Buchrezensionen

Oliver Götze, Lieselotte Kugler (Hrsg.): Göttlich Golden Genial. Weltformel Goldener Schnitt?, Hirmer 2016

Man findet ihn im 3. Jahrhundert v. Chr. bei Euklid, im 19. Jahrhundert als universelle Formel für das Schöne und selbst 2016 in der »auffallend proportionalen« Frisur des künftigen US-Präsidenten Donald Trump: den Goldenen Schnitt. Was es mit ihm auf sich hat, das untersuchen Liselotte Kugler und Oliver Götze in ihrem Buch. Lea Braun hat es gelesen.

»Göttlich Golden Genial« geht der Bedeutung der vermeintlichen Weltformel, dem sogenannten Goldenen Schnitt, auf den Grund und deckt dabei die unterschiedlichen Verwendungsweisen und Sinnzuschreibungen auf. Dem Leser wird hier eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Proportionsverhältnis geboten, die den Bogen vom Beginn bei Euklid in den »Elementen« und die nachfolgende wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Gestaltungsprinzip über Anwendungsweisen und Designprozesse bis hin zu theoretischen Reflexionen spannt. Dabei verknüpft der ausstellungsbegleitende Essayband erstmals verschiedene Perspektiven aus unterschiedlichen Fachrichtungen und stellt auf diese Weise das Spannungsfeld des kulturhistorischen Phänomens nicht nur inhaltlich, sondern auch in seinem Aufbau überzeugend dar. In seiner Struktur setzt der Band gezielt auf eine Konfrontation zwischen der im Wechsel präsentierten theoretischen Auseinandersetzungen, Analysen diverser Gestaltungsprozesse und unserer kulturellen Prägung durch die Normierung von Proportionsverhältnissen, sodass der Leser stetig herausgefordert wird, den Goldenen Schnitt als Mythos und als Analyse- oder Gestaltungswerkzeug zu reflektieren.

In den Bildkompositionen zahlreicher Kunstwerke ist versucht worden, den Goldenen Schnitt als ästhetische Ordnung nachzuweisen, doch auch hier gilt es zwischen spekulativer Aussage, tatsächlichem Kompositionsprinzip und reinem Analyseinstrument zu unterscheiden. Anders als bei Euklid kann im Falle von Luca Pacioli und seiner Schrift »De divina proportione« eine Verbindung zu Künstlern belegt und somit nachvollzogen werden, auf welche Quelle sich die Künstler möglicherweise bezogen haben. Ein tatsächlicher Quellennachweis ist für den Einsatz des Goldenen Schnitts im Gestaltungsprozess sogar erst im 20. Jahrhundert, beispielsweise bei Le Corbusier nachzuweisen. Nichtsdestotrotz lässt sich auch in früheren Kunstwerken eine akribisch genaue Anwendung des Ordnungsprinzips festmachen, wie bei Caspar David Friedrich und Adolph Menzel.

Ungebrochen in seiner Faszination, wird der Goldene Schnitt von Beginn an von Fehlinterpretationen begleitet und verliert – so scheint es – trotzdem nicht an mystischer Kraft und Aktualität. Das im 19. Jahrhundert von Zeising »in den Rang einer universell gültigen Proportionslehre erhoben[e]« (S. 150) Phänomen stellt vielmehr eine vielseitig genutzte Grundlage dar, die in den allermeisten Anwendungsbereichen mit weiteren Proportionsprinzipien ergänzt werden muss. Nicht nur im Produktdesign ist der Goldene Schnitt den Fibonacci-Zahlen angepasst, deren Teilungsergebnis dem des Goldenen Schnitts sehr nahe kommt. Ist im Grafikdesign und der Typografie vom Goldenen Schnitt die Rede, handelt es sich für gewöhnlich um die nach dem italienischen Mathematiker benannte Zahlenfolge. In der Grafik- und Kommunikationsgestaltung kann der Goldene Schnitt jedoch nur in zweidimensionalen Flächen angewendet werden, die in sich geschlossen sind wie es beispielsweise bei rechteckigen Papierformaten der Fall ist. Fibonacci selbst sah in seiner Zahlenfolge allerdings keine Verbindung zum später als Goldenen Schnitt bezeichneten Proportionssystem.

In der Schriftgestaltung allerdings stellen sich die behaupteten Bezüge zum Goldenen Schnitt vielmehr als Nutznießer des Mythos heraus. Trotz der Erkenntnis, dass es sich bei dem Proportionsverhältnis nicht um ein Universalgesetz handeln kann, haftet ihm eine symbolische Kraft an, die sowohl im Produkt- als auch im Modedesign als eine Art Code eingesetzt wird. Der Goldene Schnitt bringt eine Tradition und einen Mythos mit, der auch heute noch in der Marketingstrategie eine große Wirkung zeigt.

Auch kein anderes Proportionssystem wie beispielsweise die Symmetrie kann den Anspruch einer Weltformel im Sinne eines universellen Ordnungsprinzips erfüllen. Der Band stellt unter »Prägende Proportionen« weitere Ordnungssysteme vor, die mit dem Ziel einer Normierung eingesetzt werden, jedoch auch an andere Ordnungsgrößen gebunden sind und folglich nur bis zu einem gewissen Punkt funktionieren. Während das DIN-Format in Ländern mit metrischem Maß die Norm ist, richten sich Länder mit der Maßeinheit inch nach dem Letter-Format. Ähnlich stoßen die Industrienormierungen an ihre Grenzen, wenn die Europalette außerhalb Europas auf den angloamerikanischen Schiffscontainer trifft.

Der Band, der in seiner Gestaltung selbst auf dem Goldenen Schnitt basiert und auf diese Weise seine Anwendung im Grafikdesign mustergültig verkörpert, schließt mit der gegenwärtigen Umgangsweise mit dem kulturhistorischen Phänomen ab. Im digitalen Zeitalter ist die wohl offensichtlichste Parallele zum Goldenen Schnitt die rasante Verbreitung von Bildern, die anscheinend der Formel der »perfekten Proportionen« folgen. So lassen sich im Netz unzählige Bilder finden, die mittels Photoshop mit der Goldenen Spirale versehen sind, die auf das angeblich perfekte Proportionsverhältnis im Bild verweist. Bei den Bildern handelt es sich um sogenannte Meme, die im Internet auf besonders große Beliebtheit stoßen: Netzinhalte, die eine schnelle und scheinbar automatische sowie nicht verfolgbare Verbreitung im Internet finden: Von einer Manchester Silvesternacht über Katzenbildern bis hin zu Aufnahmen des künftigen US-Präsidenten mit seiner »auffallend proportionalen« (S. 206) Frisur. Der große Unterschied der Internet-Meme zum Goldenen Schnitt ist die Ironie, mit welcher die Bilder im Netz behaftet sind. In diesem Sinne stellt der Umgang vielmehr eine spielerische Auseinandersetzung mit dem Proportionsverhältnis dar. Es verwundert also nicht, dass auch hier das den Goldenen Schnitt begleitende Spannungsverhältnis nicht fehlt und »zwangsläufig« gefunden wird wonach gesucht wurde. Seinen Anspruch, die Nachweisbarkeit und Relevanz des Goldenen Schnitts interdisziplinär und umfassend darzustellen, erfüllt das Buch insofern, als die Bandbreite und das Spannungsfeld deutlich vor Augen geführt werden. Die Struktur des Essaybandes macht es dem Leser allerdings nicht leicht: Durch den laufenden Wechsel der drei farblich differenzierten Kategorien, in welche die Essays eingeteilt sind, wird ein leicht nachvollziehbarer Überblick leider erschwert; das Spannungsfeld dadurch aber gleichzeitig betont.

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