malerei, die äußerlichen Merkmale einer Sache (natura naturata) sichtbar zu machen und die Idee vom Wesen dieser Sache (natura naturans) offen zu legen, umsetzte«.

Internationalen Ruhm brachte Dürer in erster Linie das 1498 veröffentlichte Holzschnittbuch »Die heimliche Offenbarung Johannis« (lat. Ausgabe mit dem Titel »Apocalipsis cum figuris«) zur Apokalypse ein. Um dem Leser die wunderbaren Schnitte vor Augen zu führen, wurden den Erläuterungen von Wolf Abdrucke von insgesamt 15 Doppelseiten (Text und Bild) aus der deutschen Ausgabe der Apokalypse angefügt.

Dass Dürer jedoch selbst nicht an einen Weltuntergang glaubte, erklärt Wolf im Anschluss. Mit König Maximilian I. (1508 zum Kaiser gekrönt) erwartete man eine goldene Zukunft und der Buchdruck mit beweglichen Lettern ermöglichte es Dürer einen Bestseller herauszubringen. Zugleich ergriff er mit der Apokalypse die Chance, die bildnerische Doppelstrategie aus detailverliebter Mimesis und Ausgriffen in das Reich der Fantasie weiter zu treiben. Dabei hat Dürer mit der Mehrdeutigkeit seiner Grafiken das detektivische Gespür der Interpreten und die Lust an der Exegese jahrhundertelang herausgefordert.

Sein rätselhafter Kupferstich »Melencolia I« etwa gehört zu den am meisten analysierten Objekten der Kunstgeschichte. Laut Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl kombiniert der Stich die Darstellung der Melancholie und die Personifikation der Geometrie. Diskussionsstoff bietet auch das „I“ im Titel. Von der Vermutung, dass Dürer drei weitere Stiche zur Temperamentelehre schaffen wollte, über „I“ als Imperativ des lateinischen Verbs „ire“, favorisieren viele Forscher heute eine andere Lösung. Der Gelehrte Agrippa von Nettesheim (1484-1535) entwickelte ein Dreistufensystem zur melancholischen Inspiration. Dieses ist aus imaginatio (technische und bildende Künste, Naturkatastrophen), ratio (Naturphilosophie und Politik) und mens (Wissen um göttliche Geheimnisse) aufgebaut. Dürers Melencolia würde nach diesem Schema die erste Stufe darstellen. Es spiegelt ein noch unvollkommenes Erkenntnisvermögen. Peter-Klaus Schuster modifiziert diesen Ansatz: da die allegorische Bildsprache in der Regel keine geflügelte Personifikation der Geometrie kenne, wohl aber der Astronomie, soll die Frauengestalt auf dem Blatt diese darstellen. Ihr Tätigkeitsfeld liegt mithin, auch nach Agrippas System, weit über die imaginatio hinaus im Bereich der ratio. Man muss jedoch von einer Zweiteilung des Bildes ausgehen. Nach Hartmut Böhme ist die rechte Bildhälfte durch Ruhe und Balance bestimmt. Dass Chaos zu Füßen der Melencolia deutet ein Scheitern aller Lösungsversuche an, wodurch der Betrachter in die melancholiegesättigte Sphäre zwischen Erkenntniswunsch und ausbleibenden Antworten versetzt wird. Dies bekräftigt Wolf mit einem Verweis auf Nikolaus von Kues: »Dem menschlichen Geist ist, selbst wenn er die Welt als secundus deus entwirft, die Erfahrung radikaler Differenz zwischen dem hohen Ziel und der brüchigen Wirklichkeit inhärent«.

Im Gegensatz dazu steht Dürers Selbstbildnis von 1500, das dem Leser schon auf dem Schutzumschlag des Buches begegnet ist und auch im Inneren einen großen Platz einnimmt. Das Distanzmoment absoluter Frontalität und idealisierter Gesichtssymmetrie erinnert an das Schema alter Christusikonen. Die feierliche Erscheinung des Porträtierten scheint zur imitatio Christi jedoch nicht zu passen, da dieser Aspekt nach Erwin Panofsky literarisch und ikonisch immer mit der Passion Christi verbunden wird. Anlass zu weiteren Spekulationen bietet die Inschrift rechts neben Dürers Kopf: Albertus Durerus Noricus ipsum me propriis sic effingebam coloribus aetatis anno XXVIII (Albrecht Dürer aus Nürnberg, ich stellte mich selbst im Alter von 28 Jahren auf diese Weise mit eigenen Farben dar). Rudolf Preimesberger übersetzte „proprius“ mit „angemessen“ und deutete die hauptsächlich aus Brauntönen bestehende Farbwahl des Bildnisses als Versinnbildlichung des Ideals simplicitas (Einfachheit, Schlichtheit). Dürer habe sich mit der Christus ähnlichen Inszenierung der Demut Christi angenähert. Hans-Christoph Dittscheid wies darauf hin, dass das vorherrschende Braun ein Verweis auf Adam sei, den aus Erde geformten ersten Menschen, in dessen typologische Christusform der Künstler schlüpft.

Ebenso deutet Dürers Signatur links von seinem Kopf mit der 1500 über dem Querbalken seines Monogramms auf die Lesweise A(nno) D(omini) 1500 hin (Im Jahre des Herrn 1500), so Matthias Winner. Dieser fragte, ob Dürer die irdische Begrenztheit seines eigenen Lebens an der Ewigkeit des Schöpfers messen wollte, der von sich sagte „ich bin das Α und Ω“, d.h. der Anfang und das Ende. Das Omega fehlt allerdings in Dürers Beschriftung und damit die Klammer zum göttlichen Unendlichkeitsanspruch. Zuletzt machte Philipp Zitzelsperger auf Dürers Hand aufmerksam, die einen Marderpelz in den gespreizten Fingern hält. Dieser war in deutschen Bildern um 1500 für Ratsmitglieder und Richter reserviert und diente wohl der Nobilitierung Dürers. Zugleich ist der Zeige-Gestus der Hand als Selbstreferenz zu verstehen.

Das Gemälde »Das Rosenkranzfest« (1506) zeigt wie stark Dürer tatsächlich mit südlichen Standards der Malerei konkurrierte: aus einer einzigen Tafel bestehend, folgt es dem italienischen Altartypus, in der Koordination von Madonna, Papst und Kaiser gehorcht es der Dreieckskomposition der Renaissance und in der Devotionsszene rekapituliert es venezianische Dogen-Votivbilder.

Fazit: Norbert Wolf hat sein Ziel, die wichtigsten Erkenntnisse zu Dürer darzustellen, erreicht. Der Tradition, Dürer vor allem als herausragenden Grafiker zu betrachten, bleibt er auch treu, obwohl er im Katalogteil auch Interessantes zu allen Gemälden zu berichten weiß. Seine Sprache, obwohl mit Fachwörtern duchsetzt, ist gut zu verstehen. Einen Mangel beim Lesen bilden allderdings an manchen Stellen die eingefügten Abbildungsseiten, die den Text- und Gedankenfluss zerschneiden. Summa summarum: Ein großartiges Buch zum Blättern und Stöbern!

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